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Digital In Arbeit

Wie Dichter wurde

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Ich hatte seit Jahren ein gut gehende ärztliche Praxis in London. Eines Morgens wurde mein ärztlicher Ehrgeiz durch eine ungewöhnlich ernste Verdauensstörung erschüttert. An derartigen Anfällen litt ich periodisch seit meiner Studienzeit, und ich hatte sie, da Aerzte ihren eigenen Beschwerden von Natur gleichgültig gegenüberstehen, immer nur mit wachsenden Dosen von doppelkohlensaurem Natron abgewehrt. Diesmal aber merkte ich, daß es angebracht wäre, eine geeignetere Behandlung vorzunehmen, und als ich an diesem Nachmittag durch die Wimpole Street kam, kehrte ich bei meinem guten Freund Dr. Izod Bennett ein, einem Arzt, der durch seine Kenntnisse der Magen- Darm-Krankheiten im ganzen Lande berühmt geworden war.

Ich erwartete eine Flasche Wismut und eine Aufforderung zu einem Golfspiel. Statt dessen erlebte ich den größten Schrecken meines Lebens. Er nahm meine Symptome nicht auf die leichte Schulter, und nach mehreren Untersuchungen, Röntgenaufnahmen und einer Bariummahlzeit teilte mir Bennett ernst mit, daß ich ein chronisches Duodenalgeschwür hätte, das bestimmt perforieren würde, wenn ich mich nicht in die Hand nähme und einige Zeit nichts arbeiten würde. Erschüttert erhob ich mich von dem Sofa in seinem Sprechzimmer … Wie konnte ich überhaupt eine so ganz und gar individuelle Praxis wie die meine so lange im Stich lassen? Mit einem ungeduldigen Temperament war ich nie imstande gewesen, einen Assistenten um mich zu dulden. Ein Stellvertreter — wie gut kannte ich diese Brut — würde meine jahrelange mühsame Arbeit innerhalb sechs Wochen zugrunde richten. Als ich dann mein Hemd anzog, durchzuckte mich plötzlich ein befremdlicher, unsinniger Gedanke — man kann ihn verrückt nennen, wenn man will. Einen Moment stand ich mit entrückten Augen da, sicherlich einen törichten Ausdruck auf dem Gesicht, und blickte zurück auf die Sehnsucht meiner Jugend. Dann nickte ich langsam und feierlich wie ein chinesischer Mandarin vor mich hin. Es war di entscheidendste Gebärde meines Lebens.

Zwei Wochen lang sagte ich nichts von meiner Unterredung mit Bennett; dann kam ich an einem Frühlingsnachmittag nach Hause, setzte mich, schaute zur Decke empor und bemerkte aus heiterm Himmel mit jenem träumerischen Ton, der meine unsinnigsten Entschlüsse kennzeichnet: „Es ist höchste Zeit, daß wir von hier fortgehen.“

Meine Frau starrte mich an. „Was meinst du eigentlich?“

„Genau, was ich sagte, mein Liebes.“

Das Blut schoß ihr in den Kopf.

„Du weißt es nicht zu schätzen, wenn es dir gut geht. Wir sind hier glücklich, sind ganz und gar seßhaft mit den Kindern und allem. Du hast von jeher diesen Floh im Ohr gehabt, warst nie zufrieden, wolltest immer von einem Augenblick auf den andern fort. Du hast mich so viel herumgeschleppt, seit wir verheiratet sind, daß du mir einen Reisewagen hättest kaufen sollen. Aber ich habe genug davon. Ich mag nicht mehr.“ Sie mußte eine Pause einschalten, um Atem zu schöpfen. „Jedenfalls bist du noch viel zu jung, um an die Harley Street zu denken.“

„Ich denke auch gar nicht an die Harley Street.“

„Woran denn sonst?“

„Die Praxis zu verkaufen.“

„Du kannst diese Praxis gar nicht ver-j kaufen.“ Frohlockend brachte sie die Entgegnung vor. „Sie ist viel zu groß und zu persönlich.“

„Mein Liebes . .. bitte werde nicht bös. .. ich habe sie leider schon verkauft.“

Sie wurde blaß. Sie konnte es nicht glauben. Dann sah sie, daß es der Wahrheit ent-

sprach. Sie hatte keine Worte. Am vergangenen Abend hatte sie den Kindern Märchen vorgelesen, und jetzt fiel ihr lächerlicherweise Aladins Wunderlampe ein, die ihrem Besitzer alles brachte, was er sich wünschte, und die ihm dann auf so dumme Weise abhanden kam.

Blaß hauchte sie: „Was hast du denn vor?“ Ausnahmsweise einmal raubte die Scham mir die Worte: „Ja, eigentlich… ich werde … ich möchte schreiben.“

„O Gott“, stieß sie hervor und brach in Tränen aus. „Du bist wirklich verrückt geworden.“

Ich fand, daß ich nun meine geistige Gesundheit beweisen mußte. Ich setzte ihr auseinander — wobei ich mich bemühte, sie nicht zu erschrecken —, was Izod Bennett mir gesagt hatte. Dann fuhr ich mit leiser Stimme fort, abbittend, doch fest: „Ich hatte schon immer den sonderbaren Drang, Schriftsteller zu werden. .. schon immer seit meiner Jugend. Aber natürlich, wenn ich das daheim in Schottland gesagt hätte, dann hätte man gedacht, ich wäre nicht bei Trost. Ich mußte statt dessen etwas Vernünftiges tun. Darum studierte ich Medizin. Das war sicher und praktisch. Oh, ich gebe zu, ich liebte den Beruf durchaus. Ich liebe ihn auch jetzt noch; ich könnte so weit gehen und behaupten, daß ich als Mediziner etwas tauge. Aber, die ganze Zeit fühlte ich im Grunde meines Herzens dieses andere. Wenn ich meine Patienten behandelte und die Menschen sah, wie sie wirklich waren, mußte ich stets daran denken, was für Romane ich aus ihnen machen könnte. Ich wollte die Gestalten beschreiben, die ich traf, wollte sie zu Papier bringen. Natürlich hatte ich keine Zeit; man braucht dazu Ruhe und Losgelöstheit, und wir mühten uns ja immer so sehr ab, vorwärtszukommen. Nun, jetzt sind wir vor- wärtsgekommen. Ich kann mir sechs Monate gönnen, sogar ein ganzes Jähr, um mir eine Chance zum Schreiben zu geben. Wenigstens werde ich dann den Floh loswerden. Es steht eine Million zu eins, daß ich nichts kann. Und wenn ich nichts kann, habe ich immer noch die Möglichkeit, m die Tretmühle u- rückzukehren.“

Ein langes Schweigen. Sie konnte nicht leugnen, daß sie im Lauf der Jahre dieses Verlangen nach Selbstausdruck bei mir ge- argwöhnt hatte. Aber sie hatte es nie ernst genommen. Wenn ich nach dem Abendessen und einem harten Tagewerk unbestimmt meine Sehnsucht erwähnte, ein Buch zu schreiben, lächelte sie mich freundlich über ihre Strickarbeit hinweg an und brachte mich dazu, von meiner Golfniederlage zu erzählen. Dies aber war etwas anderes. Dieser Plan, diese abermalige Zerstörung unserer angenehmen Häuslichkeit, dünkte sie reiner Wahnsinn.

Hin und her gerissen von widerstreitenden Empfindungen, blickte sie mich gläsern an, lächelte bläßlich und löste dann — wie bei einem früheren historischen Anlaß — die Krise, indem sie den Kopf an meine Schulter legte und in Tränen ausbrach.

Der für unser unsinniges Abenteuer ausgesuchte Ort war der Bauernhof Dalchenna, ein kleines Anwesen am Loch Fyne, ein paar

Kilometer von Inveraray entfernt, im westlichen Hochland von Schottland. Drei Wochen später, als die Einzelheiten der Praxisübergabe erledigt waren und Dr. Green, der neue Amtsinhaber, sich in zufriedenstellender Weise eingerichtet hatte, machten wir uns auf den Weg nach diesem fernen Winkel. Der Wagen war vollgepfropft mit unseren Siebensachen, und meine beiden Buben gerieten ganz außer sich vor Aufregung.

Für di beiden, die im Alter von vier und sechs Jahren standen und keine anderen Erinnerungen als ans Großstadtleben hatten, bedeutete dieser Ort wahrlich ein Wunderland. Nacktbeinig und im Kilt durchstreiften sie die Wälder zusammen mit meiner Frau, erkletterten die Berge, badeten, ruderten auf dem See, fischten im Bach, jagten die Kaninchen, sammelten am Ufer Muscheln und Seesterne. Für die Mutter und ihre Söhne war der Tag ein einziges langes fortwährendes Vergnügen — sie wurden braun wie Kaffeebohnen, aßen wie Scheunendrescher und schliefen wie Jäger. Für mich hingegen, ach, für den armen Vater, der das Ganze angestiftet hatte, sah das Bild etwas anders aus.

Nachdem ich vor meinem gesamten Hausstand nachdrücklich erklärt hatte, daß ich einen Roman schreiben würde — wobei natürlich stillschweigend einbegriffen war, daß jedes Mitglied der Familie die Schuld hatte, wenn ich hoch nicht zwanzig Romane geschrieben hatte —, sah ich mich vor der unangenehmen Notwendigkeit, meine voreiligen Bemerkungen wahrzumachen. Es blieb mir nichw anderes übrig, als mich unter Entfaltung großen Mutes und tiefer Zweckbestimmung in die Dachstube zurückzuziehen, die sofort als das Zimmer ausersehen worden war, „in dem Papa schreiben wird“. Hier hatte ich einen viereckigen Tannenholztisch vor mir, einen Stapel Zweipenny-

Übungshefte, in Wörterbuch und einen Sprachschatz.

Es war der Morgen nach unserer Ankunft. Erstaunlicherweise für diesen Breitengrad schien die Sonne. Unser kleines Ruderboot tanzte entzückend auf dem See vor Anker und wartete darauf, benutzt zu werden. Mein Wagen stand in der Garage und wartete darauf, gefahren zu werden. Die Forelle im Bach lag still und wartete darauf, gefangen zu werden. Die Berge erhoben sich frisch und grün und warteten darauf, erklettert zu werden. Und ich… ich stand am Fenster der kleinen Mansarde. Blinzelnd betrachtete ich die Sonne, den See, das Boot, den Wagen, den Bach und die Berge; dann drehte ich mich betrübt um und »etzte mich vor meinen Tannenholztisch, meine Uebungshefte und mein Wörterbuch. „Was für ein Dummkopf bist du doch“, sagte ich düster zu mir selbst, und ich gebrauchte ein Adjektiv, um meine Dummheit zu vergrößern. Wie oft sollte ich während der nächsten drei Monate diese Aussage wiederholen — jedesmal mit stärkeren Adjektiven.

In der Zwischenzeit aber fing ich an. Entschlossen schlug ich das erste Uebungsheft auf, entschlossen entriß ich meinen Füllfederhalter seiner üblichen Untätigkeit. Entschlossen hielt ich diesen Füllfederhalter in die Luft und hob den Kopf für eine Inspiration.

Es war ein hübscher Blick durch das schmale Fenster; ein langes grünes Feld erstreckte sich zu einer Seebucht. Dort war Bewegung. Sechs Kühe, die im Schatten einer Hagedornhecke lagen, wiederkäuten mit stetem Rhythmus; ein alter Ziegenbock mit erstaunlichem Bart ließ seine Glocke ertönen, auf der Suche nach Löwenzahn, wie ich dachte; ein gelber Schmetterling gaukelte unentschieden über einem roten Fuchsienfleck; ein paar weiße Hühner liefen sinnlos herum, plötzlichen Aufregungen und Verfolgungen ausgesetzt.

Alles hatte einen verführerischen, traumhaften Reiz. Ich fand, ich könnte die Szene ein bis zwei Minuten betrachten, ehe ich mich an die Arbeit machte. Ich betrachtete sie. Dann klopfte jemand an die Tür und sagte: „Das Essen ist angerichtet.“ Ich fuhr zusammen, suchte hoffnungsfreudig meinerf gloriosen Anfang und mußte feststellen, daß das Uebungsheft seine reine Jungfräulichkeit bewahrt hatte.

Ich stand auf und ging hinunter, und während ich die weißgescheuerte Holztreppe hinabstieg, fragte ich mich ärgerlich, ob ich nicht doch ein Schwindler sei. Finster schnitt ich beim Essen das Hammelfleisch. Meine beiden Söhne, die von ihrer Betreuerin weit fortgebracht worden waren, damit sie den Romancier auf keinen Fall störten, waren frohgelaunt zurückgekehrt. Der Jüngere, vier Jahre alt, lispelte nun vergnügt: „Hast du dein Buch fertig, Papa?“

Der Aeltere, der stets die Neigung zum Verbessern hatte, versicherte mit der überlegenen Weisheit seiner zwei zusätzlichen Jahre: „Sei nicht dumm. Papa ist erst halb fertig.“

Worauf ihre Mutter sie vorwurfsvoll anlächelte: „Nein, Kinder, Papa kann erst ein oder zwei Kapitel geschrieben haben.“

Ich. kam mir nicht mehr wie ein Schwindler vor, sondern wie ein Verbrecher. Entschlossen rief ich mir den Rat eines alten Schullehrers zurück: „Schreibt es nieder“, pflegte er zu sagen. „Wenn es in eurem Kopf bleibt, wird es nie etwas werden. Schreibt es nieder.“ Also ging ich nach dem Mittagessen schnurstracks hinauf und begann mein Gedanken niederzuschreiben.

V

Ich könnte einen Band füllen nift den inneren Erlebnissen der nächsten drei Monate. Obwohl mir der Stoff des Romans, den ich schreiben wollte, in den Umrissen schon vorschwebte — die tragische Geschichte vom Egoismus und bitteren Stolz eines Manne —, war ich, abgesehen von dieser naiven Grundlage, jämmerlich unvorbereitet.

Ich hatt keine Ahnung von Technik keine Kenntnisse der Stilkunde öder Form Die Schwierigkeit, einfache Aussagen zt machen, bestürzte mich. Stundenlang sucht ich ein Eigenschaftswort. Ich verbessert und verbesserte nochmals, bis das Papier aussah wie ein Spinnengewebe; dann zerriß ich es und fing wieder ganz von vorn an.

In den nächsten drei Monaten blieb ich diesen ganzen schönen Sommer hindurch während die andern sich vergnügten, an meinen Schreibtisch gefesselt. Trotz ihren Bitten doch einmal einen Tag frei zu nehmen, blieb ich unnachgiebig bei der Stange, den ganzer Tag und einen Teil der Nacht, kam spät hinunter zu meinen peptonisierten Mahlzeiten, beantwortete zerstreut die Fragen der Kinder, nur erpicht darauf, in meine privat Tretmühle zurückzukehren.'

Der schlimmste Augenblick kam, als ich das Buch halb fertig hatte und einem Schreibbüro in London die Abschrift der ersten Kapitel schickte. Als ich die einleitenden Seiten las, überwältigte mich Entsetzen. Ich dachte: Habe ich dieses fürchterliche Zeug geschrieben? Niemand wird es jemals lesen. Niemand wird es veröffentlichen. Ich kann einfach nicht weitermachen!

Es drängte mich, den ganzen Plan auf der Stelle aufzugeben, alles, was ich geschrieben hatte, zu zerreißen. Es war ein unwiderstehlicher Impuls. Mit entschlossener Miene stand ich auf, trug das Manuskript zur Hintertür vr,d warf es in den Aschenkübel.

Als die Neuigkeit bekannt wurde, senkte sich eine schreckliche Stille auf das Haus. Sogar die Kinder schwiegen beim Mittagessen. Ich erinnere mich so gut — es begann zu regnen, ein naßkalter schottischer Nachmittag war es, und geängstigt durch meine finstere Miene verließen mich meine Frau und die beiden Buben ohne ein Wort.

Mein Entschluß oder, wie ich es lieber nannte, meine Rückkehr zur Vernunft, bereitete mir düstere Befriedigung, und in dieser Stimmung unternahm ich einen Spaziergang in den Nieselregen. Auf halbem Wege zum Seeufer stieß ich auf den alten Angus, den Bauern, der geduldig und fleißig den sumpfigen, torfartigen Heideboden umgrub, der den größten Teil seines hartgewonnenen ärmlichen Hofes ausmachte. Als ich mich näherte, schaute er ziemlich verwundert auf; er wußte von meiner Absicht, und mit der eingeborenen schottischen Verehrung für „Literatur“ hatte er sie stumm gebilligt. Als ich ihm sagte, was ich gerade getan hatte und warum, veränderte sich sein wettergegerbtes Gesicht langsam, die scharfen blauen Augen unter den rötlichen Brauen betrachteten mich mit Enttäuschung und sonderbarer Verachtung. Er war ein schweigsamer Mann, und es dauerte lange, bis er sprach. Auch dann waren seine Worte dunkel.

„Sicher haben Sie recht. Herr Doktor, und ich habe unrecht…“ Er schien mir bis auf den Grund zu schauen. „Mein Vater grub diesen Bruch sein Leben lang um und gewann nie eine Weide. Ich habe ihn auch umgegraben, solange ich zurückdenken kann, und nie Weideland gewonnen. Aber Weideland hin oder her" — er setzte den Fuß auf seine Schaufel, „ich kann nicht anders, ich muß umgraben. Denn mein Vater wußte, und ich weiß es auch, wenn man nur genug umgräbt, kann hier Weideland gewonnen werden."

Ich verstand. Ich sah zu, wie die untersetzte Gestalt weiterarbeitete, fest entschlossen, die Aufgabe um jeden Preis durchzuführen. Still ging ich zurück, naß, beschämt, wütend, und holte das schmutzige Bündel aus dem Aschenkübel. Ich säuberte es notdürftig in der Küche. Dann warf ich es auf den Tisch und machte mich mit einer gewissen verbissenen Verzweiflung wieder an die Arbeit. Ich wollte mich nicht schlagen lassen, ich wollte nicht nachgeben. Abend für Abend hielt ich mich mit schierer Willenskraft wach und arbeitete angespannter denn je. Endlich, gegen Ende September, schrieb ich „Finis“ hin. Die Erleichterung war unbeschreiblich. Ich hatte mein Wort gehalten. Ich hatte ein Buch geschaffen. Ob es gut war, schlecht oder mittelmäßig, wußte ich nicht.

Mit einem Seufzer unglaublicher Erleichterung packte ich das Manuskript in eine alte Schachtel, die ich mit Bauernschnur zuband. Nachdem ich dann in einem zwei Jahre alten Almanach eine Verlagsadresse gefunden hatte, schickte ich das unordentliche Paket ab und vergaß es prompt. Wie ein Mensch, der eine schwere Bürde losgeworden ist, begann ich zu baden und zu fischen, ruderte mit den Buben, durchstreifte mit ihnen Gebirge und

Heide nnd benahm mich wieder wie ein normaler Mensch.

Die Tage folgten einander, und nichts ereignete sich. Das sonderbare Manuskript mochte wohl für immer im leeren Raum verschwunden sein Laut strengem väterlichem Machtspruch durfte von dem Gegenstand im Familienkreis nicht gesprochen werden, und wenn der jüngere Sohn aus Versehen eine unschuldige Bemerkung über „Papas Buch“ machte, bekam er die schwärzesten Blicke ab.

In Tat und Wahrheit hegte ich keine Illusionen —• ich war mir durchaus bewußt, daß werdende Autoren eher eine vorgedruckte Absage erhalten als einen Scheck und daß ein Erstlingswerk gewöhnlich mehrmals zurückkommt, ehe es angenommen wird, wenn es überhaupt jemals angenommen wurde. Man kann sich also meine Ueber- raschung und meine Freude vorstellen, als ich eines Morgens im Oktober von dem Leiter des Verlages, den ich ausgesucht hatte, ein Telegramm erhielt, in dem stand, daß der Roman zur Veröffentlichung angenommen sei, daß ich einen Vorschuß von fünfzig Pfund bekommen sollte und sofort nach London kommen möchte.

Als wir das Telegramm lasen, senkte sich ehrfürchtiges Schweigen über das Wohnzimmer im Bauernhaus. Fünfzig Pfund in bar schienen eine Menge Geld, und vielleicht gab es später durch Tantiemen noch mehr. Blaß und ziemlich erschüttert murmelte ich: „Am Ende kann ich. wenn ich Glück habe und spare, als Schriftsteller meinen Lebensunterhalt verdienen. Hol den Fahrplan und schau, wann der nächste Zug nach London geht.“

Wenn ich auf die dann folgenden Geschehnisse zurückblicke, kommt es mir auch jetzt unglaublich vor, wie schnell, wie erstaunlich von diesem Augenblick an die Flut des Erfolgs einsetzte. Dieser erste Roman, „Hatter’s Castle“ („James Brodie, der Hutmacher, und sein Schloß“), den ich verzweifelt in Zweipennyhefte geschrieben, fortgeworfen und in elfter Stunde aus dem Aschenkübel gerettet hatte, erschien im Frühjahr 1930. Er wurde von der Kritik gutgeheißen, von der Buchgemeinschaft ausgewählt, in einundzwanzig Sprachen übersetzt, in Zeitschriften veröffentlicht, dramatisiert und verfilmt. Er erlebte unzählige Auflagen, wurde bis jetzt in schätzungsweise drei Millionen Exemplaren verkauft und geht noch immer. Er brachte mich mit einem solchen Schwung auf die literarische Laufbahn, daß ich mein Stethoskop ein für allemal an den Nagel hängte und die kleine schwarze Tasche wegstellte — meine medizinische Karriere war beendet.

Aus „Wanderer in zwei Welten" Paul Zsolnay Verlag. Wien

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