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HERR BALLA IST FÜNFZIG

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leli war zwanzig Jahre Hauptbuchhalter bei der Seiden-Aktien- gesellschaft. Wenn man in Fachkreisen nach dem Namen Balla von der Seiden-AG fragt, werden sich sowohl die großen Herren als auch die kleinen Leute an mich erinnern. Ich selbst erinnere mich. Im Winter trug ich einen mit schwarzem Pelz gefütterten Wintermantel, mein Gesicht war glatt, weil am Morgen der Barbier zu mir gekommen war, mein Hemd war angenehm sauber, meine Krawatte solide mit einem schönen Muster, an einem meiner Finger glänzte ein dicker Goldring und über meinem Herzen wölbte sich eine Brieftasche, in der stets mehrere Hundertpengöscheine lagen, denn ohne Geld habe ich mich nie wohlgefühlt. Ich sehe die großen, weißgesichtigen Bücher mit den blaßroten Linien vor mir; ich sehe die Spitze meiner Feder, wie sie mit dünnen und dicken Strichen die Posten der Bilanz zeichnet Ich sehe, wie mir der Generaldirektor auf die Schulter klopft und sagt: „Na, mein Sohn, stelle einen Scheck über tausend aus.“ Das war das Bilanzgeld. Dazu kam noch die Weihnachtsgratifikation und der Chef pflegte auch das Geld für meinen Sommerurlaub anzuweisen. Es war, als ob mein damaliges Leben in einem weichgepolsterten Auto sanft dahingleiten würde, dessen ausgezeichnete Federn mich gegen jedwede Erschütterungen schützten. Als letzte Erinnerung blieben viele mich grüßende Menschen.

Und heute? Mein Rücken schmerzt ein wenig, wenn ich mich so aufrecht halten will wie einst. Vielleicht kommt diese Schwäche von der schlechten Ernährung. Aber am verblüffendsten ist die Veränderung, die mit meinem Mund vor sich geht. Früher war er ein schweigsames Werkzeug. Man nannte mich auch „Balla mit dem verschlossenen Mund“. Jetzt ist er vor Not und Kummer aufgerissen und es bereitet mir Freude, wenn ich jemanden auf der Straße erwische, der mir zuhört. Auch meine Worte sind neu. Anfangs meinte ich noch voller Zuversicht: „Wer zwanzig Jahre Hauptbuchhalter bei der Seidęn- Aktiengesellschaft war, kann nicht verloren gehen“ Jeder hat es geglaubt und versichert, noch nichts sei verloren Zwei- oder dreimal bin ich den gleichen Leuten begegnet Aber nach einer Weile grüßten sie gerade knapp und bedeuteten mir stumm, sie hätten es eilig, hätten viel zu tun Während ich sprach, hatte ich das Gefühl, sie hören nur deshalb zu, weil sie mir am Ende auf die Schulter klopfen und zu Hause ihrer dicken Frau berichten können, was aus mir geworden ist

Von meiner Familie will ich gar nicht reden. Sie lebte sorglos und glänzend. Ich liebte dieses Leben ohne Klagen um mich herum. Mein Sohn und meine Tochter hatten immer teure Kleider. Jetzt ist diese Familie wie erstarrt. Sie gleicht einem Schiffbrüchigen, der zusieht, wie sein Vorrat von Tag zu ~ mehr und mehr schwindet. Zu viert leben wir von der Abfindung, und die anfangs große Stimme schmilzt rapid zusammen. Zu Mittag straffe ich mich immer ein wenig und spiele vor meiner Familie den Helden. Am schlimmsten ist, daß sie sich an das kleinste Versprechen, das ich vor ihnen verlauten lasse, erinnern und daran klammern.

Neulich hat mich ein Vertreter, der mir kaum noch einen Gruß zunickte, wenn er mich sah. von der gegenüberliegenden Straßenseite zu sich gewinkt. Bescheiden und erwartungsvoll stand ich vor ihm.

„Hören Sie zu, Herr Balla, ich gebe Ihnen die Adresse, gehen Sie abends nach sechs hin. Vielleicht klappt es.“

In meiner Hand ist die Adresse. Hundertmal habe ich sie gelesen, bis ich nach Hause kam. Nach sechs Uhr abends wird mich ein Generaldirektor empfangen. Der Vertreter sprach mir Mut zu, ich soll zu ihm gehen, soll ihm sagen, wer ich bin, was ich kann und wo ich gearbeitet habe.

Eine merkwürdige Hoffnung ergriff mich. Das war die hundertfünfzigste Aussicht auf eine Stellung, doch diesmal hatte • ich eine bestimmte Ahnung Die Firma war alt, der Generaldirektor war ein alter Mann im Fach und hat auch mit uns manches Geschäft abgeschlossen Ich habe mich am Nachmittag hjngelegt, damit ich um sechs Uhr ausgeruht sei. Im Halbschlaf sah ich, wie meine Familie zusammen und dann jeder einzeln, den Zettel mit der Adresse in die Hand nahm und wie die ganze Familie - es mutet vielleicht lächerlich an — zu beten anfing.

Tag

Sie haben mich alle bis zur Haustür begleitet. Meine Tochter hat mich sogar zweimal geküßt.

Dann stand ich vor dem Chef. Ein grauhaariger Mann mit Brille von etwa fünfundfünfzig oder sechzig -Jahren. Auch das berechtigte zur Hoffnung. Zwei ältere Männer verstehen sich besser. Es ging auch alles tadellos. Er stellte Fragen, und ich trug — nicht mit meiner zur Gewohnheit gewordenen flehenden Stimme, sondern mit der Stimme des früheren Balla — vor, was ich kann. Gleich bei den ersten Worten spürte ich, daß ihm all das, was ich vorbringe, gefällt. Ich setzte mich auch und wir vertieften uns in ein Fachgespräch. Er erwähnte einige Beispiele, die ihm in seiner Buchhaltung aufgefallen waren Mein Kopf arbeitete gut und meine Antwort beruhigte ihn. Die Sache näherte sich beinahe meinem Gehalt und ich hatte das Empfinden, daß ich höhere Ansprüche stellen müsse als bisher, wie ein Mensch, der für einen Lohn unter seinem Wert nicht arbeitet Es hatte den Anschein, daß es hier keine Rolle spielt, ob man einen Hunderter mehr oder weniger zahlt. In einem Winkel meines Hirns sagte ich bereits zu meiner Frau: „Sechshundert monatlich und das Bilanzgeld"

Die Hand des Generaldirektors lag auf der Zigarrenkiste. Er hob den Deckel der braunen Schachtel hoch, um mir eine Zigarre anzubieten und die Freude umfing mich immer stärker. Jetzt werden wir bald eingehender zu sprechen beginnen, Erinnerungen austauschen; es wird sich herausstellen, wie viele gemeinsame Bekannte wir haben, wir werden uns anfreunden, dann wird er der Stenotypistin klingeln und den Aufnahmebrief diktieren.

„Nur das sagen Sie mir noch, bitte, Herr Balla“, er hob den Kopf und wandte sich zu mir, „wie alt sind Sie?“

„Fünfzig“, antwortete ich und sah immer nur die Zigarre an, die ich mir bald anstecken werde.

Da ließ er den Deckel der Zigarrenkiste los. Er klappte zu und der Generaldirektor zog sich eine Spur von mir zurück.

„Leider Dabei hätten Sie in allem entsprochen Doch in diesem Fall kann ich Sie nicht brauchen.“

Ich blickte ihn an. Seine Augen schauten bereits in eine andere Richtung, als ob es ihm um die mit mir verbrachte Zeit leid täte. Das ist eine Gewohnheit bei Geschäftsleuten Als ob sie schon die nächste Angelegenheit in Anspruch nähme.

Lind gerade heute hatte ich absolut nicht das Gefühl, daß ich fünfzig bin. Ich könnte in zwei Tagen der Balla sein, der die Arbeit frißt, Ordnung schafft, der sich zwischen den Schreibtischen umschauen kann. Ich bin fünfzig — und Wut packte mich — das ist doch kein Alter!

„Entschuldigen Sie“, sagte ich, „wie alt sind Sie?“ „Achtundfünfzig.“

„Und dürfte vielleicht jemand von Ihnen behaupten, daß Sie schon zu nichts mehr nutze seien? Nehmen wir denn etwa nicht mit jedem Jungen den Wettbewerb auf? Was sind fünfzig Jahre? Machen Sie den Versuch, stellen Sie mich und einen jungen Buchhalter an. Bitte!“

Ich habe noch viel und in immer flehentlicheren Tönen geredet. Deine jammernde Stimme — dachte ich — und merkte, daß ich mich bereits für hundertfünfzig Pengö anbot, daß ich mich beinahe als Diener anbot Erst als ich wieder draußen stand, kam es mir zum Bewußtsein, warum er mich langsam mit schwankenden Bewegungen zur Tür schob. Ich war für ihn ein Schreckgespenst, ein Mann von fünfzig, und er bereits um acht Jahre älter Es war seine Pflicht, mich fortzuschicken, weil ich fünfzig War, doch er konnte die Vorstellung nicht los werden, was wäre, wenn er vor jemandem stehen würde, der ihn fragte: Wer sind Sie?, und wenn schon alles in Ordnung wäre, man ihn fragen würde: Und wie alt sind Sie? Zitternd müßte er eingestehen: Sechzig oder fünfundsechzig.

Meine Hand lag schon auf der Klinke, als er mich für einen Augenblick zurückhielt.

„Einen Moment, Herr Balla", er griff in die Zigarrenkiste. Nicht eine bot er mir an, sondern mehr — sechs Stück, damit ich etwas zum Rauchen habe. Er schenkte mir sechs Zigarren für mein verbleibendes Leben.

Wenn er mich einstellen würde, bekäme ich nur eine, denn übermorgen hätte ich wieder Kredit, Leben, Hoffnung und könnte mir Zigarren, Kleider, Brot, Schmalz und Glück kaufen. Aber so: sechs Zigarren habe ich in der Tasche und trotte nach Hause.

Warum mußte ich jenen Vertreter auf der Straße treffen! Bisher habe ich mich nur herumgetrieben und gehofft. Ich habe nicht daran gedacht, daß mein Name: Fünfzig! Ein Mann von fünfzig, nicht fünfundzwanzig, dreißig oder vierzig. Ein Fünfziger, ein alter Mann, vor dem man die Tore des Lebens versperrt.

Es war ganz komisch, als ich nach Hause kam. Am Haustor befindet sich eine Tafel mit der Aufschrift:

„Hausieren und Betteln verboten!“

„Dienstmädchen und Boten den Hinteraufgang benutzen!"

Für Fünfzigjährige, zum Tode Verurteilte ist hier kein Aufgang — las deutlich in mir eine Stimme, so daß ich dem Befehl willfuhr.

Ich lenke meine Schritte zur Hintertreppe. Schwarze Katzen springen vor mir auseinander. Ich gehe langsam. Mein Herz verträgt das Treppensteigen schlecht. Ich bin fünfzig Jahre alt.

Übersetzt von Tilda Alpdri

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