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Der Judenstaat

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Theodor Herzl, 1896: „Man gebe uns die Souveränität eines für unsere gerechten Volksbedürf-nisse genügenden Stücks der Erdoberfläche, alles andere werden wir selbst besorgen.“

Saida Landmann, 1972: „Für ein Volk, das zur Ruhe kommen soll, ist das Land Israel auch heute noch, genau so wie vor Jahrtausenden, denkbar ungeeignet.“

Am 3. Juli 1904 beging der gewesene Feuilletonist der „Neuen Freien Presse“, der Bühnenautor und Journalist Dr. Theodor Herzl in Edlach, Niederösterreich, Selbstmord. Acht Jahre waren damals erst vergangen, seit Herzl mit seiner 86 Seiten umfassenden Broschüre „Der Judenstaat“ einen seiner entscheidenden Anstöße zur Verwirklichung dessen gegeben hatte, was heute als Medinat Yisrael inmitten einer furchtbaren Gewalt der Tatsachen existiert. Herzls Grab auf dem Döblinger Friedhof in Wien ist leer. Sein Leichnam ruht in Israel.

Eine Versuchsstation für Weltkatastrophen nennt Karl Kraus, jüdischer Assimilant wie der junge Herzl, das alte Österreich. Ohne seine Erlebnisse in Österreich-Ungarn wäre Herzl wohl nie zu seiner metaphysisch verankerten Idee des Judenstaates (S. 75) gekommen. In Wien erlebte er die gefährlichen Mängel des liberalistischen Experiments einer neuzeitlichen Demokratie (S. 74). Hier wurde er Tatzeuge des Versagens jenes nationalliberalen Zentralismus, mittels dessen die Deutschen den Vielvölkerstaat in seiner Spätkrise zu steuern versuchten. Und im Nationalitätenstreit Österreich-Ungarns kamen ihm die Einwände gegen den auf Rousseau zurückgehenden Begriff der Nation von 1789 (S. 67). Gewiß: Herzls Zionismus ist Antwort auf konkrete Herausforderungen, wie sie damals wohl jeder gebildete Jude angesichts einer fragwürdigen Assimilation und eines wachsenden Antisemitismus spüren mußte. Indessen war zum Beispiel die damalige Antwort des 1936 verstorbenen Gegners des Zionismus Karl Kraus und jene Herzls so verschieden, wie ein Ja und ein Nein unvereinbar sind.

Kraus und Herzl erlebten die Herauslösung ihrer Generation aus der religiös-sittlichen Geborgenheit des Ghettos ihrer Vorväter. Während aber Kraus in der Schüttzone zwischen Salon und Redaktion seiner Assimilierung in der Einsamkeit des Intellektuellen durchstehen wollte, nahm Herzl als deutscher Burschenschafter zunächst an der Wandlung des Nationalliberalismus der Deutschen zur Idee des „Völkischen“ teil. Nach schweren Einbußen an seinen ursprünglichen liberalen, deutschnationalen und areligiösen Vorstellungen, wurde für Herzl schließlich das Volk das primäre. Ein Volk ist für Herzl die entscheidende Größe und jüdische Volkszugehörigkeit geht für Herzl vor jede momentane Staatsangehörigkeit eines Juden. Damit schuf Herzl die fatale Polarisation, in die der völkisch denkende Jude in jedem völkisch orientierten Staat geraten mußte.

Schnitzler und Hofmannsthal haben Bühnenstücke geschrieben, in denen unter nichtsnutzigen Figuranten des Bürgertums und der Aristokratie auch Assimilanten als Nachahmer einer bereits morbid gewordenen Kultiviertheit mitmachen. Mit solchen Typen wollte der Zionist Herzl nichts zu tun haben. Nach seinem Umgang mit glaubenslos gewordenen Christen und Juden wußte Herzl, daß ein religiös fundierter Antisemitismus in der Neuzeit längst nicht mehr der gefährliche ist (S. 24 ff.). Er konnte anderseits nicht verstehen, daß in der liberalen Ära Juden rein äußerlich ein Christentum annahmen, das für ihre agno-stischen liberalen Gesinnungsfreunde nicht viel mehr war als dümmliche Bigotterie oder unzulässiger politischer Katholizismus. In dieser Hinsicht hat Herzl in der Redaktion der „Neuen Freien Presse“, von Moritz Benedikt als liberales und bürgerliches Blatt geleitet, seine Erfahrungen gemacht.

Es dauerte ein Viertel Jahrhundert, bis Herzl von seinem anfänglichen deutsch-freiheitlichen Gehaben, das er mit vielen Juden seiner Zeit teilte, abfiel. So wie der Burschenschafter Herzl um 1881/82, dachte auch stud. phl. Gustav Mahler oder etwa Arthur Tausenau (ein naher Verwandter des 48er Revolutionärs Tausenau), dessen in der Burschenschaft „Sile-sia“ begonnene Libertinagen Arthur Schnitzler in seinen Jugenderinnerungen eindrucksvoll beschreibt. Solange man in burschenschaftlichen Kreisen nach dem Schlagwort: „Contra Roman et Austriam“ kom-mersderte und politisierte, waren Typen wie der junge Herzl in dieser Umgebung zu Hause. Selbst dann noch, als sie merkten, daß ihre Bundesbrüder anfingen, über das Deutschtum der Juden nachzudenken.

Das „Linzer Programm“ der Deutschnationalen von 1882 wird heute noch, und wohl mit Recht, als „Gemeinschaftsarbeit der jungen burschenschaftlichen Generation“ von damals angesehen. Neben Georg von Schönerer und dem federführenden Anton Langgaßner gehörten zu den Verfassern dieses Programms Victor Adler, Carl Beurle, Heinrich Friedjung, Engelbert Pernerstorf er, Otto Steinwender, Julius Sylvesters und Karl Teutschmann. Im Durchschnitt waren diese Männer, außer Schönerer, nicht älter als 29 Jahre. Und sie alle, Fried jung ausgenommen, kamen aus burschenschaftlichen Verbindungen. 1882 war der Jude Heinrich Fried jung für Schönerer noch keineswegs „der Jud' Hersch Friedjung“, sondern ein herzlich willkommener Connationaler im Kampf gegen die „Klerikalen“. Heute noch, 1974, ist die vor 90 Jahren gewonnene gemeinsame politische Plattform Adlers und Schönerers intakt. Bruno Kreisky und Friedrich Peter treffen sich auf ,ihr, wenn es um aktuellere Fragen geht, als die „Frage Habsburg“ eine war.

Als Herzl 1881 die blaue Mütze der Alben trug, waren in Wien schon Vorarbeiten zur Gründung der jüdisch-nationalen Verbindung „Ka-dimah“ im Gange. Aber der junge Herzl kümmerte sich um „Kadimah“ ebensowenig wie um die Tatsache, daß die Burschenschaft „Libertas“ schon seit 1879 „judenrein“ war und Schönerer seinen . Antisemitismus nicht in die Burschenschaft getragen, sondern dort erst richtig gelernt hat. Der junge Herzl und viele Assimilanten sahen noch nicht ein, daß ihre Versuche zur „Eindeutschung“ und die Kompensierung des „Makels“ ihrer Herkunft durch Mensurbegeisterung und Pfaffenhaß schon zwecklos waren. Was im Falle des Linzer Programms 1882 Juden und Nicht-juden verband, war letzthin ein militanter Antiklerikalismus, der noch stärker war als der da und dort aufkommende Antisemitismus. Und so ist es zu verstehen, daß Karl Lueger den damals gemeinsamen Weg Schönerers und Adlers nicht mitging, sondern anfing, eigene Wege zu gehen.

1896 entzündet sich in Frankreich an der Affäre Dreyfuß der moderne Anti-Antisemitismus. Und 1896 wurde in Österreich von Burschenschaften Juden „Satisfaktionsfähigkeit“ abgesprochen. Die so festgestellte „Unfähigkeit“ ging nicht von Fragen wie Duell und Mensur aus (wie in jüdischen Kreisen bemerkt wird), sondern von einem neuen Grundsatz, wonach Juden der „erhebliche moralische und psychologische Unterschied“ angelastet wurde, der zwischen „Ariern und Juden“ bestehe. „Ob Jud', ob Christ ist einerlei. / In der Rasse liegt die Schweinerei“, lautete eine der damaligen Faustregeln und man nahm gerne die polizeiliche Verfolgung jener Verbindungen auf sich, die 1896 den breitesten Graben zwischen Ariern und Juden gezogen hatten.

Die Judenfrage war eines der Krebsübel, an denen die nach 1860 so mächtig gewordene liberale Bewegung in Österreich zugrunde ging. Ernst Plener beschreibt, wie liberale Parteien einerseits gegenüber dem deutschnationalen Antisemitismus in Böhmen und Mähren largie-ren mußten; und wie sie anderseits durch diese wackelige Haltung das Vertrauen vieler Juden verloren. Das alles und noch viel mehr ereignete sich in Österreich lange bevor in Paris Emile Zola sein vor allem gegen die Antisemiten gerichtetes „J'accuse“ ausstieß. Während aber in Frankreich ein liberaler AntiAntisemitismus, zusammen mit einem rücksichtslosen Kampf gegen den Katholizismus, jenen Liberalismus an die Macht brachte, der links keinen Gegner sieht, ging in Österreich der Liberalismus als politische Bewegung zugrunde. Auch Herzls völkisch gedachtes Programm des Zionismus mußte die Altliberalen treffen. Nicht zuletzt aber jene Juden in Österreich, die dem alternden Staat bis zuletzt loyal dienten und die ahnten, was Karl Kraus mit seiner Versuchsstation für Weltkata-strophen meinte.

Herzl war kein Intellektueller, der über Publizieren und Diskutieren die Tat vergißt. Angesichts des unter „Gastvölkern“ immer mehr um sich greifenden Antisemitismus genügte ihm bloße Duldung auf Widerruf nicht. Er wußte um Glanz und Elend des „Jud' Süß“ und sejn Ehrgeiz ging nicht auf derlei fragwürdiges „Ansehen“ auf Zeit, sondern: auf den völkischen Staat der Juden. Schon durfte er mit jener enormen materiellen und ideellen Kraft des Judentums rechnen, die es ihm gestattete, dem türkischen Sultan die Sanierung der derouten Finanzverhältnisse seines Großreiches als Entgelt für die Gewährung der Autonomie eines Judenstaates in Palästina (S. 29) anzubieten.

Die Judenfrage wurde unter anderem im Ersten Weltkrieg für die Mittelmächte zum Schicksal. Solange sie als Verbündete der Türkei von 1914 bis 1917 noch gegen das den Juden besonders verhaßte zaristische Rußland kämpften, war die Z. O., die Zionistische Zentralorganisation, auf eine formale Neutralität zwischen Entente und Mittelmächte bedacht. Als Rußland 1917 endgültig als kriegführende Macht ausschied und mit der Revolution von 1917 auch in Rußland die Juden mit an die Macht kamen, fiel ein Hauptgrund für die bisherige Neutralität der Z. O. weg. 1917 war das Jahr, in dem die Entente in eine Serie gefährlicher Krisen geriet. Und so wie einmal das Haus Rothschild nicht auf den von Erfolg zu Erfolg eilenden Napoleon gesetzt hatte, sondern auf den längeren Atem seiner Gegner, bekannte sich die Z. O. 1917 für die Entente, indem sie sich von Großbritannien (nachher von anderen Mächten) ihren Anteil aus der Zerstückelung der Türkei zusagen ließ.

Zu den gefährlichen Sprengladungen, die 1919/20 die siegreiche Entente in ihre „Friedensordnung“ montierte, gehört ihre Lösung der Palästinafrage. Das „establishment in Palestine of a national home for the Jewish People“, das Großbritannien 1917 der Z. O. durch einem Mittelsmann versprach, hatte nämlich Großbritannien bereits vorher jenen Arabern zugesagt, deren Aufstand gegen den Sultan es brauchte, um seinen mit mäßigen Erfolgen geführten Krieg gegen die Türkei endlich zu einem Sieg zu bringen. Das „Meisterstück britischer Diplomatie“, die eine Sache gleich zwei potentiellen Verbündeten zu versprechen, ist die causa causae dessen, was heute als vierter jüdisch-arabischer Krieg die Welt erschüttert.

Neutral sollte Herzls Judenstaat werden. So scharfsichtig viele Diagnosen und Lösungsvorschläge Herzls sind, so sehr irrt er in der Annahme, die Juden könnten in Palästina, an einem der umstrittensten Punkte der Erdoberfläche, sich niederlassen und, sich selbst überlassen, alles übrige „selbst tun“. Wer in der heute bis in die Arktis und Antarktis zerstückelten Welt der modernen Territorialstaaten eine „Landnahme“ unternimmt, löst damit eine Kettenreaktion aus. Mag man nach 1945 die Hauptkrigsverbrecher der Deutschen und Japaner aufgehängt und diese Völker als Kriegstreiber militärisch invalid gemacht haben; Tatsache bleibt, daß die anderen „friedliebenden Völker“ seit 1945 mehr als 50 Kriege und kriegsähnliche Handlungen an den verschiedensten Punkten der Erdoberfläche geführt haben; mehr als in jeder anderen gleichlangen Epoche der Neuzeit. Allein im Koreakrieg sind mehr US-Soldaten gefallen als im Zweiten Weltkrieg und über Vietnam wurde mehr Bombenlast abgeworfen, als 1941 bis 1945 die US-Air-Force zum Einsatz brachte. Die politisch relevanten Veränderungen werden neuerdings meistens weniger mit der Macht politischer Ideen entschieden, als mit jener Gewalt der Tatsachen, die Militärs setzen. In Chile zum Nachteil der linken Linken, in Portugal zu deren Vorteil. Katholische Jugend in Osterreich demonstriert gegen die Säbel-herrschäft in Chile, katholische Bischöfe in Portugal loben einen solchen Akt „politischer Willensbildung“.

Daß einmal die Nachfahren der 1896 für „satisfaktionsunfähig“ erklärten Juden in Israel „Ein Volk in Waffen“ formulieren würden, haben sich zu Herzls Zeiten weder die jüdischen Assimilanten noch jene gedacht, deren Epigonen jetzt zu einem Canossa pilgern müssen, das nicht in Italien liegt, sondern in Israel. 70 Jahre nach Herzls Tod ist das Palästinaproblem der wohl schwierigste Balanceakt der beiden Gendarmen der Ordnung von 1945, der USA und der UdSSR. Eine ganze Welt wartet mit Spannung darauf, ob bei diesem Anlaß der Testfall für die Konvergenz der Supermächte oder jener der Konfrontation fällig wird.

DER JUDENSTAAT. Von Theodor Herzl. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, M. Breitensteiners Buchhandlung, Wien 1896, IX., Währinger Straße 5. 86 Seiten (Reprint der Erstausgabe: Otto Zeller, Osnabrück 1968).

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