In einer engen Kerkerzelle

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Erinnerungen eines ehemaligen Wiener Sängerknaben an die schwere Zeit von 1938 bis 1945.

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Erinnerungen eines ehemaligen Wiener Sängerknaben an die schwere Zeit von 1938 bis 1945.

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Als achtjähriger Bub fahre ich - damals jede Woche an zwei Nachmittagen - mit der Straßenbahnlinie J vom Sängerknaben-Vorbereitungskurs in der Wiener Hofburg heim nach Erdberg. Da biegt der Zug plötzlich von der mir wohlvertrauten Ringstraße ab und schwenkt auf die parallel verlaufende "Zweierlinie" ein. Bestürzt steige ich schleunigst aus ("Umleitung" ist mir noch kein Begriff) und laufe auf den Ring zurück. Dort beginnt bald ein Gedränge, durch das ich mich verbissen weiterarbeite. Heim um jeden Preis - auf dem richtigen Weg! Gelegentlich hilft mir ein Erwachsener mit einer lauten Bemerkung: "Der Bub will halt den Führer sehen!"

So komme ich tatsächlich bis unter den Balkon des Hotels Imperial und werfe einen - sicher sehr unfreundlichen - Blick auf den Mann, der sich da oben der Menge zeigt und an meinem heutigen Verhängnis schuld ist (wie auch schon vorher, und besonders nachher, am unendlich größeren Unglück so vieler Millionen Menschen). Von hier zum Schwarzenbergplatz durchzukommen erweist sich aber als unmöglich. So muß ich, weiter in Unruhe, den Rückzug antreten und komme schließlich auf Umwegen, ich weiß nicht mehr wie, mit großer Verspätung zu Hause an, zur bereits recht besorgten Mutter zurück. Sie, die mir nicht nur das Beten, sondern auch einige Volkslieder aus ihrer tschechischen Heimat beigebracht hat, nickt still lächelnd, als ich ihr mein Abenteuer erzähle und meine Meinung dazu äußere.

Etwa ein Jahr darauf darf ich zum ersten Mal in meinem jungen Leben in einer öffentlichen Aufführung mit den Wiener Sängerknaben, in einem geistlichen Konzert mit den Wiener Philharmonikern sowie Solisten und Chor der Wiener Staatsoper mitwirken: Wir kleinen Kursteilnehmer (von den bereits aufgenommenen Sängerknaben respektlos "Kursler" genannt) singen in der Hofburgkapelle den Cantus firmus zum Eröffnungschor der "Matthäuspassion" von Johann Sebastian Bach, unter der Leitung von Professor Ferdinand Grossmann. Dieser Mann und dieses Werk haben mein weiteres Leben und meine Beziehung zur Musik ganz entscheidend geprägt.

Ebenfalls entscheidend für meinen Werdegang war zweifellos das Erlebnis Schweden. Mitten im immer härter werdenden Zweiten Weltkrieg als Wiener Sängerknabe auf zwei Konzertreisen in dieses neutrale, friedliche, vom Krieg verschonte Land zu kommen, war wie aus einer engen und dunklen Kerkerzelle in einen lichtdurchfluteten Schloßgarten zu treten. In diesem Garten hatten die Menschen Zugang zu jeder Art von Büchern und Musik - ob nun Mendelssohn, Tschaikowsky oder Glenn Miller -, und was für uns kriegswirtschaftlich versorgte Buben eben auch nicht unwichtig war: Es gab hier etwa zum Frühstück reichlich Vollmilch, Butter und Zucker; es gab auch feine Kleidung aus reiner Wolle - es gab überhaupt alles, wenn auch mengenmäßig etwas begrenzt durch Lebensmittelkarten und Bezugschein.

Heute kann ich auf lebenslange enge Freundschaften mit der erfreulich angewachsenen Familie meiner Pflegeeltern aus Stockholm zurückblicken. Daß für unsere ältere Tochter ein großer blonder Schwede der Mann ihres Herzens wurde und so unser viertes Enkelkind in Schweden zur Welt kam, ist sicher mehr als ein Zufall!

Singen und Schluchzen Mit der Jahreswende 1943/44 erreichte ich den Höhepunkt meiner Möglichkeiten als Sängerknabe: Ich gehörte nun zu den "Großen", und so wurden mir auch wichtigere Solorollen anvertraut, etwa in einer Schubertmesse in der Hofburgkapelle oder auch auf der Bühne, zum Beispiel in der Staatsoper in Verdis "Macbeth" oder als zweiter Knabe in der "Zauberflöte". Dabei wurde besonders uns Älteren immer deutlicher, was wir Buben doch eigentlich inmitten der täglich stets fühlbarer auftretenden mannigfaltigen Schwierigkeiten für Wien und unsere Heimat leisteten.

Doch nach den Sommerferien 1944 hieß es für mich den Abschied von meinem Sängerknabendasein zu bewältigen. Dabei - man spürte es von Tag zu Tag stärker - rückte die Kriegsfront unerbittlich an Wien heran, die Luftangriffe wurden immer häufiger und gefährlicher. Das Kriegsende erlebten meine jüngeren Sängerknaben-Kollegen in Osttirol und Kärnten, während mir noch knapp vorher der Einrückungsbefehl zum "Volkssturm" zugestellt worden war (der mir aber dank der Umsicht meiner Mutter erst im Keller zu Gesicht kam, als schon die Rote Armee unser Stadtviertel erreicht hatte).

Noch aber war es nicht so weit. Vielmehr war mir zuvor ein Erlebnis besonderer Art beschieden. Denn an einem Herbstnachmittag dieses Jahres 1944 begleitete ich meine Mutter auf einem ihrer häufigen Kirchgänge nach Maria-Grün, nahe der Donau-Auen des Wiener Praters. Meine Gedanken mochten wohl bei den Sängerknaben-Freunden in den wohlbekannten, doch ach so fernen Tiroler Bergen gewesen sein. Als wir nach dem Abendsegen, zu dem auch gesungen wurde, die kleine Kirche verließen, hörten wir sozusagen in die letzten Töne der Musik hinein da und dort vor dem Ausgang ein unterdrücktes Schluchzen. In einiger Entfernung stand - oder kniete anbetend - eine Gruppe von Menschen verschiedenen Alters, alle mit dem sattsam bekannten aufgenähten gelben Stern an der Brust. Viele weinten, weil es ihnen verwehrt war, so wie wir am Gottesdienst teilzunehmen - die Wache hatte es wohl geduldet, daß sie wenigstens vor den erleuchteten Kirchenfenstern standen. Man hatte sie vielleicht mit dem Schiff über die Donau von Ungarn heraufgebracht - späte Opfer eines Irrsinnsregimes, das nur auf ihre Vernichtung bedacht war.

Ich mußte an unsere Schwedenreisen denken und an das besetzte Dänemark, wo ich den König bei seinem täglichen Morgenritt in der Hauptstadt gesehen hatte, wobei die Kopenhagener an der Straßenseite stehen blieben und vor ihm respektvoll den Hut zogen. Von ihm hieß es, er habe bei Einführung des gelben Sterns sich selber einen solchen angeheftet, worauf fast die ganze Stadt seinem Beispiel gefolgt sei und so die Verfolgung schuldloser Menschen erheblich behindert habe. Hätten wir doch auch genügend aufrechte und mutige Menschen solcher Art gehabt! Mein erster Impuls war, auf die Unglücklichen zuzugehen und die Knieenden aufzurichten. Was dann geschehen wäre, weiß niemand. Ich weiß nur, daß keiner von uns Kirchgängern auch nur ein Wort zu sagen wagte. Jeder schwenkte auf seinen Heimweg ein, und ich habe mich nie ohnmächtiger, wütender und beschämter als damals gefühlt.

Nach Kriegsende wichen allmählich die dunklen Schatten. Aus allen Kollegen unserer Jahrgänge ist etwas geworden: Vom allbekannten Peter Weck (etwas jünger) oder Kurt Equiluz (etwas älter) bis zu all den Kollegen in den verschiedenen künstlerischen, akademischen und anderen Berufen. Viele sind, unabhängig vom Hauptberuf, Musikausübende geblieben, zum Beispiel als Chorsänger. Fast alle geben ihre enge Beziehung zur Musik weiter an Kinder und Enkel. Das gilt für die Kriegsjahrgänge, die es in vieler Hinsicht besonders schwer hatten, nicht weniger als für alle anderen.

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