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Uberstehen ist alles

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Über Juden und Judentum emotionslos zu sprechen, wie über die alten Griechen oder die heutigen Schwaben, will partout nicht gelingen. Hier bricht der alte Antisemitismus durch, da versperren echte oder imaginierte Schuldkomplexe den Blick, dort drängt der Philosemitismus die Juden erneut ins Ghetto, dann wieder spielt man Israel gegen die Diaspora aus oder umgekehrt. Die Frage nach der Wirklichkeit wird kaum gestellt, wiewohl Antworten von jüdischer wie von nichtjüdischer Seite vor liegen, vom Erlebnisbericht über Studien bis zum Lexikon.

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Über Juden und Judentum emotionslos zu sprechen, wie über die alten Griechen oder die heutigen Schwaben, will partout nicht gelingen. Hier bricht der alte Antisemitismus durch, da versperren echte oder imaginierte Schuldkomplexe den Blick, dort drängt der Philosemitismus die Juden erneut ins Ghetto, dann wieder spielt man Israel gegen die Diaspora aus oder umgekehrt. Die Frage nach der Wirklichkeit wird kaum gestellt, wiewohl Antworten von jüdischer wie von nichtjüdischer Seite vor liegen, vom Erlebnisbericht über Studien bis zum Lexikon.

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Speziell dem österreichischen Judentum gewidmet ist ein unlängst erschienener Sammelband des Verlages Jugend und Volk: auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierend, wofür schon der weithin geschätzte Wiener Judaist Kurt Schubert bürgt, aber durchaus gemeinverständlich geschrieben — gemeinverständlich zumindest für die freilich immer kleiner werdende Schar derjenigen, die bei Aristotels nicht bloß an Jackie Onassis, bei Kaiser Franz

Joseph nicht bloß an Romy Schneider denken.

Schubert selbst leitet ein, souverän bis zum Verzicht auf Fußnoten. Er erinnert daran, daß schon die vorchristliche Antike eine Art „Antisemitismus“ kannte, resultierend aus dem Gegensatz zwischen ihrer Götter-Welt und dem einen Gott Israels mit seinem Ausschließlichkeitsanspruch. Er skizziert Ursprung und Ursachen des christlich-jüdischen Antagonismus und verweist dabei auf die schon in den Evangelien vorgebildete Polemik der frühesten Judenchristen gegen nicht christusgläubige Juden. Eben damals aber, in den talmudischen Jahrhunderten, schufen — so Schubert— gerade die vom Pharisäismus kommenden rabbini-schen Gelehrten jene jüdischen Stuk-turen, die dem Judentum das Überdauern in der Geschichte ermöglicht haben.

Wie schwierig dieses Uberdauern, nach Epochen unbehelligten Daseins im Bereich des Islam und unter den Karolingern, vor allem in West- und Mitteleuropa mit dem Beginn der Kreuzzüge wurde, zeigt schon der folgende Beitrag. Anna M. Drabek macht begreiflich, wie mit dem Erstarken der Städte und dem Aufkommen der Geldwirtschaft und des Fernhandels die ortsansässigen Christen der durch ihre Zerstreuung welterfahrenen Juden bedurften; just das, was man ihnen später zum Strick gedreht hat: ihre Internatio-nalität, hat man damals sich nutzbar gemacht. Schon daraus erklärt sich die judenfreundliche Einstellung nicht eben weniger weltlicher und geistlicher Fürsten, während im niederen Volk die christliche und eo ipso judenfeindliche Weltanschauung zu einem von Kreuzzugspredigern angeheizten Massenwahn auswuchs, dem dann die Pest neue Nahrung gab. Eine Ausnahme machten die babenbergischen, später habsburgi-schen Gebiete, wo die Obrigkeit gegen Mörder und Plünderer meistens energisch einschritt. Im 15. Jahrhundert allerdings wurden die Juden aus diesen Landen ausgewiesen. Eine neue Heimat fanden sie vielfach im Osten, dessen rückständige Wirtschaftstruktur sie geradezu einlud, ihre Fähigkeiten nutzbringend anzuwenden. Mitgenommen haben diese Emigranten ihren spätmittelhochdeutschen Dialekt, der sich, stark mit hebräischen Elementen durchsetzt und mit slawischen Wörtern angereichert, als das Jiddische bis in unsere Tage herein erhalten hat — ein Phänomen, das in diesem Buch leider nicht gewürdigt wird.

In West- und Mitteleuropa hingegen blieb die Lage der wenigen verbliebenen Juden weiter im Zwielicht: einerseits litten sie noch unter Sondergesetzen und privaten Schikanen, und anderseits hatten sie unersetzliche Staatsfunktionen inne. Jetzt erst recht stritten Sachzwänge (des Kaisers) gegen Emotionen (der Bürger) — so jedenfalls sieht es Nikolaus Vielmetti in seinem Essay „Vom Beginn der Neuzeit bis zur Toleranz“. Die Herrscher brauchten Geld und die Juden hatten es, oder, genauer gesagt: ihnen konnte man es viel bequemer abpressen als den zu Steuerrebellion neigenden Christen, die ihrerseits aber nicht zögerten, die scheinbar privilegierten Juden zu verleumden. Vielmetti zitiert eine Bürger-Bittschrift von 1637, die bereits den ganzen „zeitlosen Katalog von kollektiven Vorurteilen und irrationalen Unterstellungen“ enthält, dessen Konstruktion man gemeinhin erst dem 19. Jahrhundert zuschreibt. „Hier ist“, resümiert der Autor, „der Komplex der jüdischen Weltverschwörung schon voll ausgebildet, der brutale Aggressor erfindet (imaginiert!) den Frevel des andern, um seine Verfolgung zu rechtfertigen. Das Bild ist noch mit christlichen Formen verziert, im Grunde steht aber tiefstes Heidentum gegen das, was anders ist (weil es anders ist), oder physische Gewalt gegen das Phänomen des Geistes“. Hiezu ein Detail am Rande: Im 17. Jahrhundert, als der Unrat üblicherweise aus dem Fenster geworfen, bestenfalls vor die Haustür gekehrt wurde, leistete sich das Wiener Ghetto schon eine Müllabfuhr — doch noch heute hält sich am christlichen Biertisch das Märchen vom „typisch jüdischen Saustall...“

In dem Ghetto-Kapitel, übrigens, beweist Vielmetti, daß die weltimmanenten Kriterien etwa der Soziologie oder der auf die Ökonomie fixierten Geschichtsschreibung nicht genügen, das jüdische Schicksal deutlich und damit deutbar zu machen. Er beruft sich auf den neuhebräischen Schriftsteller Achad Haam, der den emanzipierten Westen mit seinem Indifferentismus und den Osten, wo es keine Gleichberechtigung, jedoch traditionelles religiöses Leben gab, in dieser Weise gegenüberstellt: „Knechtschaft in der Freiheit — Freiheit in der Knechtschaft.“ Und Vielmetti folgert logisch, wenn auch gegen die konventionelle Beurteilung der Ghetto-Situation: Ghetto ist also Freiheit in der Knechtschaft, wobei Freiheit mit Autonomie und Knechtschaft mit judenrechtlicher Restriktion zu umschreiben wäre. Die Autonomie besteht in der religiös rechtlichen Verfassung“, die den sozial und politisch unterprivilegierten, von der christlich-feudalen Gesellschaft unterdrückten Juden im Ghetto garantiert war. Und — scheinbar paradox — „durch das Verbürgen der theokratischen Verfassung für die im Ghetto Eingesperrten, war eben diese Gesellschaft instrumental für das Uberleben des Judentums“. Und dieser Autor spricht, daran anknüpfend, aus, was ansonsten gern unterdrückt wird: „Der große Schock und die nie gebannte Gefahr kamen dann, als mit den Ghettotoren auch die innerjüdische Verfassung gesprengt wurde. Die Sicherheit in der Gemeinde hörte auf, statt dessen war jeder einzelne darauf angewiesen, für sich ein .Selbstverständnis als Jude' zu finden.“

Von dieser Epoche handelt dann Wolf gang Häusler: lehrreich, jedoch mit Betonung der ökonomischen und gesellschaftlichen Aspekte. Gerade im Anschluß an Vielmetti muß hier die Frage gestattet sein, ob Geschichte — und insbesondere die jüdische mit ihrer supranaturalen Tradition — je anders kann verstanden werden denn (auch) als Heilsgeschichte. Noch einmal: Häusler liefert solide Information; jedoch: mit interessanten Zitaten und Zahlen allein wird weder Emanzipation und Assimilation mit dem daraus resultierenden inneren Bruch im Judentum und im Judenmenschen noch auch der Antisemitismus begreifbar.

Ganz aus dem von Schubert gesteckten Rahmen fällt dann Karl Stuhlpfarrer: „Antisemitismus, Rassenpolitik und Judenverfolgung in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg.“ Der Ärger beginnt schon mit dem Gebrauch der sowjetischen Terminologie („nazifaschistisch“), deren Zweck es ja ist, vergessen zu machen, daß der Nationalsozialismus durchaus auch als eine Art von Sozialismus konzipiert worden ist und gewisse Parallelen sowohl zum marxistisch-leninistischen, als auch zu anderen Sozialismen aufweist. Für diesen Autor war der Antisemitismus natürlich nur ein Instrument des Bürgerblocks — vom Antisemitismus in der Arbeiterschaft fällt kein Wort, wie auch unerwähnt beibt, daß keineswegs nur das christlich-soziale Kleinbürgertum, sondern genau so das jüdisch durchsetzte Großbürgertum im jüdischen Proletariat die Keime des Bolschewismus zu wittern wähnte. Stuhlpfarrer suggerriert, daß nach dem Anschluß außer den Juden vorwiegend Sozialisten verfolgt worden seien; der Autor sollte sich, bitte, belehren lassen, daß jene, die schon am 11. März 1938 das Braunhemd aus dem Kleiderschrank holten, zu einem beträchtlichen Teil Arbeiter waren — die diesbezüglichen Befürchtungen Otto Bauers waren nicht unbegründet gewesen! — und daß die relativ größten Opfer im Kampf gegen Hitler von Monarchisten und Kommunisten gebracht worden sind. Eichmann mag charakterlich weiß der Teufel was alles gewesen sein, nur das, was Stuhlpfarrer ihm attestiert, war er absolut nicht, nämlich „zynisch“: dazu fehlte es ihm an dialektischer Intelligenz. Rätselhaft bleibt, wieso just die Slowenen zu den bevorzugten Opfern von Hitlers Rassismus gehört haben sollen... Natürlich bleibt dann der Ballawatsch nicht aus: Auf Seite 141 werden, im Überschwang der antibürgerlichen Affekte, zwei Drittel, auf Seite 161 wird, sachlich korrekt, ein Drittel der österreichischen Juden als ermordet verbucht.

So zwischen Wahrem und Falschem gaukelt Stuhlpfarrer endlich auch dort, wo er, grundsätzlich richtig, bemerkt, die Österreicher hätten sich um die Antwort auf die Schuldfrage schäbig herumgedrückt. Dabei rügt er „die Tendenz, in der geschichtlichen Aufarbeitung des Problems des deutschen Faschismus (sie!) sich der Analyse der sozialen und wirtschaftlichen Ursachen des Faschismus und von dessen Funktion zu entheben, Hitler und die nationalistische Führungsschicht... zu dä-monisieren und sie damit quasireligiös als Antichrist dieser Welt zu entziehen“. Immerhin Konrad Heiden, dem die Welt die erste und bislang unübertroffene Hitler-Biographie verdankt, hat sowohl die sozialen und wirtschaftlichen Ursachen des Nationalsozialismus analysiert als auch, und zwar direkt gestützt auf diese Analysen, das Dämonische in Hitler selbst und die Dämonologie seiner Lehre anschaulich gemacht — wobei dem Juden und Freimaurer Heiden infolge seiner umfassenden Bildung sehr wohl bewußt war, daß der Antichrist keine quasireligiöse Schimäre, sondern eine Realität dieser unserer Welt ist. Das Fehlverhalten vieler Österreicher gegenüber der braunen Vergangenheit dürfte viel eher doch darin liegen, daß ihnen, wie dem Historiker Stuhlpfarrer, die das Weltbild über die Weltanschauung erhebende metaphysische Dimension abhanden gekommen ist. Ohne Transzendenz wird nichts wirklch erhellt.

Aber selbst aus dem Reich der Fakten bringt Stuhlpfarrer nichts von Belang, das nicht längst schon bekannt wäre. Nichts, zum Beispiel von dem Dilemma der Deutschnationalen, nichts von dem der getauften Juden, nichts von der Tragik der Halb- und Vierteljuden, nichts von der Paradoxie der jüdischen „Ehrenarier“. Also eigentlich: überhaupt nichts.

Je näher dieses Buch unserer Gegenwart kommt, desto schütterer wird die Substanz, desto dürftiger der Ertrag: man muß da, leider, von einer verpatzten Chance sprechen.

Immerhin tröstet, zum Abschluß dann, Schubert: sein „Anhang“ beglückt mit einer frappierenden Interpretation des von den Europäern grundsätzlich mißverstandenen Fatalismus, er macht, was Häusler versäumt, die offenbar unauflösliche Problematik der Assimilation begreiflich („Abfall von der heilsgeschichtlichen Sendung“), wobei er an den schon von Leon Pinsker befürchteten Identitätsverlust erinnert, er sieht in Herzls Vision „die problematischeste Seite des Zionismus als eines Messianismus ohne Messias“.

Bleibt nur noch die — allerdings schon von Joseph Roth bejahend beantwortete und von Claudio Magris ihn, Roth, interpretierend erledigte — Frage, ob Spezifika des österreichischen Judentums feststellbar seien, und wenn, dann welche. Vielmetti berichtet, daß der Kirchenstaat bei stets unverändertem Kirchen-recht die Juden ununterbrochen und unbekehrt leben ließ, und er vermutet: „Vielleicht lag in dieser Konstellation schon der Keim zur staatstragenden Bedeutung des Judentums für die multinationale Habsburgermonarchie in späterer Zeit.“ Und Häusler zitiert; zuerst den jüdischen Reichsratsvertreter Bloch: Für diesen ist die Konstituierung eines jüdischen Nationalbewußtseins „ein Kampf für uns, aber zugleich für die Ideen der gegenseitigen Duldung der Konfessionen, des friedfertigen Zusammenlebens der Rassen und Volksstämme im großen Kaiserstaate, jene Ideen, die wir als den eigentlich österreichischen, den habsburgi-schen Staatsgedanken am liebsten bezeichnen würden“. Und Nathan Birnbaum, einen Kämpfer für die Rechte der Ostjuden, der mitten im Ersten Weltkrieg die Juden das „österreichreifste Volk“ genannt hat: „Als das einzige Kulturvolk, das schon so lange und so lückenlos international ist, erscheint es geradezu prädistiniert, Österreich zu bejahen und zu lieben.“ Und auch den alten Kaiser: „Die Juden sind tapfere und patriotische Männer...“ und: „Der Antisemitismus ist eine... Krankheit“. Ginge man wirklich ganz fehl in der traurigen Vermutung, daß die Zerschlagung der Monarchie nicht nur nationalistische Übel sanktioniert und gleichsam legalisiert, sondern auch die Pforten von Ausschwitz geöffnet hat?

DAS ÖSTERREICHISCHE JUDENTUM. Voraussetzungen und Geschichte. Herausgegeben von Drabek, Häusler, Schubert, Stuhlpfarrer, Vielmetti. 215 Seiten. Verlag für Jugend und Volk, Wien und München, 1974.

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