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Der Blick zurück

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Wieso bin ich mit einem Mal heiter, sogar fröhlich, und das eigentlich ohne jede Ursache — dachte Josef — , vielleicht ist es die Heiterkeit eines Sterbenden, die in mir wohnt, eines Menschen, der bereits mehr sieht, als er zuvor gesehen hat, und der das Neue bloß noch nicht erkennt, ja, das ist wohl möglich —, jetzt ist alles anders, denn während meines ganzen Lebens gab es bisher kaum etwas außer Mühsal und Beschwerlichkeit, und auch jenes Nichtver-stehen tief drinnen in mir, dieses tiefe, Hoffnungslosigkeit bringende Nichtverstehen, das so unendlich traurig stimmt.

Ist das nun die Heiterkeit eines Sterbenden? Eines Menschen, der plötzlich ahnt, daß nichts vergebens getan war, daß die Trauer während der vergangenen Jahre falsch war und unnütz, denn, überdenke ich jetzt mein Leben, so meine ich — und vor kurzem noch ist das anders gewesen — , daß ich bloß glücklich war, während ich meinen Träumen folgte.

Wie jung ich gewesen bin, als ich während des Schlafes zum ersten Mal eine Antwort erhielt — sie bekommt ein Kind, aber sei gut zu ihr und nimm sie zu dir, denn auf besondere Weise ist das, was da wächst, auch dein Kind, denn ins Lebens gesetzt hat dieses kleine Wesen in ihr nämlich der Herr, der Gott deiner Väter und dein Gott — eine Haaresbreite mehr von diesem Gerede und ich hätte meinen Verstand verloren.

Wen soll ich töten, habe ich mich damals gefragt, sie und das Kind in ihr oder mich oder alle drei — dann blickte ich ihr in die Augen und wußte, daß das Ganze während der Nacht ein Wahrtraum war und Wirklichkeit, aber ich war von dieser Zeit an traurig. Wer soll so etwas verstehen: einzig meine Arbeit hat mich manchmal vergessen lassen, das Planen und Zimmern der Türen und Tore, der Dächer, der Möbel und Gerätschaften; aber nicht genug: kaum war das Kind da, ging's ja weiter.

Geh rasch - hat mir während der Nacht und im Schlaf ein Himmelsbote gesagt, und so Gott will, war es einer —, denn das Kind ist in Gefahr, geh nach Ägypten -ausgerechnet ins Land dieser Verrückten schickt mich der und zu den Leuten, die meinen, daß Gott, der Herr, zu bezaubern, zu besprechen sei, Zauberer sind die und unrein, naja, jedenfalls habe ich dort gearbeitet wie ein Sklave, bloß um neben dem Notwendigsten das Geld zur Heimreise zu verdienen; Räuber waren diese Karawanenführer und nicht Kaufleute.

Zurückgekehrt in dieses galüäi-sche Nest, haben die Leute bereits zu reden begonnen über uns, und wenn die alten Weiber die Köpfe zusammensteckten, konnte ich nicht einmal etwas erwidern — die Männer haben sich da eigentlich eher zurückgehalten. Ja, dann kamen die Jahre bis er dreißig wurde; heiter war ich nie während dieser Zeit, aber ich war damals wenigstens nicht so ratlos und habe mich nicht so schämen müssen wie in den Jahren danach. So war es.

Er hängte damals seinen Beruf an den Nagel und begann zu predigen, und sie ist mit ihm gegangen, naja manchmal habe ich das schon abstellen können, habe sie zurückgeholt und ihr befohlen, zu bleiben, aber wer kann schon ein zweites und drittes Mal ganz Ju-däa ablaufen, um sie zu suchen, ich hatte doch meine Arbeit.

So war sie einige Monate bei mir und ist dann doch wieder zu ihm, gut, sie weiß mehr als ich und erklären kann man das Ganze auch wieder nicht, das verstehe ich schon, aber zu Hause immer das Gerede über ihn, und diese sonderbaren Freunde, mit welchen er umherzog, und die Frauen, die dabei waren, das war das Ärgste, in kein Gasthaus konnte ich damals gehen, ohne von irgendeinem Idioten einen dummen Witz zu hören, und schließlich haben sie ihm in Jerusalem und zu Ostern umgebracht.

Ich habe geweint und nicht gewußt, warum ich das tu, aber irgendwie war er doch immer auch mein Kind.

Die Jahre danach waren jedenfalls ganz trostlos, sie ist mit einem seiner Freunde übers Meer zu den Griechen gefahren, ich war wieder allein und die Meinungen über ihn gingen hin und her: Er lebt und er ist tot, aber er lebt, er war tot, aber er stand auf und ging weg, ging einfach hinaus aus dem Grab und erschien hier und dort — bitte, die eine Hälfte seiner Freunde glaubte das und die andere Hälfte nicht. Und ich? Mein Gott, ich war doch bereits so weit, daß ich sagte: Warum nicht? Und das ist, was ich auch jetzt wieder sage, und plötzlich bin ich heiter und gelassen — die Heiterkeit eines Sterbenden ist das? O Gott meiner Väter, werde ich ihn zur Rechten deiner Macht auf den Wolken des Himmels kommen sehen?

Ja, mein Herr, ich danke dir, denn meine Traurigkeit ist zu einem sanften Ende gekommen, mein Tun ist zu einem Ende gekommen, alles ist zu einem Ende gekommen und nichts mehr ist wichtig in dieser Welt; zu sein genügt plötzlich und alles fliegt vorbei, die Dinge dieser Erde haben ihre Bedeutung verloren und Bindungen lockern sich, werden leichter, luftiger. — Komm, die Liebe zählt und sonst nichts, komm, blick nicht zurück.

Du sollst mich lieben wie dich selbst, hat der Herr und Gott meiner Väter gesagt, er aber sagte, wer mich nicht mehr liebt als Vater und Mutter, kann nicht mein Freund sein. Vieles hat er uns gesagt aber wer kann das schon in dieser Welt verstehen, was er da alles während seiner Wanderjahre sprach. Ja, alles wird jetzt wol-kenhaft, leichter, segelt vorbei und weiter, wie es die Wolken tun vor dem blauen, offenen Himmel.

Der letzte Roman des Autors „Schnee im November” (Verlag Styria, Graz) ist in diesen Tagen in der zweiten Auflage erschienen.

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