6575299-1950_40_15.jpg
Digital In Arbeit

Da Iiat die NValirsaserin reclit

Werbung
Werbung
Werbung

Das ist das größte Geheimnis und für uns das entscheidenste, das menschliche Leben. Ich meine, wie so ein Mensch ins Dasein tritt in der Kette seiner Ahnen, beschenkt und belastet mit einem komplizierten und fragwürdigen Erbe, wie er heranwächst, sich in eine Richtung hin entwickelt, selber ungewiß, getrieben und doch jeder Schritt voll Entscheidung, wie er ein Ziel sieht und auf es hinstrebt, einen Beruf, einen Besitz, ein Weib. Wie er es eine Weile lang hat oder zu haben scheint, wie er plötzlich aus seiner Aktivität gerissen wird, durch Schuld, Krankheit, Unglück, wie er gerüttelt und geschüttelt, wie er getrieben und zerbrochen wird, sich noch einmal erfängt und zum Schnaufen kommt, aber aus der Passivität nicht mehr herauskommt. Und wie ihn schließlich der Tod leichter oder schwerer hinwegfegt. Immer verläuft es tragisch, meistens gibt es einen ganz klaren Punkt, wo man von jedem Leben sagen kann: hic incipit tragoedia.

Es gibt ein Schema mit einigen Variationen, das so ziemlich auf jedes Menschenleben paßt. Klar wird einem das, wenn man sie von hinten, vom Ende her, überblickt. Es müßte reife Menschen geben, die den andern mehr darüber sagen könnten, die selber zur Weisheit gekommen sind und die Kraft haben, andern das Schicksal aufzuschließen. Philosophen könnten es sein, die sich nicht in abstrakten Spekulationen verlieren, sondern den einzelnen Menschen ebenso wie die Weisheit lieben, Einsiedler und Mönche, die In der Religion, das heißt in Gott leben und daraus hohe Einsichten und Kräfte gewinnen, schließlich auch Priester, denen es gelingt, ihre eigene Armseligkeit zu überwinden und die Menschen zur Transzendenz zu führen. Und vielleicht noch die Wahrsager oder Wahrsagerinnen, die sich ständig mit dem menschlichen Schicksal befassen und die einen größeren Einfluß haben, als wir wissen. Mich interessiert dabei nicht, was sie an hellseherischer Kraft auf die Zukunft hin haben. Zweifellos tut sich den Begabteren mancher Blick auf, der einen erschauern läßt, aber sie sehen auch nur brauende Nebel, im besten Fall einige Ansätze, aber nicht das Exakte, Eindeutige, das ihre Klienten haben wollen. Die Komponente der menschlichen Freiheit, die Möglichkeit, immer anders zu handeln, stört ihre Berechnungen, wenngleich der Mensch leider so wenig Gebrauch von seiner Freiheit macht.

Ich kenne so eine Wahrsagerin. Ich rede öfter mit ihr und will aus ihr herausbringen, wie sie das menschliche Schicksal sieht, zu welchen Folgerungen sie gekommen ist bei der unerhörten Fülle von Menschen, die sich ihr aufgeschlossen haben. Aber sie schweift immer ins einzelne ab und um das geht es mir nicht, übrigens ist sie böse, wenn ich sie Wahrsagerin nenne. Sie sei Graphologin, erklärt sie, und betreibe ihr Fach wissenschaftlich. Es ist wahr, sie muß für Firmen bei Stellenbewertungen graphologische Gutachten über die handschriftlichen Gesuche abgeben. Aber daneben betreibt sie ihre Kunst auch anders. Sie kann handlesen, kartenaufschlagen, Tischerl befragen und alles mögliche andere. Aber darauf halte ich nichts. Sie hat einen sibyllenhaften Blick. Ich habe gesehen, wie sie zuerst meditierend und Konzentration suchend dasitzt und dann mit einem grauen Blick die Menschen streng ansieht. Da faßt sie die Physiognomie des Gegenübers auf und sieht ihm auf Herz und Nieren. Es ist ein Radarblick, wenn der Ausdruck erlaubt ist. Uralte Beichtväter, die jahrzehntelang in den Klosterkirchen beichtgehört haben, mögen eine ähnliche Hellsichtigkeit für Herz und Schicksal des andern haben. Doch auch ihr Mund ist, aus einem andern Grunde, verschlossen. Ich weiß nicht, ob sie meine Fragen versteht. Oder kann sie nichts darüber sagen?

Neulich hat sie mir einen Menschen, einen ihrer Klienten, geschickt. Sollte das eine Antwort sein? Ein Mann zwischen vierzig und fünfzig, mit guter Haltung und Manieren, trat herein. Er begrüßte mich, und ich hieß ihn sich setzen.

„Seit einiger Zeit geht mir alles schief“, begann er, „weniger im Geschäftlichen, das läuft wie aus Ironie seinen unveränderten Gang, als im Persönlichen. Meine Frau ist nicht ganz gesund, und so habe ich mir immer eine junge Sekretärin gehalten. Meine Frau hat es gewußt, aber es wurde nicht darüber geredet. Ich habe zwei erwachsene Kinder, einen Sohn, der im Geschäft mitarbeitet, und eine Tochter, die studiert. Ich liebe beide sehr und würde alles für sie geben. Nun bin ich der Tochter drauf-gekommen, daß sie ein Verhältnis' mit einem geschiedenen Musiker hat, der nichts zu beißen hat. Als ich sie zur Rede stellte, war sie so starrköpfig, daß ich nichts ausrichtete. Sie liebe ihn und keine Macht der Welt könne sie von ihm trennen. Als ich streng wurde, spielte sie auf meine Sache mit der Sekretärin an. Das traf mich, weil ich geglaubt hatte, die Kinder wüßten nichts davon. Ich sagte, sie sei noch zu jung, um das zu verstehen, worauf sie antwortete, so alt sei sie schon, um das zu wissen, daß das nicht recht sei. Gleich darauf begann sie zu weinen und bat mich, ihr zu verzeihen, aber ihr den Geliebten zu lassen. Sie können sich denken, daß ein starker Stachel in meinem Herzen zurückblieb. Ich hänge an dem Kind und nun soll ich es so verlieren. Nach dem Gesetz der Serie blieb es nicht dabei. Eines Tages eröffnete mir mein Teilhaber, daß mein Sohn sich einige Unregelmäßigkeiten habe zuschulden kommen lassen. Ich ließ ihn beobachten und kam darauf, daß er ein großer Lebemann ist und bei Geschäftsreisen im Auto immer ein anderes Mädchen mit hat. Ich ließ mich nicht auf moralische Debatten mit ihm ein, sondern redete rein geschäftlich mit ihm. Er leugnete alles, man habe ihn verleumdet, er habe sich nur Geld ausgeborgt und werde es zurückgeben. Ich ließ ihn stehen in der Hoffnung, daß er sich danach richten werde. Später hörte ich einmal zufällig, wie alle drei, die Frau mit den beiden Kindern, über mich sprachen und wie er sagte: .Unser guter Alter beginnt, moralisch zu werden.“

Darauf ging ich mit Schriftproben von der ganzen Familie zur Frau Hulda und ließ mich von ihr beraten. Sie sagte, bei meinem Sohne stehe es schlimm, er laufe Dingen entgegen, oder besser, sie laufen auf ihn zu, die nicht gut seien. Ich fragte: .Unfall oder so etwas Ähnliches?' Er fährt nämlich wie ein Narrl Sie zuckte mit den Schultern. Von der Tochter sagte sie, sie sei ein armes Mädchen und man müßte ihr helfen, und von mir sagte sie, neue Entscheidungen bahnen sich an. Ich möge ihr mein Notizbuch oder etwas Ähnliches zeigen. Ich gab ihr meinen Kalender, sie studierte die Schrift, dann sagte sie: ,Da bin ich nicht mehr zuständig', und gab mir Ihre Adresse. Am besten ist es, sagte sie bei der Tür, Sie machen gleich eine Generalbeichte. Jeden Tag nach dem Geschäft wenigstens eine halbe Stunde in den Wald gehen und hernach in die Kirche setzen. ,Was tun?' fragte ich sie. ,Nur still sitzen, das andere kommt von selber.'

.Wenn ich es nicht mache?' fragte ich sie unter der Tür.

.Dann werden sie den Strick, eine Kugel oder das Wasser brauchen, wenn Sie eine radikale Lösung wollen. Sonst auf den ersten Schlag warten. Sie wissen, das Herz ist ihr weicher Punkt und es wäre dem Kommenden nicht gewachsen. Es ist eine schlechte Zeit für Sie. Sie brauchen nicht mehr zu kommen.' “

Unsere Alte ist nicht dumm, ich habe mich oft davon überzeugt. Am Anfang habe ich den Mann öfter zu mir kommen lassen. Er wollte lebhaft wissen, welche neue Möglichkeiten die Alte für ihn in der Schrift entdeckt hatte. Drauf gab ich ihm die Bibel und sagte: „Sie glauben an die Schrift. Hier ist die H e i 1 i g e Schrift. Sie werden alles darin finden, eine ganz persönliche Lösung für ihre Probleme.“ Auf dem Spaziergang im Wald liest er jetzt darin und auch hernach, wenn er in der Kirche sitzt, daß ihm die Zeit vergeht. Neulich kam er zu mir und war über einen Satz bestürzt. Es stand dort von einem König geschrieben: Mit sechzehn Jahren begann er Gott zu suchen.

„Ich bin bald fünfzig Jahre alt und habe es nicht getan“, sagte er.

„Ich glaube, jetzt ist gerade die rechte Zeit für Sie.“

„Glauben Sie, daß ich es kann, daß ich die Kraft habe?“

„Das ist die neue und letzte Möglichkeit“, antwortete ich.

Nun wird er bald zur Generalbeichte kommen. Ich habe nur Sorge, daß er sich hält.

Wenn die Alte das gemeint hat, dann hat sie recht. Das Letzte im Schicksal des Menschen ist, daß er auf Gott trifft, daß er ihn zu suchen beginnt. Das ist der einzige Ausweg aus der Tragödie, das ist eine echte Lösung aller Fragen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung