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Nie üker\4rliebte die Nase rümpfen!

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Es war damals kein Vergnügen, in Spanien zu reisen; der Tagesschnellzug von Barcelona nach Madrid verkehrte nur dreimal wöchentlich und hielt auf jeder Station. Obwohl ich nicht versäumt hatte, mir durch ein reichliches Geldgeschenk einen Sitzplatz zu sichern, war ich doch rechtzeitig an der Bahn für den Fall, daß ein Rivale einen höheren Preis gezahlt hätte.

Als erste kamen irgendwelche Eheleute mittlerer Jahre, wie man sie in jedem Zug der Welt trifft, in mein Abteil. Der Mann brauchte lange Zeit, um das Gepäck im Netz zu verstauen, und dann gingen beide hinaus, stierten verschlafen auf den Bahnsteig und versperrten den Einsteigenden den Weg.

Sodann stieg ein junger Mann und ein junges Mädchen zu. Ich wunderte mich, wie sich ein so bezauberndes Geschöpf in einen so kleinen, Plumpen Jungen Mann„. yerjjeb^,!kpj}nte, ^Sjß. saßen Hand in Hand und starrten sich mit jenem schmelzende*Blick imdi AugejWdef auf, Mkht-T beteiligte so aufreizend wirkt.

Fünf Minuten, ehe der Zug abfahren sollte, kam eine alte Dame und nahm den letzten freien Platz mir gegenüber ein.

Überraschenderweise fuhr der Zug pünktlich um acht Uhr ab. Da es nun nicht mehr möglich war, den Einsteigenden den Weg zu versperren, kam das Ehepaar ins Abteil zurück und setzte sich. Aber sie hielten sich nicht bei der Hand und flüsterten nicht miteinander.

Zum Mittagessen ging ich in den Speisewagen. An meinem Tisch saß die alte Dame. Ich tat, als ob ich sie nicht kenne, denn ich wußte aus Erfahrung, wie gesprächig alte Damen im Zug sein können. Ich goß gerade Wein in mein Glas, als der Zug heftig schlingerte, und ein roter Strahl floß über das Tischtuch auf die Seite der alten Dame.

„Verzeihen Sie, Senora“, sagte ich auf spanisch und ärgerte und schämte mich zugleich.

„Es ist nicht Ihre Schuld“, erwiderte die alte Dame in unerwartet gutem Englisch.

„Ich muß meine Meinung über Sie ändern“, sagte die alte Dame. „Als ich Sie zuerst sah und bemerkte, wie Sie über die Liebesleute in unserem Abteil die Nase rümpften, hielt ich Sie für hartherzig und eingebildet. Doch jetzt möchte ich annehmen, daß Sie nur eifersüchtig sind. Über Verliebte soll man niernals etwas Schlechtes denken, vor allem nicht auf Reisen.“ „Warum vor allem nicht auf Reisen?“

„Warum soll ich es Ihnen nicht erzählen?“ sagte die alte Dame nach einiger Überlegung. „Ein Reisender im Zug, den man nie wiedersehen wird, ist wie ein Priester im Beichtstuhl: man kümmert sich nicht darum, was er hinterher über einen denkt.“

„Das klingt sehr geheimisvoll“, sagte ich.

„Das einzige Geheimnis daran ist das Geheimnis der Natur, die geduldig ein hübsches junges Mädchen in eine alte häßliche Frau verwandelt. Vor fünfzig Jahren war auch ich jung und schön und scheinbar unzerstörbar wie das Mädchen in unserem Abteil.

Ich war auf einer Reise mit meinen Eltern und meinem Bräutigam, meinem Novio, wie wir in Spanien sagen. Damals wurden in Spanien die Heiraten der jungen Leute zwischen ihren Elterr vereinbart, und in den meisten Fullen war es gat nicht einmal ein schlechtes System.“

„Man muß sich über irgend etwas unterhalb können, wenn Windstille eintritt“, sagte ich „dann braucht man gemeinsame Interessen.“

„Aber auch die Zeiten der Liebe sind wichtig. Die Verlobungszeit gilt in Spanien als Windstille der Liebe oder als Ruhe vor dem Sturm. Doch wenn ich meinen Novio anguckte, fürchtete ich, daß der Sturm wohl nie losbrechen würde.“

„Wenigstens hätten Sie Hand in Hand sitzen können“, wagte ich zu sagen.

„Zur Zeit der Königin Maria Christina war es Brautleuten nicht erlaubt, Hand in Hand zu sitzen. Wenn man sie ertappte, war es aus mit der Verlobung. Und was schlimmer war, ich hatte gar keine Lust, mit meinem Novio Hand in Hand zu sitzen. Gar zu gern wäre ich aber mit dem jungen Engländer in unserem Abteil Hand in Hand gesessen. Nie in meinem Leben hatte ich einen so schönen jungen Mann gesehen. Und es dauerte nicht lange, da merkte ich, daß auch der junge Engländer mit mir gern -fand in Hand gesessen hätte. Als ich sah, daß ille anderen im Abteil schliefen, lächelte ich hn an. Langsam näherten sich unsere Hände, )is sie sich trafen. In diesem Augenblick schlug iein Novio die Augen auf.

Ich glaube, ich zog meine Hand zurück, bevor it etwas merken konnte, aber der junge Engländer war zu beschäftigt, mir in die Augen zu sehen.

.Ist Ihnen sehr heiß?' versuchte ich in fehlerhaftem Spanisch zu fragen, aber sein Spanisch war noch fehlerhafter, als es hätte sein dürfen, denn seine Frage bedeutete, ob ich sehr leidenschaftlich sei. Und mein Novio hatte es gehört! Er weckte meine Eltern und erzählte ihnen, der Engländer habe mich beleidigt!

Ich allein fand schließlich heraus, daß die Frage des Engländers die einzigen spanischen Worte waren, die er kannte; er hatte sie von einem Spaßvogel in Barcelona gelernt, deT ihm weisgemacht hatte, sie seien die beste Gesprächseinleitung bei jungen Damen, wenn es sehr heiß wäre. Meine Eltern und die Geschäftsleute nahmen diese Erklärung bereitwilligst an, aber mein Novio war nicht so leicht zu überzeugen.

Als wir dem jungen Engländer den Unterschied zwischen den beiden Ausdrücken erklärt hatten, schliefen meine Eltern, die Geschäftsleute und mein Novio wieder ein. Aber der junge Engländer und ich schliefen natürlich nicht.

Da öffnete mein Novio plötzlich wieder die Augen. Ich weiß nicht, ob er den traurigen Ausdruck meines Gesichts sah, aber er muß sich sicherlich gedacht haben, daß mir die Hitze sehr zusetzte. ,Tiene usted calor?' fragte er, was natürlich in diesem Fall vollkommen richtig war. Doch der Engländer stürzte sich sofort auf ihn. Ich war so überrascht, daß es einige Zeit dauerte, bevor ich das Mißverständnis begriff. Mein Novio war kein sehr guter Kämpfer. Binnen kurzem hatte ihn der Engländer windelweich geschlagen.“

„Und Sie?“ fragte ich, „versuchten Sie nicht, den Engländer daran zu hindern, Ihren Bräutigam zu schlagen?“

Die alte Dame schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, ich war damals ein sehr unartiges Mädchen. Nun, diesmal waren meine Erklärungen noch schwieriger. Meine Eltern und die anderen Mitreisenden wollten den Schaffner rufen und den jungen Mann auf der nächsten Station verhaften lassen. Wieder kam mir der rettende

Einfall. Trotz unserer Erklärungen, sagte ich, müsse der Engländer die Ausdrücke verwechselt und gedacht haben, mein Novio habe mich beleidigt, als er mich fragte, ob ich unter Hitze litte.“

„Und hatte er die Ausdrücke wirklich verwechselt?“ fragte ich.

„Diese Frage habe ich mir oft selbst gestellt“, erwiderte die alte Dame mit Augenzwinkern. „Ich weiß nur, daß er die beiden spanischen Redensarten dauernd wiederholte und dabei verständnislos den Kopf schüttelte. Schließlich gaben sich meine Eltern zufrieden, wohl auch deshalb, weil der Engländer mit so großem Eifer half, meinen Novio auf der Bank auszustrecken, denn er war so stark getroffen, daß er nicht mehr aufrecht sitzen konnte. Natürlich hatte cier Engländer seinen Sitz zur Verfügung gestellt, und ebenso ich. Als wir es meinem Verlobten bequem gemacht hatten, stellten wir uns beide in den Gang, da wir nicht gut in der Mitte des Abteils stehen konnten. Die Sonne stand damals so tief wie jetzt, und bald war es so dunkel, daß wir kaum unsere Gesichter sehen konnten. Zur Zeit der Königin Maria Christina waren in Spanien die Züge selten beleuchtet.“

„Lauft langsam, langsam, ihr Rosse der Nacht“, zitierte ich.

„Nich nur die Rosse der Nacht waren es, die langsamer hätten laufen sollen“, sagte sie. „Selbst zur Zeit der Königin Maria Christina liefen die Züge in Spanien schneller als die Rosse der Nacht. Ich wußte, daß wir bald in Madrid eintreffen mußten. Ich wußte auch, daß ich den schönen jungen Engländer nie mehr wiedersehen würde. Ich verwünschte die sinnlosen Gebote der Gesellschaft, weil sie es spanischen Mädchen fast unmöglich machten, die Männer zu heiraten oder auch nur mit ihnen zusammenzukommen, die ihnen gefielen. Wieder berührten sich unsere Hände. ,Yo te quiero', sagte ich außer Atem, bevor mir zum Bewußtsein kam, was ich sagte. ,lch liebe dich.'

In der Dunkelheit kam sein Gesicht mir ganz nahe, da wußte ich, daß er mich nicht verstanden hatte, denn sonst würde er mich geküßt haben. Da tat ich etwas Schreckliches. Ich sagte den einzigen spanischen Satz, den er zu kennen schien, die Worte, die ein Freund ihm zum Spaß beigebracht hatte. ,Ich bin sehr leidenschaftlich' sagte ich, und für den Fall, daß er die Bedeutung wieder verwechseln sollte, warf ich mich in seine Arme und küßte ihn auf den Mund. Ich glaube, ich muß das erste spanische Mädchen gewesen sein, das so etwas getan hat. , Bis heute, weiß ich nicht„ ob er mich richtig verstanden', hat; weil wir 'gerade noch Zeit hatten, uns voneinander zu reißen, ehe meine. Eltern herauskamen und mich ins Abteil liefen. Nach unserer Ankunft in Madrid hatte ich den jungen Mann nie wieder gesehen. Ein Vierteljahr später heiratete ich meinen Novio.“

„Und waren Sie mit ihm glücklich?“

„So glücklich, wie es die Welt Frauen erlaubt, wenn sie ihre Männer nicht lieben. Aber was ich da sage, ist ungerecht von mir. Mein Gatte ist nun seit zwanzig Jahren tot, und ich bete zu Gott, er möge ihm die ewige Ruhe geben.“

Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: „Sie wundern sich vielleicht, warum ich Ihnen dies alles erzählt habe? Es geschah deshalb, weil ich nicht möchte, daß Sie noch einmal über zwei Liebesleute die Nase rümpfen. Ihre Liebe ist zerbrechlich, und es kann passieren, daß sie wirklich zerbricht. Was ich Ihnen erzählt habe, geschah auf den Tag vor fünfzig Jahren.“

„Dann ist dies eine Wallfahrt?“ fragte ich, und ich suchte nach einem passenden Ausdruck. „Eine Kerze, der Erinnerung geweiht?“

„So ist es“, nickte die alte Dame mit traurigem Lächeln. „Und sogar noch etwas Törichteres. Es ist auch Hoffnung dabei. Seit über fünfzehn Jahren mache ich diese Reise an diesem Tage. Bitte, lachen Sie mich nicht aus.“

Ich verstand, ohne daß sie mir mehr zu sagen brauchte. Und das Widersinnige daran machte mich traurig. Das also war der Grund, daß sie so oft die Gänge auf und ab ging.

„Aber glauben Sie denn, daß Sie ihn noch erkennen würden?“ fragte ich.

„Überall und zu jeder Zeit“, antwortete die alte Dame mit voller Überzeugung. Wir kehrten in unser Abteil zurück. Der Maschine war mittlerweile der Atem ausgegangen, und das schwache elektrische Licht brannte mit trübem Schimmer. Ich fragte mich, ob wohl in England ein alter Mann jemals daran dachte, in einem spanischen Zug nach einem Glück zu suchen, das vielleicht hätte Wirklichkeit werden können.

;,Ich glaube, ich weiß, was Sie denken“, sagte die alte Dame auf englisch von ihrem Eckplatz her. „Aber Liebe ist mehr als Leidenschaft.“

Bald ging das Licht ganz aus. Für mich erfüllte sich das Abteil mit dem Knistern altmodischer Gewänder, als wir in der Dunkelheit dasaßen und darauf warteten, daß eine andere Maschine von Quadaljara eintreffe und uns nach Madrid bringe.

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