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Der 24. Dezember des Kadetten Chranest

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Gegen Morgen waren wir am 24. Dezember 19H in Wien angekommen. Es schneite, und die paar Wiener im Regiment sahen durch den Flockenschleier wenig von unserer Vaterstadt. Unser Transport wurde umständlich auf der Verbindungsbahn um die Stadt herumgeleitet, bis er auf die Geleise der Staatsbahn kam, auf denen er dann ein schnelleres Tempo anschlug, und bald über die Donaubrücke rollte, so daß nach zehn Minuten nichts mehr von der Wienerstadt zu sehen war.

Mit Tarockieren, Schlafen, Trinken und Gähnen verging der Tag, und als die Weihnacht auf uns herniedersank, schnaubte der Zug bereits in den Karpaten durch einen fürchterlichen Schneesturm. Uns allen war nicht sehr fröhlich zumute, denn jetzt wußten wir's sie schickten uns in die Karpatenschlacht.

Wir Offiziere hatten einen uralten Waggon dritter Klasse, dessen separate Coupes zwei Türen besaßen, durch die es erbärmlich zog. Der winzige Schwarmofen in der Mitte glühte zwar, aber man hielt es nur in Pelze und Mäntel vergraben aus, während wir, eingesperrt wie in eine Zelle des Kriminals, durch die Monarchie wackelten, von deren südöstlichem Ende, der Herzegowina, wir vor Tagen losgefahren waren.

Die letzte Kerze war niedergebrannt, der Gedanke an Weihnachten verdüsterte uns schrecklich, so daß wir Coupegenossen uns schließlich ausstreckten und nicht schlafen konnten, bis einer vorschlug, wir sollten einander doch Weihnachtsgeschichten erzählen, damit die Zeit schneller verginge. Der Hauptmann Nawratil fing mit einer blödsinnigen Geschichte an, die er als Garnisonsinspektions-offizier in Pilsen erlebt haben wollte. Reservefähnrich Rosental schwadronierte ein seltsames Liebesabenteuer zusammen, der Kadett Chranest aber, der erst vor kurzem mit dem letzten Marschbataillon zum Regiment gekommen war, begann mit einer so eigentümlich glasklaren Stimme zu erzählen, daß wir von Anfang gepackt waren und aufpaßten.

„Ich hab' meinen Vater nicht gekannt“, begann er, „dehn er ist vor meiner Geburt gestorben. Meine Mutter war eine junge, sehr schöne Frau. Vielleicht wird sich noch einer von den Aelteren an die Soubrette Anni Grassel erinnern. Sie ist nach ihrem ersten Auftreten in Danzers Orpheum direkt an das Theater an der Wien engagiert worden. Dort blieb sie bis zu ihrer Heirat in Engagement. Nach dem Tod meines Vaters hat seine Familie, die sie nicht ausstehen konnte, ihr alles mögliche geboten, daß sie mich hergibt. Sie hat nicht wollen und ist mit mir, dem kleinen Pamperletschen, ins Engagement gefahren. Nach Reichenberg, nach Frankfurt am Main, nach München. Dort hat ihr ein amerikanischer Impresario einen großartigen Vertrag angeboten. Sie hat angenommen und mußte mich nun doch den Leuten meines Vaters überlassen. Ich war sechs Jahre alt, als sie mich meinem Großvater übergeben hat — in seinem Büro auf der Brandstätte, und ich hab' es dabei so getrieben, daß der Großvater ganz blaß geworden ist, als er mein verzweifeltes Gesicht angeschaut hat. Heut' noch hör' ich die Seidenjupons der Mama rauschen, wie sie zur Tür gegangen ist, sie aufgemacht hat... auf einmal war sie weg. Da erst hab' ich zu heulen angefangen, aber ihr könnt's euch einfach nicht vorstellen, was ein Kind in so einem Augenblick durchmacht. Ein Kind, das bisher nur gespielt hat und von Trennung, Abschied und so weiter überhaupt nichts geahnt hat. Ich hab' noch am selben Abend angefangen, dem Großvater davon zu reden, daß ich mir das Leben nehmen will... woher ich gewußt hab', daß man das überhaupt kann, ist mir heut' noch ein Rätsel. Der Großvater war ein Witwer und hat mich zu einer Tante gegeben, einer alten Jungfer, die meine Mutter von jeher nicht hat schmecken können.“

Der Kadett zündete sich eine Zigarette an und beim Schein des Zündhölzchens sahen wir erst, was für ein Knabengesicht er noch hatte. Dit Lokomotive begann zu pusten und zu stöhnen, es ging bergauf. Der Schneesturm heulte um das Coupe wie die armen Seelen im Fegefeuer.

„Ihr könnt's euch nicht denken“, erzählt er weiter, „was so eine bittere, alte Jungfer für einen Haß hegen kann. Von meinem siebenten Lebensjahr an hat sie mir eine grausige Geschichte nach der anderen über meine Mutter erzählt. Daß sie eine schlechte Person sei, hat sie gesagt. Ich hab' erst langsam begriffen, was sie damit gemeint hat, und war dann sehr früh aufgeklärt. Aber ich hab' meine Mutter immer lieber gehabt. In der dritten Volksschulklasse hab' ich im Lesebuch eine schöne Geschichte gefunden. Dort ist gestanden, wie in Neapel ein deutsches Ehepaar, das dort eine Buchhandlung hatte, an der Cholera gestorben ist und einen kleinen Buben zurückließ, der niemand hatte als einen Großvater in Berlin. Da hat der Hausherr von dem Ehepaar dem kleinen Buben eine Eisenbahnfahrkarte nach Berlin gekauft, ihm eine Tafel umgehängt, auf der deutsch und italienisch alles aufgeschrieben war und alle guten Menschen gebeten wurden, dem Kinde zu helfen. No, und ein Kondukteur hat dem anderen den Buben übergeben, der Finanzer an der Grenze dem Großvater nach Berlin telegraphiert, mit einem Wort: es war ein herrliches Lesestück.

Damals hab' ich schon gewußt, daß die Mama drüben in Amerika den Impresario geheiratet hatte und in Cairo, das ist eine Stadt in Illinois, lebte. Ich aber hab' es mir in den Kopf gesetzt, so viel zu sparen, bis ich das Geld für die Fahrt nach Hamburg beisammen hätt', mir so eine Tafel umzuhängen und in Hamburg auf einem Segelschiff, das nach Amerika fährt, Schiffsjunge zu werden. Ich hab' damals gerade den .Sigismund Rüstig' gelesen gehabt. Und ein Kind ist alles imstande.

So hab' ich mir wirklich von meinem Taschengeld alles zusammengespart. Zum Gabelfrühstück hab' ich zehn Heller mitbekommen täglich in die Schul', die hab' ich mir auch zurückgelegt. In der vierten Klasse aber hab' ich mir ausgerechnet, daß es zu lang dauern wird, bis ich fünfzig Gulden beisammen hätt', die ich, wie ich mir vorgestellt habe, brauchen würde. Da hab' ich denn angefangen, der Tante kleinweis Geld aus dem Portemonnaie zu nehmen, und wie ich elf Jahre alt war, waren die fünfzig Gulden beisammen. Ein Taferl hab' ich mir auch gemacht, hab' schön mit Rondschrift darauf geschrieben, daß ich eine Waise bin, die nach Amerika zur Mutter fährt. Ein Realschüler hat mir den englischen Text für einen Radiergummi und mein Federmesser aufgesetzt.

Und an einem Novembertae bin ich mit meiner Schultasche und allen Zeugnissen. lauter Einser waren darin, nur in Gesang ein Zweier, auf die Westbahn. Hab' mir eine Karte gekauft, die Tafel umgehängt und bin losgefahren. Pässe hat man ja nicht gebraucht, und richtig, wie's im Lesebuch gestanden ist, alle Kondukteure waren lieb zu mir. Die Mitreisenden haben oft geweint, wenn sie meine Tafel gelesen haben, die Frauen haben mir Geld und zu essen gegeben...“

Hauptmann Nawratil, der vier Kinder hatte, schneuzte sich geräuschvoll. „So bin ich endlich nach Hamburg gekommen“, die Stimme des Chranest klang wie die Stimme eines Rezitators, „aber wie ich aus dem großen Bahnhof herausgetreten bin und die fremde Tramway fahren sah, die Leute ein Deutsch reden, das ich kaum verstehen kann, hab' ich mich entsetzlich zu fürchten angefangen.

Durch irgendein Wunder bin ich nach St. Pauli gekommen. Das ist eine sehr komische Gegend mit Ringelspielen, Wirtshäusern, Schießbuden und unendlich vielen feinen Damen in Seidenkleidern. So einer bin ich in die Arme gelaufen, sie liest meine Tafel, fängt zu heulen an, noch ein paar Damen kommen, lesen auch und, |ieul,en auch, dann schleppen sie mich in ein Gasthaus, rufen den Wirt hinter dem Schanktisch hervor, und ich muß meine Geschichte erzählen. Na, ihr könnt's euch schon vorstellen, was das für Damen waren. Aber sie haben für mich ein Zimmer aufgenommen.

Am nächsten Tag hat der Budiker, der Wirt, gesagt, daß das mit dem Schiffsjungen ein Blödsinn sei, er werde mich in die .Weser' als blinden Passagier einschmuggeln. Das Schiff sei zwar ein alter Kasten, aber sein Kapitän habe ein weiches Herz.

Ich kann euch nicht beschreiben, wie elend mir in dem stockdunklen Gepäcksraum geworden ist, als das Schiff zu schaukeln begann. Sonst aber ist mir nichts geschehen. Alles ging, wie es der Budiker vorausgesagt hat, und der Kapitän Petersen, der älteste Kapitän des Norddeutschen Lloyd, war ebenso gerührt wie alle Leute.

Was war das für ein Aufsehen unter den Passagieren! Besonders unter den amerikanischen! In einer Viertelstunde hatten sie das Geld für eine Fahrkarte erster Klasse gesammelt und gaben es dem Kapitän. Ein amerikanischer Senator, der mitreiste, brachte dann bei der Landung in New York die Sache mit der Einwanderungsbehörde in Ordnung.

Als wir in NeV York landeten, habe ich das Ganze schon irgendwie selbstverständlich gefunden, die Wolkenkratzer haben mir viel weniger Eindruck gemacht als die ersten Automobile, die ich gesehen habe. Alles in mir hat jedoch vor Erwartung gezittert, seit ich' auf amerikanischem Boden gestanden bin. Mama, Mama! Der Senator ist mit mir dann in das Detektivinstitut Pinkerton gefahren, und ein Clerk hat den Auftrag bekommen, mit mir schleunigst nach Cairo zu fahren, daß ich am 25. Dezember, dem Christtag, an dem sie drüben erst das Weihnachtsfest feiern, bei meiner Mutter sei. Cairo ist verdammt weit weg von New York, und es war eine Fahrerei, die kein Ende nehmen wollte.

Spätabends kommen wir an. Der Clerk nimmt ein Taxi — in Cairo hat es schon drei Autotaxis gegeben — und bald stehen wir vor einem schönen, großen Haus in einem verschneiten Garten. Mein Stiefvater war längst nicht mehr Impresario, sondern Getreidemakler. Der Clerk läßt den Türklopfer fallen, ein würdevoller Butler öffnet. .Hallo', sagt der Clerk und zeigt auf mich, ,der Boy ist von Europa gekommen, Missis Wood ein fröhliches Weihnachtsfest zu bescheren. Good bye!' Und er ging.

Dtr Butler ließ mich etwas fassungslos eintreten. In meinem alten Winterrock sah ich nicht wie ein feines Kind aus. Er sagte ein paar Worte, die ich nicht verstand. Ich hab' die Tafel aufgehoben, und entgeistert hat er sie gelesen. Mit dem Taschentuch wischte er sich die Stirn, führte mich dann in einen Salon und ging durch eine gläserne Schiebetür in ein Zimmer, wo eine glänzende Gesellschaft beim Weihnachtsdinner saß. Ein Truthahn wurde eben feierlich tranchiert. Ich zitterte, als plötzlich eine Dame in einem ausgeschnittenen Kleid vor mir stand. Ich schaute auf, wirklich, es war die Mama. Mit weit aufgerissenen Augen hab' ich sie angestarrt, dann bin ich vor ihr ohnmächtig hingefallen.“

Wir alle atmeten tief auf und zogen kräftig an den Zigaretten, lauter kleine Punkte glühten im Coupe. Der Chranest schwieg eine Weile. „Ja, aber“, er hustete rauh, „ich blieb nur acht Tage zu Hause. Mein Stiefvater wurde auf mich eifersüchtig. Meine Mutter hatte ihm meine Existenz verschwiegen. Ich mußte nach Europa zurück, bin aber nicht mehr zur Tante gekommen, man hat mich ins Theresianum gegeben.“

Es wurde totenstill im Coupe. Das Heulen des Sturmes war in ein wildes, dämonisches Jammern übergegangen.

Der Chranest hat sich gleich im ersten Gefecht d:e Goldene geholt, ich bin bald nachher verwundet und dauernd kriegsdienstuntauglich geworden. Von ihm hab' ich nichts mehr gehört.

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