Als Jüdin und Christin in der Kirche

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Ruth Steiner, Generalsekretärin der Katholischen Aktion a.D., hat hierzulande einiges bewegt. Manches davon ist in ihren Erinnerungen nun nachzulesen.

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Ruth Steiner, Generalsekretärin der Katholischen Aktion a.D., hat hierzulande einiges bewegt. Manches davon ist in ihren Erinnerungen nun nachzulesen.

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Vor Jahren war ich einmal bei Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg, und er stellte mich seiner Mutter vor: "Das ist Ruth Steiner, Generalsekretärin der Katholischen Aktion Österreichs - und a bissl was von uns." Er traf damit den Nagel auf den Kopf: Ich bin Katholikin - doch mein Urgroßonkel war Großrabbiner von Bielitz (Polen).

Mein Urgroßvater väterlicherseits hatte 20 Kinder. Alle waren verheiratet und hatten selbst Kinder. Doch von meinen 104 Familienmitgliedern sind die meisten im KZ umgekommen. Der Rest ist nach Großbritannien, USA, Brasilien, Australien und Israel vertrieben worden. Auch mein Großvater mütterlicherseits war Jude, doch meine Großmutter war katholisch. [...]

Auch meine Eltern waren Juden. 1938 mussten sie aus Österreich fliehen. Sie lernten einander allerdings erst auf den Philippinen kennen, wohin beide ihre Flucht geführt hatte. [...] 1944 wurde ich geboren - als eine von vier Schwestern, von denen drei überlebten. [...] In meiner Geburtsurkunde steht: Ruth Steiner, geboren in der Singhiang Clinic, einem chinesischen Spital [...] unter japanischer Besatzung auf den Philippinen - ein Kind mit österreichischer Nationalität und deutscher Staatsbürgerschaft. [...]

Die vertriebenen jüdischen Freunde meiner Eltern prägten meine Jugend sehr stark. Sie liebten und achteten ihre österreichische oder deutsche Heimat, doch sie verachteten die Menschen dort. Auch mein Vater war so: Für ihn war fast jeder Österreicher ein Nazi. Nie verstand er, warum so viele seiner Landsleute während der Nazi-Diktatur einfach geschwiegen hatten. Das hinderte ihn aber nicht daran, stolz auf seine österreichische Herkunft zu sein.

Nach dem Krieg arbeitete er für Unilever und vertrat Österreich ehrenamtlich als Generalkonsul. Er erzog uns Kinder dazu, die österreichische und deutsche Kultur zu lieben. Wir wurden mit Grillparzer- und Raimund-Zitaten ins Bett gebracht [...]. Bei Sonnenaufgang wurde im Garten vor unserem alten spanischen Haus des österreichischen Konsulats im Botschaftsviertel in Manila die österreichische Fahne gehisst. Unser Gärtner hat diese Aufgabe sehr ernst genommen, oft stand ich dabei "habt Acht" [...]

Meine religiöse Identität Wir wurden nicht traditionell jüdisch erzogen. Doch mein Vater betonte trotzdem immer wieder, wie stolz wir sein könnten, Juden zu sein. Wären wir unter Hitler in Österreich geblieben, hätten die Nazis uns umgebracht. Das konnte uns niemand wegnehmen: "Diese Gnade, Jude sein zu dürfen". Mit diesem Bewusstsein wuchs ich auf.

Trotzdem ließen meine Eltern uns alle in der "Union Church" - einer christlichen Kirche, die verschiedene evangelische Bekenntnisse [...] vereint - taufen. Ich nehme an, dass es meinen Eltern darum ging, uns gesellschaftlich zu integrieren. [...]

Später, nach unserer Rückkehr nach Österreich, ging es in unserer Familie konfessionell "bunt gemischt" zu: Wir feierten das christliche Weihnachtsfest - eine Schwester ist lutheranisch, die andere in der Union Church, ich katholisch. Meine Mutter hatte dagegen immer einen starken Hang zum Buddhismus [...]. Mein Vater war Jude. Wir fingen das Weihnachtsfest immer so an, dass er aus dem Alten Testament vorlas. Er pflegte dann immer zu sagen: "Ich bin zwar kein frommer Jude, aber Weihnachten halte ich." Jeder Jude versteht diesen Witz!

Meine Suche nach religiöser Identität dauerte viele Jahre. Sie verstärkte sich, als ich mit 15 nach Wien kam. [...] Ab 1959 lebte ich mit einer Schwester in Wien [...]. Ich besuchte die Neulandschule, eine katholische Internatschule in Grinzing. Meine Eltern kamen 1965 nach Wien. [...]

Jetzt, in Wien, lernte ich wiederum engagierte Katholiken kennen: Meine Lehrerin Eva Petrik [...]; meine Großmutter, die zwar Katholikin, aber mit einem Juden verheiratet war und ihn durch das Dritte Reich gerettet hatte; vor allem aber den Priester Gustav Granditsch, ein naher Verwandter von mir und erster Generalsekretär der Katholischen Aktion. - Meine Eltern und ihre Freunde in der jüdischen Gemeinde hatten alle furchtbare Angst, dass ich mich katholisch taufen lassen könnte. Tatsächlich spielte ich mit diesem Gedanken. Ich ging zu Granditsch und erzählte ihm davon. Er warnte mich, ich könne meinem Vater das nicht antun. Ich müsste mir wirklich ganz sicher sein. Es folgten vier Jahre Katechismusunterricht, in denen er immer den Advocatus diaboli spielte. Doch mein Entschluss wurde immer klarer: 1963 wurde ich ein zweites Mal christlich getauft, diesmal katholisch. [...]

Mein Vater kam nicht zur Taufe. Lange Zeit hindurch konnte er meine Entscheidung nicht verzeihen. Er war skeptisch, ob ich meinen Entschluss auch wirklich leben könnte. Er schlug mir schließlich vor, einige Zeit in Israel zu verbringen, um herauszufinden, ob ich nicht doch Jüdin sein wollte. Ich ging auch tatsächlich einige Sommer lang zum Arbeiten in einen Kibbuz nach Israel. Dort wurde mir klar, dass ich wirklich Jüdin bin, mit einem starken Bewusstsein meiner jüdischen Wurzeln. Doch meine Religion ist das Christentum. [...]

Die Jahre in der Katholischen Aktion Österreich (1986-2000) [...]

Die Waldheim-Ära: Kaum hatte ich meinen Posten in der KAÖ angetreten, sah ich mich schon mit der schweren politischen Krise um den damaligen Bundespräsidenten Dr. Kurt Waldheim konfrontiert. [...] Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich in Österreich selten antisemitische Tendenzen bemerkt. So hatte ich die Österreicher bei diversen Auslandsreisen immer verteidigt, denn ich traf viele Juden, die absolut nicht verstehen konnten, warum jemand mit jüdischen Wurzeln noch in Österreich leben konnte. Jetzt bemerkte ich plötzlich, welch tief gehender Antisemitismus auch in meiner unmittelbaren Umgebung herrschte. In meiner kleinen niederösterreichischen Gemeinde, wo ich als ÖVP-Fraktionsmitglied wirkte, brodelte es wie überall in Österreich. Aussagen wie: "Die reichen Juden haben es sich ja in Israel gerichtet", "Wir lassen uns von denen im Ausland nicht reinreden, wie wir das Land regieren müssen", oder die Aussage eines Pfarrers: "Jetzt müssen die Juden endlich ihre Schuld am Tod Jesu einbekennen", erschütterten mich tief. [...]

Ich überlegte ernsthaft, ob es nicht doch besser wäre, Österreich zu verlassen. Paul Schulmeister, der damalige KA-Präsident, redete mir damals immer wieder zu, dass ich bleiben solle, weil ich als Vermittlerin zwischen Juden und Christen gebraucht würde.

Auch innerhalb der KA wurde viel diskutiert. Gräben brachen auf [...]. Thema aller Diskussionen war immer dieser Satz von Kurt Waldheim: "Ich habe ja nur meine Pflicht getan." Viele Leute, besonders aus seiner Generation [...] sagten, dass wir die Pflicht hätten, für unser Vaterland zu kämpfen, und sie betrachteten Widerstand [...] als etwas sehr Negatives. Aber ist er im Gegenteil nicht etwas ungeheuer Ehrenhaftes? Diese Frage nach Widerstand und Pflicht lässt mich bis heute nicht los. [...] Ich litt in der Waldheim-Ära sehr an der Hör- und Sprachlosigkeit gerade bei Katholiken, die oft nicht verstehen konnten, welch tiefe Erschütterung die Ausrottung und Verfolgung der Juden und die Erinnerung daran bei den überlebenden Juden ausgelöst hatte, und warum Juden so empfindlich sind und nicht verzeihen und vergessen können. Diese notwendige Sensibilisierung fehlte und fehlt heute noch bei vielen. Die Vorwürfe und Feindbilder spalteten ganze Familien, auch meine eigene: Meine jüdischen Verwandten [...] können noch heute überhaupt nicht verstehen, wie ich mich [...] noch für das Gespräch zwischen Christen und Juden einsetzen konnte. Von meinen jüdischen Verwandten in Israel und England wurde ich als Verräterin betrachtet. [...]

Gedenken an den Anschluss Österreichs: 1988 war für uns ein Prüfstein: An der Art, wie wir den 50. Jahrestag des Anschlusses an Hitlerdeutschland gestalteten, würde man ablesen können, ob Österreich sich wirklich verändert hatte [...]. Wir diskutierten nächtelang darüber, welche Aktion unsere Betroffenheit am besten zum Ausdruck bringen könnte [...] Schließlich gingen uns die Worte aus. [...]

1987 war für mich persönlich ein schwieriges Jahr, denn ich war an Krebs erkrankt. Mitten in einer schweren Chemotherapie hatte ich Zeit zum Nachdenken. [...] Und da kam mir in den Sinn: Das Beste wäre es, wenn wir einfach unsere Betroffenheit durch Schweigen oder Sprachlosigkeit demonstrierten! Ich schlug also Paul Schulmeister eine "Gedenkminute für Österreich" vor [...]: Danach sollte am 11. März 1988 (50 Jahre nach dem Anschluss) [...] im ganzen Land eine Schweigeminute stattfinden. [...] Alle Arbeit sollte ruhen, die Autos anhalten, Glocken läuten und Sirenen heulen.

Mein Vorschlag wurde angenommen: Sozialpartner, ÖAMTC, ARBÖ et cetera schlossen sich an. [...] Das Parlament hielt das Schweigen ein, auf der Ringstraße in Wien blieben die Autos stehen, viele Einkaufszentren wurden still, die Kirchenglocken läuteten, und die Sirenen heulten. Da wurde mir bewusst: Es gibt doch eine Möglichkeit, etwas zu tun! [...]

Konzert für Österreich - Elie Wiesel redete dort, wo einst Hitler stand: Das "Konzert für Österreich" (Juni 1992) war ein Protest gegen die verharmlosende Aussage von Jörg Haider über die "Beschäftigungspolitik im Dritten Reich". Künstler, Privatleute und Organisationen wehrten sich gemeinsam gegen die wachsende Fremdenfeindlichkeit in Österreich. [...] Mein Engagement für dieses Projekt war äußerst umstritten, denn bis dahin hatte die KA die Teilnahme an solchen Veranstaltungen immer als zu politisch abgelehnt. Nach den ersten Vorbereitungssitzungen, die mich irrsinnig beeindruckt hatten, berichtete ich dem Präsidium der KA von dem Vorhaben und sagte: Das ist so wichtig, da müssen wir mitmachen! Die Antwort des Präsidiums war [...]: Das kommt überhaupt nicht in Frage! [...] Ich sagte zu Eva Petrik, der damaligen Präsidentin der KAÖ: "Wenn wir nicht einmal da mitmachen können, dann frage ich mich wirklich, ob wir uns gesellschaftspolitisch überhaupt noch engagieren können! Wir als KAÖ können zu dieser Aussage von Haider nicht schweigen!" Am Ende hat sie zugestimmt und war sehr engagiert. [...]

Wenn ich dann an das Konzert selbst zurückdenke, so erinnere ich mich [...] natürlich an Elie Wiesel! Der jüdische Literaturnobelpreisträger Elie Wiesel auf dem Heldenplatz, für mich als Jüdin immer ein Tabu-Platz. Wie der Scheinwerfer dann das erste Mal auf ihn fiel - da ist mir schon anders geworden, und mir sind die Tränen gekommen. Wenn Elie Wiesel dort stehen kann, wo Hitler gestanden hat! [...]

Das Lichtermeer: Wenige Monate später [...] kündigte die FPÖ ein Volksbegehren zur Ausländerfrage an. Dieses Volksbegehren, das Ende Jänner 1993 stattfand, führte zu einer österreichweiten politischen Grundsatzdiskussion, die eine [...] nicht gekannte Dimension erreichte. Wieder versammelten sich Organisationen, Künstler und Politiker, Prominente und Einzelkämpfer im Bündnis "SOS Mitmensch". Alle Parteien waren dabei, außer der FPÖ.

Auch Leute aus der Vorbereitungsgruppe des "Konzerts für Österreich" beteiligten sich am Denkprozess, also auch ich. Die Sitzungen verliefen geheim. Einige Politiker nahmen als Privatpersonen teil. Wir trafen uns jeden Sonntag um 20 Uhr und diskutierten bis zwei Uhr früh: Was können wir gegen dieses Ausländervolksbegehren tun? [...] Auch sonst ging es bei der Vorbereitung [...] turbulent zu. Das Organisationskomitee hatte beschlossen, dass am Tag des Lichtermeeres alle Kirchenglocken läuten sollten. Ich stellte daraufhin einen entsprechenden Antrag an den Wiener Bischofsrat. Doch der Beschluss des Bischofsrats fiel negativ aus: Da bei anderen Gelegenheiten wie zum Beispiel beim Fest der Unschuldigen Kinder die Glocken nicht läuteten, dürften sie auch beim Lichtermeer nicht läuten.

Ich besprach die Sache mit den evangelischen Pfarrern, die alle ankündigten, ihre Glocken läuten zu lassen. Da dachte ich mir: Es geht einfach nicht, dass die evangelischen Glocken läuten können, die katholischen aber nicht! Also habe ich jeden einzelnen Pfarrer in der Innenstadt angerufen und siehe da: Die evangelischen und katholischen Kirchen vereinigten sich im Glockengeläut! [...] Den Moment, als wir unter dem Läuten der Glocken des Stephansdoms zum Heldenplatz zogen, werde ich nie vergessen. Ich befand mich auf dem Ring, mitten in einer Gruppe von Türken, die unheimlich stolz auf ihre österreichischen Mitbürger waren [...]. Ich war ganz überwältigt: All dieser Ausländerhass - und auf einmal gibt es soviele Österreicher, die solidarisch sind! Und was für Österreicher! Nicht irgendwelche sozialistischen Anarchisten, sondern gutbürgerliche Österreicher mit Steireranzug, Gamsbart und Jackerl sind mitmarschiert - Leute, die man sonst niemals bei Demonstrationen sieht.

500.000 Menschen nahmen an dieser größten politischen Demonstration der Zweiten Republik teil, und das Ausländervolksbegehren scheiterte. Die Drohanrufe und Beschimpfungen, die ich während der Vorbereitungszeit einstecken musste, waren vergessen. [...]

Zwischen jüdischer und christlicher Identität Ich bin jüdischer Abstammung und habe jüdische Wurzeln. Und dennoch: Für mich persönlich ist Christus der Messias! Juden denken in diesem Punkt anders: Sie warten noch auf den Messias, weil sie der Ansicht sind, dass man sein Kommen mit Veränderungen in der Welt verbunden sein muss. Doch in ihren Augen hat sich die Welt nicht verändert. Das muss man einfach so stehen lassen. - Es liegt mir fern, mit diesem Glauben irgendjemand missionieren zu wollen oder andere Ansichten auszuschließen. Weshalb ich mich vor vielen Jahren in meiner Jugend doch entschieden habe, trotz meines jüdischen Selbstbewusstseins bewusste Christin zu werden ist - wie jede Berufung - letzlich rational nie ganz begründbar. Ich kann es nur andeutungsweise zu erklären versuchen: Die Spiritualität der Evangelien, zum Beispiel die Bergpredigt, mit ihrer Botschaft der Liebe und Barmherzigkeit Jesu gegenüber den Menschen, war und ist äußerst wichtig für mich. [...]

Das ist alles sehr kompliziert. Ich selbst kenne mich ab und zu mit meinen religiösen Gefühlen auch nicht ganz aus: Bin ich Jüdin? Bin ich Christin? Eines weiß ich allerdings sicher: Das Christentum ist für mich auf keinen Fall einfach nur eine Fortsetzung des Judentums. Es ist etwas Neues, Herausforderndes. Es lebt aber aus der Quelle des Judentums. [...]

Auch sonst spüre ich, dass ich manche Dinge aus jüdischer Sicht sehe und sie ohne lange Erklärungen verstehen kann. Ich wage zu behaupten, dass ich dafür ein starkes Sensorium habe und deshalb vielleicht ein klein wenig vermitteln kann. [...] Die Unwissenheit auf christlicher Seite über jüdisches Denken und Empfinden ist immer noch groß ...

BUCHTIPP Daheim in zwei Religionen. Mein Bekenntnis zu Christentum und Judentum. Von Ruth Steiner. Dom Verlag, Wien 2000. 80 Seiten, PB, öS 148,-/e 10,76

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