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Trauma und Vision des Austromarxismus

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Hinter sich das Trauma des Februar 1934, vor sich die Vision einer Gesellschaft, deren Verwirklichung sie sich nicht anders als revolutionär und deren revolutionäre Verwirklichung sie sich kaum noch anders als im Gefolge eines Zweiten Weltkrieges vorstellen konnte, dessen Herannahen sie von Jahr zu Jahr deutlicher erkannte, läßt die ideologische Position der österreichischen Sozialdemokratie zwischen Februar 1934 und Kriegsausbruch nichts von alledem ahnen, was 1945 als demokratischer Phönix aus der Asche gemeinsamen Unterganges erstehen sollte: nichts vom bedingungslosen Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie, nichts von zwanzigjähriger Koalition mit dem einstigen „Klassenfeind“ auf Gedeih und Verderb und bis zum Überdruß aller Beteiligten und Unbeteiligten, nichts vom neuen Prinzip der Sozialpartnerschaft am Ende der parlamentarischen Partnerschaft. Um es vorweg zu betonen — es gab freilich auch auf der Seite der militärischen Sieger des Februar 1934 wenig, was derartige Träume auf der Seite der Verlierer gerechtfertigt hätte.

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Hinter sich das Trauma des Februar 1934, vor sich die Vision einer Gesellschaft, deren Verwirklichung sie sich nicht anders als revolutionär und deren revolutionäre Verwirklichung sie sich kaum noch anders als im Gefolge eines Zweiten Weltkrieges vorstellen konnte, dessen Herannahen sie von Jahr zu Jahr deutlicher erkannte, läßt die ideologische Position der österreichischen Sozialdemokratie zwischen Februar 1934 und Kriegsausbruch nichts von alledem ahnen, was 1945 als demokratischer Phönix aus der Asche gemeinsamen Unterganges erstehen sollte: nichts vom bedingungslosen Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie, nichts von zwanzigjähriger Koalition mit dem einstigen „Klassenfeind“ auf Gedeih und Verderb und bis zum Überdruß aller Beteiligten und Unbeteiligten, nichts vom neuen Prinzip der Sozialpartnerschaft am Ende der parlamentarischen Partnerschaft. Um es vorweg zu betonen — es gab freilich auch auf der Seite der militärischen Sieger des Februar 1934 wenig, was derartige Träume auf der Seite der Verlierer gerechtfertigt hätte.

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Nirgends spiegeln sich Position und Entwicklung der teils exilierten, teils in den Untergrund verbannten österreichischen Sozialdemokraten so deutlich wie in ihrer Monatszeitschrift „Der Kampf“, die, 1907 von Otto Bauer, Karl Renner und Adolf Braun gegründet, ab Mai 1934 in der Tschechoslowakei und ab Mai 1938 als „Der sozialistische Kampf — La Lutte Socialiste“ (um Verwechslungen mit einem gewissen Hitler-Opus zu vermeiden) in Paris, nach Kriegsausbruch mit der Ütaerzeile „Journal Antihitlerien“, erschien. „Der Kampf“ ist nur in wenigen Exemplaren als geschlossenes Ganzes zu erhalten, darum aber für die Geschichte nicht nur der österreichischen Sozialdemokratie, sondern auch der Beziehungen zwischen den weltanschaulichen Lagern in diesem Land, nicht von geringerer Bedeutung.

Um so größeren Wert hat die Herausgabe einer faksimilierten Edition der illegalen „Neuen Folge“ in sieben Jahrgangsbänden (1934 bis 1940) im Verlag des Wissenschaftlichen Antiquariats H. Geyer in Wien, die im Anschluß an die Faksimile-Ausgabe der in Österreich erschienenen „Kampf-Jahrgänge seit 1907 erfolgte. Damit wird ein im Bewußtsein Österreichs unterrepräsenitiertes Kapitel unserer Zeitgeschichte greifbarer, verfügbarer, und, im Sinne einer gerechteren Beurteilung, wohl auch präsenter.

Die „internationale Revue“ (Untertitel des „Kampf“ von November 1934 bis Dezember 1935 der bei Geyer für die Wiedergabe herangezogenen Ausgabe) kursierte, zusammen mit der Illegalen „Arbeiter-Zeitung“ und dem „Informationsdienst“ für den illegalen Funktionärskader, in wenigen nach Österreich geschmuggelten Exemplaren und dokumentiert vor allem die theoretischen Standpunkte, aber auch strategische Auseinandersetzungen der österreichischen Sozialdemokratie. Zu den Umständen, die den „Kampf“ auch heute noch interessant und lesenswert machen, zählt unter anderem seine Stellung als Oppositionszeitung, die Vorgänge in Österreich behandelt und dabei trotz des stets polemischen und oft gehässigen Tones wesentlich stärker der Realität verhaftet bleibt als die kommunistische Untergrundpresse.

Vor allem aber ist „Der Kampf“ nach dem Februar 1934 das Organ Otto Bauers, der Spiegel seiner Radikalität und seiner Verzweiflung. Es wäre aber irreführend, die von Otto Bauer im illegalen „Kampf“ entwickelten Theorien und Konzepte als Hinweis auf die Linie zu werten, die eine nicht in den Untergrund getriebene österreichische Sozialdemokratie in dieser Zeit eingeschlagen hätte. Otto Bauers Austreibung aus der politischen Praxis radikalisierte den letzten der großen Austromarxisten, der (nicht als erster) auch vor 1934 stets viel radikaler gesprochen und gedacht als gehandelt hat, seiner Isolation und dem Verlust demokratischer Hoffnungen ist der partielle Wirklichkeitsverlust zuzuschreiben, der ihn etwa die Vorgänge in der Sowjetunion so grundfalsch beurteilen ließ, viel falscher wohl, als sie selbst Otto Bauer beurteilt hätte, wäre Österreich der 12. Februar und ihm das Exil erspart geblieben.

Die Zwistigkeiten, die der 12. Februar auch innerhalb des sozialdemokratischen Lagers ausgelöst hat, spiegeln sich bereits in den ersten Exilnummern. So etwa in der Reaktion auf einen Artikel in der allerersten (Mai-)Nummer, wo einer der wichtigsten Mitarbeiter des illegalen „Kampf“ in all den folgenden Jahren, der unter dem Pseudonym „Austriacus“ schreibende „AZ“-Chef Oscar Pollak, unter dem Titel „Massenpartei und Kampforganisation“ die Frage nach dem Verhältnis zweier Organisationsprinzipien stellt: „Der legale Apparat, für ganz andere Aufgaben ausgewählt und geschult, versagte größtenteils, als in Österreich schon vor dem Kampf illegale Methoden vorbereitet wurden; noch mehr versagte sich das Denken der einzelnen Genossen, die in der Massenpartei aufgewachsen waren, der Vorstellung, daß die große Partei nun mit den Mitteln der kleinen, machtlosen kämpfen sollte. (...) Verzweifelt suchten sie nach den Schuldigen, den Fehlern in der Führung — sie sahen vielfach die Ursachen nicht, die in der Größe der Partei selbst lagen.“

Julius Deutsch geht in der folgenden Nummer („Was hat versagt?“) mit keinem Wort auf Pollaks eigentliche Fragestellung ein, er hakt bei einem Nebensatz des Austriacus ein („... dieses Fernbleiben der Masse war neben dem Versagen der militärischen und politischen Schutzbundleitung [von der freilich ein wesentlicher Teil bereits vorher verhaftet war] der eigentliche Grund der Niederlage.“) und schlägt in einer Weise zu, die beweist, wie tief die Wunde war, in die der Parteijournalist sein Salzkorn geworfen hatte: „Aber das gehört ja, wie es scheint, zur Moralgeschichte unserer Zeit, daß nach einem so großen, heroischen Ereignis, wie es die Februarkämpfe waren, hinterher sich mancher am kritischesten gehabt, der während der Aktion selbst die Faust nur“ im Sacke geballt hat.“

Otto Bauers starke, die einen so faszinierende wie die anderen vor den Kopf stoßende Persönlichkeit,die schon vor 1934 zur Verschärfung gewisser Gegensätze innerhalb der österreichischen Sozialdemokratie beitrug, scheint nach dem Februar auch die Schärfe der Auseinandersetzungen über das Thema der „Februarfehler“ verstärkt zu haben. Er selbst tendierte dazu, wenigstens einen Teil der persönlichen Verantwortung, die unermüdlich um die Frage des Zu-spät kreiste, vor der Größe — und Notwendigkeit! — historischer Prozesse verschwinden zu lassen. Im „Kampf“ vom Oktober 1934 schrieb er: „Viele machen uns heute den Vorwurf, daß wir allzu lange gezögert, den Kampf allzu lange aufgeschoben haben, obwohl sich die Machtverhältnisse zuungunsten der Arbeiterschaft verschoben. Wir haben es getan, solange noch irgendeine Möglichkeit zu bestehen schien, daß es die inneren Gegensätze im feindlichen Lager und die Wechselfälle der internationalen Politik (!) vielleicht doch noch ermöglichen werden, die Bewegungsfreiheit, die Organisationen und die Grundrechte der Arbeiterklasse zu retten, ohne zu den Waffen zu (greifen. Wir haben es getan, weil alle militärischen Fachmänner, die uns berieten, uns darlegten, wie gering die Aussichten eines Sieges waren. (...) Aber im Februar war alle Hoffnung, daß die Gegensätze im feindlichen Lager oder daß Einflüsse vom Auslande her die Aufrichtung einer faschistischen Diktatur in Österreich noch verhüten werden, vollständig geschwunden.“ Und er zitiert Engels: „Eine Niederlage nach hartnäckigem Kampfe ist eine Tatsache von ebenso revolutionärer Bedeutung wie ein leicht gewonnener Sieg.“

Otto Bauer, für den im Exil das Problem wegfällt, „das revolutionäre Banner aufzupflanzen, revolutionären Konsequenzen im eigenen Bereich aber auszuweichen“1, registriert mit dem verzweifelten Triumph dessen, der gar nicht recht behalten wollte, wie seine — in diesem Fall richtigen — Voraussagen eintreffen und sich in Österreich die politische Basis für eine Verteidigung gegen Hitler ohne Sozialdemokratie als zu schmal erweist und setzt mehr und mehr Hoffnung auf eine Revolution, die er für die unvermeidliche Folge eines neuen Weltkrieges hält. Und er setzt mehr und mehr Hoffnung auf die Aktionseinheit mit dem Sowjetkommunismus. Folgerichtig hält er auch in der Phase der Moskauer Schauprozesse an seinem Glauben an die Demokratisierung des Sowjetstaates, auf Abbau der roten Diktatur, Erweiterung der Freiheitssphäre des einzelnen, „Erweiterung der Selbstverwaltung der Gesamtheit Schritt für Schritt“, fest Juli 1935; über den „neuen Kurs“: „Stalin hat vor kurzem in einem Trinkspruch die parteilosen Bolschewiken' begrüßt — diejenigen, die ohne Mitglieder der Partei zu sein, innerlich dem System gewonnen sind. Je größer ihre Zahl wird, desto näher rückt die Möglichkeit der Demokratisierung des Sowjetregimes, die der Sowjetkongreß mit seinem Beschluß über die Reform des Wahlrechts zu den Sowjets verheißen hat.“

Und im Oktoberheft desselben Jahres: „Die harten Notwendigkeiten der revolutionären Umwälzung können keineswegs jede Härte der Diktatur rechtfertigen. Sie rechtfertigen nicht, daß jede von der des Diktators abweichende Meinung auch dann brutal verfolgt wird, wenn sie der revolutionären Macht und dem sozialistischen Aufbau völlig ungefährlich ist.“ Aber: „Die Auslese rechtfertigt sich durch die Leistung. Die Leistung Stalins ist die Industrialisierung und die Kollektivisie-rung...“

Einerseits „bemüht, das Erbe der bürgerlichen Demokratie für die sozialistische Gesellschaft zu retten“1, anderseits auf seine Vision eines „integralen Sozialismus“ fixiert, vermag Otto Bauer nicht zum Trauma des 12. Februar und der Zerschlagung seiner Partei auch noch das Trauma zu tragen, das der Zusammenbruch aller nun in die Sowjetunion gesetzten Hoffnungen bedeuten würde und er versucht um jeden Preis, hinter den Schauprozessen einen revolutionären Sinn zu sehen. Bauer, für Trotzki einst eine aus jener „Phalanx junger österreichischer Politiker, die sich der Partei in der festen Überzeugung angeschlossen haben, daß man bei einiger Vertrautheit mit dem Römischen Recht den unveräußerlichen Anspruch besitzt, das Schicksal der Arbeiterklasse zu lenken“3, unter dem Titel „Grundsätzliches zu den Hinrichtungen in Moskau“ (Oktober* 1936): „Die Trotzkisten unterschätzen und verkleinern die weltgeschichtliche Leistung, die in der Sowjetunion unter der Führung Stalins vollbracht worden ist. Sie bekämpfen auch geschichtlich notwendige, progressive, positiv zu bewertende Wandlungen der Sowjetrepublik und der Sowjetgesellschaft. Ihre haßerfüllte Kritik erschwert die Aufgabe, die Kräfte des Proletariats der Welt zur Verteidigung der Sowjetunion zu vereinigen. Es ist, um nur ein einziges Beispiel anzuführen, ebenso abscheulich als lächerlich, wenn sich das trotzkisti-sche Blättchen in Österreich erfrecht, von dem .Oberschmarotzer Stalin' zu reden.“

Otto Bauer starb am 4. Juli 1938, wenig mehr als ein Vierteljahr nach der Auslöschung Österreichs. Ein tragisches Geschick wollte es, daß sein letzter Artikel im „Kampf“, der dadurch, daß es sein letzter war, die Authentizität eines politischen Vermächtnisses gewann, viele österreichische Sozialisten in der Emigration in der Frage des annektierten Österreich auf einen Kurs programmierte, der damals, ak unter dem faschistischen Nationajwahn jeder sozialistische Internationalismus zerbrach, als Vision Gültigkeit gehabt haben mag, aber nach der Befreiung Österreichs unter vollständig geänderten Bedingungen nicht mehr verstanden werden konnte und vor allem, nachdem die ersehnte Revolution im Gefolge des Krieges nicht einmal in Ansätzen stattgefunden hatte, verdrängt werden mußte; in der Nummer des „Kampf“ vom 2. Juni 1938 kommt Otto Bauer, wie es seine Art war, nach weit ausholenden historischen Exkursen, zu folgendem Schluß: „Aus allen diesen Erwägungen müssen wir uns, um mit Engels zu reden, der vollzogenen Tatsache der Annexion gegenüber kritisch verhalten, aber nicht reaktionär. Wir haben in unversöhnlicher Kritik an der despotischen Herrschaft des deutschen Faschismus das österreichische Volk zu überzeugen, daß seine gewaltsame Unterwerfung unter die Tyrannen des Dritten Reiches nicht der Anschluß, nicht die nationale Einheit in Freiheit ist, die wir in den Tagen des Zusammenbruches der Habstourger-monarchie gewollt haben. Aber die Parole, die wir der Fremdherrschaft der faschistischen Satrapen aus dem Reiche über Österreich entgegensetzen, kann nicht die reaktionäre Parole der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs sein, sondern nur die revolutionäre Parole der gesamtdeutschen Revolution, die allein mit den anderen deutschen Stämmen auch den österreichischen Stamm der Nation von der Gewaltherrschaft der faschistischen Zwingherren befreien kann,“

So mancher unter den Führern der österreichischen Sozialdemokratie im Exü hatte Bedenken gegen die Festlegung — so Oscar Pollak, Otto Leichter, Karl Hans Sailer4. Otto Bauer, unterstützt von Friedrich Adler, Joseph Buttinger (der im „Kampf“ unter dem Pseudonym Gustav Richter schrieb) und Podlipnigg, setzte sich durch, mit dem Ergebnis, daß die Männer, die die beiden weltanschaulichen Lager Österreichs in der Emigration vertraten, keinen vorbereitenden Schritt in der Richtung auf jene Zusammenarbeit unternehmen konnten, die nach der Befreiung in diesem Lande realisiert wurde5. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit entstand unter dem Druck der NS-Diktatur, in Gefängnissen, Konzentrationslagern und Widerstandszirkeln, die keine Parteizugehörigkeiten kannten. Hier erwies sich die so oft geleugnete nationale Realität als stärker und prägender als die Vision eines Internationalismus, der einst eine große, aber verfrühte Hoffnung der Menschheit war.

Österreich begann 1945 nicht dort, wo es 1938, sondern dort, wo es 1933 aufgehört hatte. Die Entwicklung beider großen weltanschaulichen Lager zwischen 1933 und 1938 erwies sich als Sackgasse, die Treue zur Idee der parlamentarischen Demokratie auf beiden Seiten als verläßlicher, als man je hatte hoffen können. Die theoretischen Positionen aber, die Otto Bauer im exilierten „Kampf“ einnahm, sind zu relativieren als die eines Mannes, dem im wahrsten Sinne des Wortes der politische Boden unter den Füßen weggezogen worden war, und der nicht zuletzt seinen pragmatischeren, nüchterneren Widerpart Karl Renner verloren hatte. Renner, der zwischen 1934 und 1945 überhaupt nicht in Erscheinung trat und seit 1934 „keine sachliche, menschliche und persönliche Verbindung“ zu Bauer mehr hatte und jeden Kontakt vermied', war 1945 der Mann der Stunde: Mann des Ausgleichs, Mann der Koalition, die aber schon Bauer gewollt hatte. Allzu wenige aber sind heute bereit, Otto Bauer jene „drei Salven über das Grab“ zuzugestehen, mit denen er einst — in seinem Nachruf in der „Arbeiter-Zeitung“ — seinen großen politischen und weltanschaulichen Gegner Seipel ehrte.

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