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Da irrte Marx…

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Um zu verstehen, warum von den elf wegen versuchter Flugzeugentführung Angeklagten im Leningrader Prozeß zwei unsprünglich zum Tode und alle zu hohen Haftstrafen verurteilt worden sind, muß man sehr weit zuriick-

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Um zu verstehen, warum von den elf wegen versuchter Flugzeugentführung Angeklagten im Leningrader Prozeß zwei unsprünglich zum Tode und alle zu hohen Haftstrafen verurteilt worden sind, muß man sehr weit zuriick-

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gehen. Faktisch bis auf den Mann, dessen Großeltern noch Juden in der Stadt Trier gewesen waren, und der selber so etwas wie der Großvater der sowjetischen Staatsphilosophie geworden ist: Karl Marx.

Freilich war Karl Marx, der Juden- stämmling — wahrscheinlich ohne es zu wissen —, mit seiner ganzen Theoretik des Sozialismus nur „ein Übersetzer des von der jüdischen Urüberiieferung geschaffenen Zu- kunftsglaubens und -willens an ein universales Gottesreich wahrhaft miteinander lebender Menschen und Nationen” — wie Martin Buber es einmal formuliert hat. Dennoch hat Marx, der Nutznießer der durch die Französische Revolution bewirkten Gleichstellung der Juden im Rheinland, der Assimilant und Atheist, kaum etwas davon gewußt, wie sehr das Feuer vom Sinai in den jüdischen Gemeinden Osteuropas und in deren messianischen, jenem Gottesreich zustrebenden Heimkehrbewegungen ins Land Israel noch brannte — zu seiner Zeit .und noch lange über diese hinaus. Marx hat dieses Feuer, dieses Streben in die Sprache eines panteohnischen Zeitalters übersetzt, von dem er glaubte, daß es mit der technischen Erledigung aller menschlichen Wirklichkeit auch den Glauben erledigen werde. Beides hat sich unterdessen als Irrtum erwiesen: sowohl, daß alle menschliche Wirklichkeit als auch daß die Religion technisch erledigt werden könne.

Marx aber glaubte sehr daran. So nahm er an, den jüdischen Glauben als leeren Ritus, als Denkschema des (Marxens beschränktem Wissen nach) vom Handel und Gelderwerb als nationale Kategorie abhängigen Judentums erledigt zu haben. „Schaffen wir den Kapitalismus ab, dann schaffen wir auch die Juden und damit auch alles ihnen zugefügte Weh ab. So Marx und nach ihm viele Marxisten, insbesondere Juden unter ihnen, wie Viktor Adler, Karl Kautsky und Otto Bauer, die (wer möchte es ihnen verargen?) nur zu gerne keine Juden mehr sein wollten, dem Judentum entfremdet und an ihm noch immer leidend. Durch Teilnahme an der sozialistischen Bewegung glaubten sie den Sozialismus — und somit auch die Lösung der Judenfrage gegen wörtlich vorwegnehmen zu können. Was sich als ein wenig voreilig erwiesen hat.

Ähnlich stellten sich russische Marxisten und Revolutionäre wie Lenin und Stalin dazu, obwohl sie keine Juden und anders motiviert waren. Sie wußten nichts Rechtes mit der jüdischen Nationalität anzufangen, zumal deren ganze nationale Kultur unseparierbar mit Religion durchwachsen ist. Zudem waren Lenin und Stalin infolge ihres engen Materia-

lismus außerstande oder nicht bereit, einzusehen, daß ein Volk wirklich ein Volk sein und bleiben könne, das kein eigenes Territorium, keinen eigenen Staat, keine eigene Wirtschaft, ja lange Perioden hindurch nicht einmal eine eigene Sprache besitzt. Heute gibt es sogar in der Sowjetunion bereits einige vernünftige Leute (keine Juden), die verstehen, daß ein solches „-loses” Volk seiner nationalen und staatlichen Wiedergeburt zustreben könne, auch wenn es mit nichts anderem ausgestattet ist, als mit dem Bewußtsein seiner ethnischen Herkunft, seiner seelischen Eigenheiten, seiner Gewohnheiten, Bräuche, Kultur und mit einer Tradition und dem Willen, um seine Freiheit zu kämpfen. (Artikel von Rogatschew und Swerdlin in „Voprosi Ištarti”, Nr. 1, 1966).

Diese Art von Juden gab es in Osteuropa, insbesondere im russischen Reich, doch auch im österreichischen Galizien und im preussischen Polnisch-Schlesien in großen Massen. Zum Unterschied von den Juden im Westen, besaßen sie so gut wie keine Möglichkeit, eine staatsbürgerliche Gleichstellung zu erringen, obwohl sie weite Siedlungsgebiete bevölkerten und dort oft — wie Lenin uneingeschränkt einräumt — als Handwerker und später auch Industriearbeiter den politischen Vortrupp gegenüber einer nahezu ausschließlich bäuerlich-rückständigen „einheimischen” Bevölkerung darstellten. „Ohne diese jüdischen Massen in Westrußland”, schreibt Lenin in seiner „Judenfrage”, „hätte es dort nie eine sozialdemokratische Bewegung gegeben.” Gerade damit hatte es aber eine besondere Bewandtnis. Die jüdischen. Arbeiter und Handwerker hatten dort ihre eigene große Organisation, den „Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund für Polen, Litauen und Rußland”, kurz „Bund” genannt. Die russische Sozialdemokratie mit ihrer über die weiten innerrussischen Gebiete verstreuten und oft spärlichen Anhängerschaft war — wenn sie politisch weiter- kommen wollte — auf die Mitarbeit des „Bundes” angewiesen. Hinzu kam, daß die jüdischen Arbeiter, die doppelt unterdrückt waren — sozial und national —, besonders aktiv und aktionsfreudig waren — mithin besonders geeignetes „Menschenmaterial” für Lenins radikal-revolutionäre bolschewistische Richtung. Letztere bestand jedoch auf straffstem Zentralismus, will heißen Ein- und Unterordnung der nationalen Minderheiten innerhalb des Parteiganzen. Und dafür waren die „Bund”- Leute nicht zu haben. Für sie, die nahezu ausschließlich Jiddisch sprachen, dachten und handelten, hätte Unterordnung unter die Russen Aufgabe aller eigenen Impulse und Willensbildung bedeutet. Somit ging der „Bund” seine eigenen politischen Wege, und Lenin und die Seinen waren sehr, sehr böse darüber. Zum Unterschied von der um die Jahrhundertwende entstehenden zionistisch-sozialistischen und auf die Heimkehr in die Urheimat gerichteten Bewegung der „Poale Zion”, trat der Bund für eine national-soziale Emanzipation der jüdischen Arbeiter in der Golah — in der Fremde — ein.

Man wird somit verstehen, daß es für solche Bewegungen keine Duldung im Sowjetregime geben konnte, in dem alsbald die ganze Macht in den Händen einer einzigen und scheinbar übernationalen — in Wirklichkeit großrussischen — kommunistischen Partei lag. Als um jene Zeit eine ähnlich national-sozialdemokratisch beschaffene Bewegung — nämlich die georgische — in ihrem Heimatland eine von Moskau unabhängige Regierung zu bilden imstande war, zögerte Stalin — damals Kommissar für die „Nationalen Gebiete” — nicht, die Rote Armee nach Georgien zu schicken und die sozialdemokratische Regierung und Partei im Blut zu ersticken und physisch zu vernichten. Man kann sich vorstellen, um wieviel weniger Aussichten jederlei auf Autonomie gerichtete Bewegung der weithin verstreuten und überall von einheimischer Bevölkerung umringten jüdischen Massen haben konnte. Nicht daß es solche Bestrebungen in den verschiedensten politischen Formen nicht lange Zeiten hindurch gegeben hätte. Ihre Geschichte ist die eines in Wirklichkeit einzigen langen Konfliktes — im Gegensatz zu anderen Nationalitäten, mit denen das Regime zu irgendeinem Ausgleich gelangen konnte. Hier war er just nicht möglich, wegen des einzigartigen und von den wenigsten Marxisten (mit Ausnahme der „Poale Zion”) je ganz erfaßten speziellen Charakters- des jüdischen Volkes. An ihm versagten die scharfsinnigsten und dialektischsten Definitionen, „weil”, wie ein englischer Soziologe, Hyman Levis, einmal sagte, „nur Abstraktionen definierbar sind und nicht lebendige Völker, und schon gar nicht das jüdische”.

Zu Lenins Zeit wirkte sich diese dem Regime inhärente negative Einstellung gegen die Juden noch nicht so kraß aus. Lenin war in jener Zeit des innerlich und äußerlich noch nicht gefestigten Regimes bereit, die „jüdischen Massen” durch Zugeständnisse zu gewinnen. Er konzen- dierte ihnen jiddische Zeitungen, Theater und kulturelle Einrichtungen — unter der Voraussetzung, daß das auf jiddisch Geschriebene und Gelehrte dem Kommunismus und dem kommunistischen Staat dienten. Jedoch auch Lenin tolerierte bereits nicht mehr das Hebräische, weil es „zugleich” auch die Sprache der jüdischen Religion war und all der Gesetze und Regulationen, die sich das jüdische Volk im Laufe seiner langen Geschichte geschaffen hatte. Deren Wirksamkeit und Praxis konnte jedoch nicht von einem Staate geduldet werden, der sich das letztere so rigoros selber vorbehält, wie der kommunistische.

Unter Stalin wurde auch Jiddisch immer weniger tragbar, zu welchem Zweck auch immer. Die von Lenin dirigierte Periode des Sowjetregimes und auch des Kommunismus als internationale Bewegung enthielt noch viele weltrevolutionär-föderative Impulse. Mit der Stabilisierung der kapitalistischen Länder nach der Welttoatastrophe des ersten Weltkrieges blieb Stalin nichts anderes übrig, als sein Konzept eines selbst- genügsamen „Sozialismus in einem Land” für das Sowjetregime zu entwickeln, (das sich freilich mit den militärischen Eroberungen der Sowjetarmee 1944 bis 1945 schnell zu dem eines „sozialistischen” Imperiums aus wuchs). Da war nun über- haupt kein Platz mehr für die nationalen Existenzzeichen einer Minderheit, die gleichzeitig Teil eines über die ganze Welt verstreuten Volkes und mit diesem sowohl durch eine gemeinsame große Vergangenheit wie auch erhoffte Zukunft verbunden war. SÖmit gibt es eine große eigene Kampf- und Leidensgeschichte der Sowjetunion in der Stalinschen Ära. Da sind Höhepunkte, wie der des vollen und freiwilligen Einsatzes der Sowjetunion im zweiten Weltkrieg gegen den ärgsten Feind: den Hiitlerismus, und Tiefpunkte, wie die physische Vernichtung der meisten und bedeutendsten sowjet-jüdischen Schriftsteller, Dichter und Künstler in der Zeit zwischen 1948 und 1952.

Wer jedoch meinen würde, daß es mit der postumen Entthronung Stalins durch Chruschtschow auch zu grundlegenden Änderungen in der Lage der Juden gekommen war, der irrt. Das von Stalin rund um die Juden geschaffene national-politische und kulturelle Ödland blieb unverändert bestehen. Die Juden mochten sich so wie die übrigen Sowjetbürger darüber freuen, daß eiin Läuten frühmorgens an der Wohnungstür nicht unbedingt bedeutete, daß die Geheime Staatspolizei draußen stand. Als Juden war ihnen und ihren Kindern gestattet, es sowenig als möglich zu sein.

Diese Lage hätte vielleicht wirklich zu einer völligen Ertaubung jedes jüdischen Gedankens und Gefühls bei den Sowjetjuden geführt, wenn es nicht im Jahre 1948 — paradoxerweise mit Hilfe des sowjetischen Interesses am Hinauswurf der Briten aus dem Nahen Osten — zur Gründung des Staates Israel gekommen wäre.

Das Selbstbewußtsein der in einem nationalen Niemandsland vegetierenden sowjetischen Juden erhielt mit dieser Staatsgründung neue, vielleicht zuerst nicht so sehr geistige als emotive Nährquellen — derer es nach all den „schwarzen Jahren” zweifellos nicht weniger, wenn nicht viel mehr bedurfte. Insbesondere für die Jugend wurde Israel von großer Bedeutung. Die meisten jungen Juden waren ohne jegliche religiöse Erziehung aufgewachsen. Für sie stellte also der religiöse Glaube und Brauch keine Stütze ihrer Jüdisch- heit mehr dar. Der religiöse, messianische Zionismus konnte den Juden 2000 Jahre lang über Verstreuung und Fremde hinweghelfen. In dieser unserer Zeit hat er viel von seiner Kraft, insbesondere bei der Jugend eingebüßt. Der säkulare, politische Zionismus und erst recht seine Verwirklichung durch den Staat Israel verlangen aus ihrem Wesen her von jedem Juden physisch-persönliche Mit Verwirklichung seines eigenen Judentums: Alijah = Heimkehr „zu den eigenen Leuten” im wieder- erstandenen eigenen Staatswesen. Mehr als alle anderen Juden (vielleicht mit Ausnahme derjenigen in den arabischen Ländern) konnten die sowjetischen Juden den Ruf zur Heimkehr gar nicht anders als mit hoher Sensibilität wahrnehmen. Sie bemühen sich mit herrlichem Mute, ihm trotz schrecklicher Hindernisse zu folgen. Einzeln und in ganzen Gruppen, Familien, Sippen, Freundeskreisen, richten sie offen und mit voller Nennung ihrer Namen und Anschriften die Forderung an die sowjetischen Behörden um die Ausreisebewilligung nach Israel. Wenn sie oft genug abgewiesen worden sind, schreiben sie an die UNO und andere internationale Körperschaften, deren Pflicht es wäre, ein sol dies Verlangen nach Befriedigung des Menschenrechtes auf Bewegungsfreiheit durchsetzen zu helfen. Und sie scheuen nicht vor den unweigerlich entstehenden Maßregelungen wie Verlust des Arbeitsplatzes und Relegierung von der Hochschule zurück. All dies, wais hier erzählt wurde und oft nur angedeutet werden konnte, hat zu dem Vorfall auf dem Smolny- Flugplatz zu Leningrad am 15. Juni und zu den fürchterlichen und nicht hingenommenen Verurteilungen am Weihnachtsabend geführt. Auch wenn es wirklich nur die Verzweiflungstat von in ihrem sehnlichen Verlangen nach einem legitimen Ziel immer wieder entmutigten Menschen gewesen ist — so ist es vermutlich doch mit auch eine Provokation gewesen. Sie wurde zu dem Zweck inszeniert und hervorgerufen, um die ganze große Bewegung der sowjetischen Juden nach nationaler Re-Identifizierung zu denunzieren. Diejenigen, die das wollten, mögen die Widerstandskraft der russischen Juden nicht unterschätzen — ist sie doch Teil der unverwüstlichen Kraft und Vitalität des russischen Volkes selbst. So wie sie zum Besten ihrer Gastvölker beigetragen haben, haben die Juden auch von ihnen Bestes in sich aufgenommen.

Am gleichen Tag, an dem die Urteile im Leningrader Prozeß verkündet wurden, kam die Nachricht durch, daß wieder zwölf Juden in Moskau einen mit allen Namen und Adressen gezeichneten offenen Brief an die Behörden um Bewilligung der Ausreise nach Israel gerichtet haben…

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