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Le Bourget, ein Vorort von Paris, am 6. Jänner 1942: Das Mädchen, das in dieser düsteren Zeit das Licht der Welt erblickt, hat jüdische Eltern. Da die Nationalsozialisten jüdische Kinder deportieren oder in polizeilich kontrollierte Heime bringen, um die Eltern unter Druck zu setzen, wird das Baby wenige Wochen nach der Geburt bei Nicht-Juden untergebracht. Bis zur Befreiung von Paris im August 1944 werden es acht solcher Pflegeplätze. Der Vater kommt in einem Konzentrationslager in Norddeutschland ums Leben. Die Mutter heiratet im Dezember 1945 einen Wiener Emigranten, der soeben ein KZ in Frankreich überlebt hat.

Mit einer mir beinahe fremden Mutter und einem noch fremderen Vater treffe ich kurz darauf in Wien ein. Die Volksschulzeit verbringe ich in einem kleinen niederösterreichischen Ort. Dort leben einige hundert Menschen, unter denen ich die einzige Nicht-Katholikin bin. Eines Tages, als meine Mutter mich besuchen kommt, frage ich sie: „Mutti, was ist ein Jud?“

Nach den Nürnberger Gesetzen war Jude, wer von vier, mindestens aber von drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammte. Als Jude galt aber auch der von zwei volljüdischen Großeltern stammende jüdische Mischling, wenn er am Stichtag, dem 15. September 1935, der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörte oder mit einem Juden verheiratet war. Gehörte dieser jüdische Mischung an diesem Tag nicht der jüdischen Religionsgemeinschaft an, so galt er als Halbjude und wurde als Mischling ersten Grades bezeichnet Wer nur einen jüdischen Großelternteil hatte, war Vierteljude oder Mischling zweiten Grades. In Österreich traten die Nürnberger Gesetze am 24. Mai 1938 in Kraft, berichtet Kurt Schubert in „Der Weg zur Katastrophe“.

Die Ursache für meine Frage war ein Erlebnis: Dorf kinder hatten mir auf der Straße nachgerufen: „Jud, Jud, spuck in' Hut, sag' der Mama, das ist gut.“ Welche Erklärung mir meine Mutter gegeben hat, weiß ich nicht mehr. Später in Wien nahmen die unliebsamen Konfrontationen in der Mittelschule zu. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein Vorfall am 20. April 1956. Zu „Führers Geburtstag“ erscheinen zwei meiner Klassenkollegen im braunen Hemd, die Hand erhoben zum Hitlergruß, und meinen zu den Juden in der Klasse: „Schade um jeden von euch, den man nicht vergast hat.“

Katholische Mädchen, mit denen ich mich anfreunde, müssen erst lange zu Hause darum betteln, mit mir außerhalb der Schule zusammenzukommen. Wenn sie es durchgesetzt haben, heißt es: „Sie ist zwar eine Jüdin, aber sehr nett.“ Einen Klassenkollegen, für den ich, als er krank ist, mitschreibe, darf ich nicht zu Hause besuchen: „Du mußt das verstehen, meine Eltern mögen nun einmal keine Juden.“

Ich beginne mich intensiv mit Religion zu befassen, auch mit der katholischen. Woher kommt es, daß Katholiken, die von Nächstenliebe, Toleranz und Menschlichkeit sprechen, so reagieren? Ich verhalte mich doch nicht anders als sie, ich sehe nicht einmal anders aus?

Schon in der vorchristlichen Antike war das Judentum wegen seines besonderen Gottesbegriffes heftigen Angriffen ausgesetzt. Der antike Antiju-daismus berief sich auf den Anspruch der Juden, dem einzig wahren Gott zu dienen. Was die Juden als Treue zu ihrem Gott verstanden, wurde zum Gegenstand beißenden Spotts bei den Heiden.

Die polemische Auseinandersetzung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament führte zur spezifischen Form des christlichen AntiJudaismus. Die einzig wahren Verehrer Gottes zu sein, nahmen die Christen von allem Anfang an für sich in Anspruch, den Glauben der Juden bezeichneten sie daher als Verstocktheit, hinter der letztlich der Teufel steht. Das gemeinsame Bekenntnis zum Gott der Bibel trug also nicht zur Uberwindung der heidnischen antijüdischen Animosität bei, sondern verschärfte sie. Die Folgen der Anschauung, die Juden seien

Werkzeuge des Teufels, führte vom späten Mittelalter an zur Beschuldigung des Ritualmordes, der Hostienschändung und Brunnenvergiftung. In der christlichen Staatenwelt des Mittelalters lebte das Judentum als Minderheit, zeitweise geschützt und privilegiert, meistens aber verfolgt und vertrieben. Selbst das Ziel der Aufklärung war es, nur einzelne Juden, nicht aber das Judentum zu emanzipieren.

In der Antike war man gegen die Juden, weil sie anders sein wollten. Der moderne Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert ist gegen sie, weil sie gleich sein wollen.

Ich heirate einen Katholiken und habe dauernd Kämpfe mit meinem Schwiegervater auszufechten. Er kann sich nicht damit abfinden, daß sein Sohn ausgerechnet eine Jüdin zur Frau genommen hat. Dabei gelte ich als assimilierte Jüdin und heirate meinem Mann zuliebe in der Kirche. Aber „wir Juden“ sind nun einmal an allem schuld gewesen, und daran hat sich in den Augen seiner Eltern nichts geändert.

Der Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts erhielt immer stärker wirtschaftliche und soziale Motive. Da den Juden der Einstieg in traditionelle Berufe verwehrt war, stieg ihr Anteü in den freien Berufen und im Handel. In diesem Spannungsfeld entstand der typische klein- und mittelbürgerliche christlich-soziale Antisemitismus, dessen Anhänger die jüdische Konkurrenz fürchteten. Typisch für diesen christlich-sozialen Antisemitismus war, daß seine Ideologen und Anhänger nicht die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse analysierten, sondern einfach im Juden den Schuldigen für die neuen Verhältnisse sahen. So wurde der Slogan „Der Jud ist schuld“ zwar zum erfolgreichen Schlagwort politischer Agitation, ohne daß jedoch für die Betroffenen selbst irgend eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation geschaffen wurde. Gleichzeitig wurde das Büd der jüdischen Konkurrenz mit dem traditionellen Feindbild des Juden kombiniert, so daß auch die religiösen Motive für den Antisemitismus zugkräftig blieben.

Der Vorwurf, daß die Juden an der Spitze der Wirtschaft stünden und ihr Einfluß auf Finanzen, Presse und Theater ständig zunehme, hinderte den Antisemitismus-Theoretiker Wilhelm Marr nicht an der Feststellung, daß „die jüdische, elastische Leichtlebigkeit Rußland in eine Revolution stürzen wird“, so daß Theodor Herzl treffend formulierte: „Wir werden nach untenhin zu Umstürzlern prole-tarisiert, bilden die Unteroffiziere aller revolutionären Parteien, und gleich-

zeitig wächst nach oben unsere furchtbare Geldmacht.“

In einem Großunternehmen, in dem ich als Sekretärin arbeite, legt mir eine Arbeitskollegin nahe, nicht darüber zu sprechen, daß ich Jüdin bin. „Das hat man hier nicht gerne.“

Jüdische Witze werden mir allmählich zum Alptraum. Ich kann nicht mehr unterscheiden, ob der Erzähler Freude am Witz oder am Antisemitismus hat. Und die obszönen Bemerkungen über die „geilen jüdischen Frauen“ verursachen mir Übelkeit.

Der österreichische Antisemitismus hat eine starke Tradition. Sogar in jüdischen Kriegsflüchtlingen nach dem Ersten Weltkrieg wollte man nicht die Opfer des gemeinsam geführten Krieges sehen. Sie wurden sehr bald zum beliebten Angriffsobjekt der Antise-

miten. 1918 fanden sich Deutschnationale und Christlich-Soziale wieder in einer antisemitischen Front zusammen, und wieder lenkte die antisemitische Presse den Zorn der hungernden Bevölkerung auf die jüdischen Kriegsverbrecher. Das Volk sollte die Vorstellung bekommen, nur die Juden hätten sich am Krieg bereichert, obwohl die anderen Schichten und Gruppen nicht weniger erfolgreich waren.

Als sich alle antisemitischen Gruppen Wiens 1888 in der Partei der „Vereinigten Christen“ zusammenschlössen, hatten auch junge Priester geglaubt, in diesem Rahmen eine Lösung der sozialen Frage durch den Antisemitismus herbeiführen zu können. Als Argument-galt, daß alle Juden Kapitalisten seien, eine Besserstellung der arbeitenden Menschen daher nur durch eine antijüdische Gesetzgebung erreicht werden könne. Wissentlich verschwieg man dabei, daß die große Mehrheit der Juden zu den kleinen Leuten, die um ihr tägliches Brot kämpfen mußten, vielleicht sogar zum ärmsten Bevölkerungsteil überhaupt gehörten.

Diese Propaganda der Christlichsozialen führte zu einer weiteren Verbreitung der Voruteile gegen Juden und zu einer Festigung des Antisemitismus. Sie hat viel dazu beigetragen, daß nach dem Anschluß Österreichs an Hitler-Deutschland die Einführimg der antijüdischen Gesetze und Verordnungen so reibungslos vor sich ging, daßTbestimmte antijüdische Maßnahmen vielfach sogar mit Wohlwollen aufgenommen wurden.

Im Laufe der Jahre habe ich viele Menschen kennengelernt, die keine Antisemiten sind, besonders unter Katholiken; die ihre Religion ernst nehmen. Ich weiß heute, daß viele von ihnen ebenfalls im KZ'gewesen und viele von ihnen umgekommen sind. Ihre Haltung bildet für mich das Gegengewicht zu den Berichten über das Dritte Reich und die Judenverfolgungen.

Schon einige Tage nach dem Anschluß wurden die Juden von den österreichischen Nationalsozialisten nach allen Regeln der Kunst schikaniert. Ein beliebter Sport der Wiener SA-Leute war es, Juden zu „Reibpartien“ zusammenzuschließen, um sie Wahlparolen der Vaterländischen Front von Wänden und Straßen waschen zu lassen. Andere Gruppen machten sich einen Jux daraus, Juden zu fangen, ihnen Farbtopf und Pinsel in die Hand zu drücken und sie zu zwingen, jüdische Geschäfte mit der Aufschrift „Jude“ oder mit dem Zion-stern zu versehen. Bei all diesen Aktionen konnten sie mit dem Publikumsbeifall der lachenden Wiener Zuschauer rechnen.

Die Ausschreitungen gegen die Juden, die Festnahmen durch die Gestapo und die ersten diskriminierenden Verordnungen fanden einen Höhepunkt in dem Pogrom vom 9. auf den 10. November 1938. In dieser Nacht brannten Synagogen, jüdische Wohnungen und Geschäfte, wurden 3700 Juden nach Dachau deportiert. Die vielen, auf den Straßen hegenden Glasscherben, in denen sich das Licht der Straßenlaternen widerspiegelte, gab dieser Nacht im Volk, das sich aktiv an den Ausschreitungen beteiligt hatte, die Bezeichnung „Kristallnacht“. Für die Juden kam zu diesem Schreck noch der Spott. Ihnen wurde aufgetragen, die an ihren Geschäften und Wohnungen verursachten Schäden auf eigene Kosten zu beheben und das Straßenbild wieder in Ordnung zu bringen.

Mit Kriegsbeginn Hefen die Deportationen an. Sie dauerten bis Kriegsende. Nach Buchenwald, Dachau, Lodz, Minsk, Treblinka, Majdanek, Theresienstadt, Mauthausen und nach Auschwitz. In der Wannsee-Konferenz am 20. Jänner 1942 in Berlin war die Endlösung der Judenfrage beschlossen und die technischen Einzelheiten der Durchführung der massenweisen Vernichtung des europäischen Judentums besprochen worden. Der Massenmord sollte mit technischer Perfektion durchgeführt werden. Er wurde es. 1934 lebten in Wien 176.034 Juden. 1945 waren es nur noch 5816. Heute sind es rund 8000, berichtet Kurt Schubert.

Antisemitische Bemerkungen schmerzen mich. Ich bin sehr empfindlich und nehme manche Äußerung vielleicht tragischer als sie gemeint ist. Aber antijüdische Parolen an jüdischen Gräbern und an der Synagoge versetzen mich in Panik. Auch wenn es nur eine kleine Gruppe ist, die im Vorjahr solche Aktionen gesetzt hat... es hat einst nicht anders begonnen. Und ich habe nicht den Eindruck, als ob die österreichischen Juden mit der aktiven Unterstützung der österreichischen Bevölkerung gegen antisemitische Ausschreitungen rechnen können. Das macht mich unsicher.

Ich habe zwar 1938 und die Kriegsereignisse nicht persönlich „erlebt“. Trotzdem habe ich immer wieder Angst. Mir geht es wie einem heute 74jährigen Juden, der einmal zu mir gesagt hat: „Wir hatten damals den Mut zum Überleben, weil wir uns selbst in unseren schlimmsten Vorstellungen nicht ausmalen konnten, was auf uns zukam. Heute wissen wir, was möglich ist.“

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