6636218-1957_16_21.jpg
Digital In Arbeit

Die Spionin

Werbung
Werbung
Werbung

Es wird wohl o sein, daß es Menschen gibt, die ihre erste Liebe mit dem Mörtel des Vergessen zudecken können, oder solche, die die erste Erschütterung des Herzens durch immer neue Liebeleien in Schwung halten, die erste nur als Anstoß erkennen, dem man eine gewisse dünne Dankbarkeit nicht völlig versagen kann. Aber es gibt auch andere Menschen, Menschen, denen das Wunder der ersten Liebeswandlung sich, einprägt für ewige Zeiten. Verzeiht mir, meine lieben Freunde, daß ich es so schamlos vor euch sage, aber ich gehöre zu jenen letzteren, und laßt mich davon sprechen, wovon mein Herz heute noch ebenso erfüllt ist wie vor nun schon vierzig Jahren. Ja, Ivan Ivanow, der heute zu euch spricht — einer von den vielen namenlosen Kindern des großen Mütterchens Rußland, verstreut in die weite Welt —, ja, Freunde, das war ein anderer Ivan, der sechzehnjährige Sohn des Hauptmanns Fedor Ivanca und der Nina Ivanowna, die von Geburt Rumänin war. Es waren fromme, gottesfürchtige Menschen, meine Eltern, und dem Väterchen Zar treu ergeben. So wuchs ich auf, ein gesunder, breitschultriger Knabe, von dem man sagte, er habe einen guten Kopf zum Lernen und aus ihm werde noch etwas ganz Besonderes werden. Und einmal, es war im zweiten Jahr des Weltkrieges, als der Vater beim Abendtisch erzählt hatte, daß man im Geheimdienst junge Leute brauche, die bereit wären, im Ausland zu arbeiten, sprang ich auf und bat meine Eltern, um Gottes und aller Heiligen willen, mir die Erlaubnis zu geben, mich zu melden. Sie wurde mir gegeben; vom Vater, nicht ohne ein stolzes Lächeln unter seinem buschigen Schnurrbart, und von der Mutter, mit Tränen in ihren schönen graublauen Augen. Man segnete und umarmte mich, und schon am nächsten Tag hat mich mein Vater zu einem ihm befreundeten Nachrichtenoffizier gebracht.

Nach mehrmonatiger Ausbildung, die mir nicht allzu schwer fiel, da ich aufnahmefähig und begeistert war und gewisse Kenntnisse der rumänischen Sprache — die Mutter hatte von meiner Kindheit an mir diese beigebracht — und auch der polnischen, die ich von unserem alten Dienstmädchen, das aus Lublin stammte, gelernt hatte, besaß, wurde ich mit einigen anderen nach Bukarest gesandt. Die älteren meiner Kameraden als Geschäftsreisende, Wir jįįnger.en, als Studenten. Unsere Aufgabe war, der damals sehr regen österreichischen Spionage entgegenzutreten und sie, mit allen Mitteln, zu unterbinden. Wenn auch zu dieser Zeit im geheimen schon bindende Zusagen Rumäniens Vorgelegen haben mögen, die den Eintritt als unseren Bundesgenossen gewährleisteten, erschien es gerade deshalb wichtig, die Mittelmächte möglichst lange darüber im unklaren zu lassen.

Ich hatte einen Paß erhalten, der auf einen polnischen Namen lautete. Außerdem wurde mir aufgetragen, daß ich mich als einen rußlandfeindlichen polnischen Studenten, der einer revolutionären Organisation zur Befreiung Polens angehört, ausgeben solle, um so leichter Eintritt in den Kreis der österreichischen Agenten zu erhalten.

Ein kleines Dachstübchen in einem Bukarester Vorortehaus wurde mir als Quartier zugewiesen. Die Besitzerin der Wohnung, Witwe nach einem kleinen rumänischen Beamten, eine ältere und lebenslustige Frau, stand schon seit Jahren in unserem Dienste.

Ihr könnt mir glauben, es war nicht leicht für mich, die erste Zeit allein in der fremden Stadt. Aber der Auftrag und das angenehm erregende und doch auch wiederum beruhigende Gefühl, auf einem geheimnisvollen und mir sehr wichtig erscheinenden Posten zu stehen, war ein gutes Mittel gegen das kindliche Heimweh.

Die erste Zeit verging, nicht ohne kleine Erfolge, die ich als Meldungen durch meine Quartiergeberin weiterleitete. Dann traf ich sie! Es war an einem Abend, die laue Luft des Frühlings hatte mein Blut unruhig gemacht, und Ablenkung suchend war ich in ein Kino gegangen. Aufnahmen von den Kriegsschauplätzen wurden gezeigt. Ich erinnere mich- noch gut. Es waren Schlachtschiffe, und die Rohre der Geschütze hoben sich still aus den Türmen. Da sah ich knapp vor mir die Silhouette eines zarten Mädchenprofils. Kurzgeschnittene Haare, die in Fransen über die kindlich gewölbte Stirne hangen, ein leicht nach aufwärts gerichtetes Naschen, unter den vollen Lippen das zarte Rund des Kinns. Ach, Freunde, wie könnten je Worte so mächtig sein, das zu schildern, das damals, urplötzlich, mich überfiel. Ich sah nicht mehr, was auf der hell flimmernden Leinwand vor sich ging, und in meinem Hirn war alles wie ausgelöscht. Mein Auftrag, mein Heimweh, die Eltern — alles, alles war wie weg geblasen. Nur ein neues, mir bisher gänzlich unbekanntes Ich war da. Leicht vorgebeugt atmete ich im Dunkel den Duft ihrer Haare. Dann wurde es hell im Saal. Man stand auf, das schwirrende Geplapper der Menge hub an — ich aber starrte, wie durch einen Nebel, die im hellen Lichte nur noch schöner und liebreizender gewordene Gestalt des Mädchens vor mir an. Sie war aufgestanden und wartete, bis sich langsam ihre Sitzreihe leerte. Irgendwer puffte mich in die Seite und wollte, ich solle aufstehen und Platz machen. Aber ich war wie gelähmt. Staunte mit weit offenen Augen immer nur das Mädchen an. Nun ging auch sie. Verstohlen und fast unmerklich wandte sie ihr Köpfchen mir zu und sah mich leicht lächelnd an. Da sprang ich auf und drängte mich in ihre Nähe; doch schon hatte sie sich wieder umgewendet und ihr Gesichtchen wurde stolz und abweisend. Ich weiß nicht, wie ich den Mut gefunden habe, aber nachdem ich, immer darauf bedacht, sie im Gedränge nicht aus den Augen zu verlieren, auf die Straße gelangt war, sprach ich sie an. Auf russisch. Denn ich wußte nicht mehr, wo ich mich befand, und welche Sprache sonst hätte das auszudrücken vermocht, was ich empfand. Ich stammelte blöde Worte. Ob ihr der Film gefallen habe? Erst wollte sie weitergehen, ohne meinen plumpen Annäherungsversuchen Beachtung zu schenken. Dann aber plötzlich blieb sie stehen, wandte sich um und antwortete, gleichfalls auf russisch: „Ja.“ Und nun, da ich von ihren Lippen meine Muttersprache hörte, stürmte in mein leeres Hirn wieder alles Erinnern. Meine Aufgabe, meine Maskierung ... Woran ich erkannt habe, daß sie Russin sei, fragte sie mich, und ihre Stimme klang mir wie Musik. Und ob ich auch Russe sei? „Ja!“ rief ich. Kaum aber war dieses Wort mir entschlüpft, kam es mir zum Bewußtsein, daß ich ja nicht Ivan Ivanow bin, es nicht sein darf, daß ich doch ein polnischer Student sein müsse. Und ich stotterte verlegen, eigentlich sei ich Pole, aber aus Rußland. Und ich fühlte, wie bei dieser Lüge mein Gesicht sich rötete. Gelogen! Die ersten Worte zu ihr — Lüge. Ich hätte mich erwürgen können. Da spürte ich ihren Blick. Sah ihre klugen, dunklen Augen forschend auf mich gerichtet. Doch schon wandte sie sich um, und wir gingen Seite an Seite die breite Straße entlang, die zu einem Park führte Und wieder erfaßte mich nur das beglückende Gefühl ihrer Nähe. Wir sprachen fast nichts. Ich war wie betrunken.

Es war eine laue, warme Nacht, und im Garten dufteten Blüten. Wir setzten uns auf eine der leeren Bänke. Unsicher und krampfhaft bemüht, Ordnung in dem Wirrwarr meines Hirns zu schaffen, saß ich steif und still neben ihr. Mag sein, daß ich, verzweifelt über Unsicherheit, das Pochen meines heißen Herzens und der immer wieder aus dem Dunkel meines Bewußtseins aufsteigenden Mahnung meines Gewissens, ein unwilliges Gesicht gemacht habe. Ich hörte ihre liebe Stimme, die mich fragte, ob ich böse sei und warum? Ich und böse! Ich schüttelte nur den Kopf und streichelte leise ihre Hände, die sie über das Knie gefaltet hielt. Sie wehrte mir nicht. Oh, wie gerne hätte ich mein heißes, junges Herz, zuckend von all der Liebe und all dem Kummer, auf der flachen Schale meiner Hände ihr dargeboten, ihr mein ganzes zerstückeltes Ich gezeigt! Die Wahrheit ... Aber da stand drohend das Bild der Vereidigung vor mir, damals in Petersburg, ehe wir unsere erste Aufgabe gestellt bekamen — und ich schwieg. Schwieg auch, als mir Tränen des so verworrenen unglücklichen Glücks über die Wangen rannen. „Armer Junge“, sagte sie leise und fuhr mir zart durch meine Locken. Aber hatte sie das nicht auf polnisch gesagt? Wie ein Blitz durchfuhr es mich und ließ mich plötzlich nüchtern und kalt werden. Fast gleichzeitig aber wußte ich doch, daß sie mir mit den polnischen Worten, mir, der ich ihr doch gesagt habe, daß ich Pole sei, eine Freude hatte machen wollen. Wie schändlich von mir, ihr auch nur einen Augenblick mißtraut zu haben. Und von Reue und Liebe überwältigt, stürzte ich vor ihr in die Knie und vergrub meinen Kopf in ihrem Schoß. Lachte und weinte. Sie aber stand auf, schob mich sanft von sich und meinte mit leisem Erzittern ihrer Stimme — sie sprach wieder russisch —, es wäre nun an der Zeit, daß sie nach Hause ginge. Sie verbot mir nicht, sie zu begleiten. Hand in Hand gingen wir durch alte Gassen und Gäßchen, bis wir endlich vor ein schmalbrüstiges Häuschen kamen, in dem sie wohnte. Sie versprach mir, am kommenden Abend wieder auf der gleichen Bank auf mich zu warten. Und schon war sie die Stufen zur Haustür hinaufgestiegen; da wandte sie sich nochmals um und hauchte mir einen zarten Kuß auf die Stirne. Dann verschwand sie und die Tür fiel zu ...

Als ich nach kurzem, schwerem Schlaf erwachte, stand die Quartierfrau mit dem Frühstück an meinem Bett. Ihre runden Vogelaugen sahen mich besorgt und forschend an. Ich aber dachte nur an den Abend, der mich wieder mit ihr zusammenführen soll. Meinen Namen hatte ich ihr nicht genannt und auch sie mir den ihren nicht. Was hätte uns auch ein Name bedeutet! Nun aber, einen ganzen langen Tag von ihr getrennt, wäre ich froh gewesen, ihn zu wissen und leise vor mich hinzusprechen. Ich schloß die Augen, um die Erinnerung ihrer Nähe zu fühlen, Dann aber wieder wollte ich mich zwingen, nicht an sie zu denken. Ivan Ivanow, sagte ich mir, was bist du doch für ein jämmerlicher Geselle! Weißt du nicht mehr, warum man dich nach Bukarest geschickt hat? Willst du eines Mädchens wegen auf deine Aufgabe vergessen? Ich sprang auf, steckte meinen Kopf in eine Schüssel kalten Wassers, kleidete mich an und verließ das Haus.

In einem Cafe, dessen Gäste Studenten und kleine Leute waren, und das uns als einer der Orte genannt wurde, an dem der gegnerische Geheimdienst verkehrte, hatte ich vor einigen Tagen die Bekanntschaft eines Burschen gemacht, den ich für einen österreichischen Agenten hielt. Es war nun meine Aufgabe, ihm falsches Nachrichtenmaterial zu geben. Ich hatte schon ein ganzes Lügengebäude aufgerichtet, ausgehend davon, daß ich, ein begeisterter Pole, der auf die Befreiung seiner Heimat hoffe, dessen Verwandtschaft aber in Rußland lebe, alles tue, um die Unterdrücker meiner Heimat zu schädigen. Ein Onkel von mir sei ein russischer Generalstabsoffizier, durch den ich mancherlei in Erfahrung bringen könne.

In dieses Cafe ging ich nun, mit dem festen Vorsatz, den Tag nutzbringend zu verwenden. Aber sosehr ich auch bemüht war, meine Gedanken auf eine kluge Lösung der mir gestellten Aufgabe zu richten, immer wieder drängte sich das liebliche Bild des Mädchens dazwischen, und ich schloß die Augen, um mich ganz der sehnsüchtigen Erwartung des abendlichen Wiedersehens hinzugeben. Den Kopf auf meine Arme gelegt, übermannte mich der Schlaf. Dann plötzlich schreckte ich auf; jemand hatte mich auf die Schulter geklopft. Es war der Bekannte, von dem ich vorhin erzählt habe. Verlegen lächelnd reichte ich ihm die Hand — da sah ich, hinter ihm, quer durch den Raum dem Ausgang zugehend, mein Mädchen! Rasch wollte ich ihr folgen und sprang auf. „Was ist denn mit Ihnen los? Was haben Sie nur, sie sehen ja ganz verstört aus?“ fragte mich der Bursche und hielt mich am Arm fest. Ich murmelte eine Entschuldigung, aber da war auch schon das Mädchen meinen Blicken entschwunden. Ich war zu keinem rechten Gespräch fähig, überhörte Fragen, gab verkehrte Antworten. Was aber suchte das Mädchen hier in diesem Cafe? Immer wieder bohrte sich diese Frage in mein Hirn. Lächerlich, beruhigte ich mich dann wieder, warum sollte sie nicht dieses Lokal besuchen? Aber etwas wie eine Angst hatte mich überfallen, das Gefühl einer Gefahr, die mein Glück bedrohte.

Der Tag verging in Unruhe, und schon am späten Nachmittag saß ich wartend auf der Bank, die mir in der vergangenen Nacht durch des Mädchens Nähe so liebgeworden war. Aber lange konnte ich nicht ruhig sitzen, sprang auf, und von einer quälenden Unrast getrieben durcheilte ich die Alleen des Gartens, bis eine plötzliche Angst mich erfaßte, irgendein Fremder könne sich auf unsere Bank setzen. Ich lief zurück und fand sie noch frei. Endlich — es war bereits dunkel geworden — kam sie! Das Gefühl ihrer Nähe ließ alle Angst und alles Unklare in mir in dem glücklichen Gefühl des Bei-ihr-Seins. Wiederum saßen wir, Hand in Hand. Dann erzählte sie mir, daß sie allein sei, fern von ihren Eltern; der Krieg habe sie hierher getrieben, und sie hoffe aber, bald wieder heimkehren zu können. Ich achtete kaum auf den Inhalt ihrer Worte, hörte nur glücklich den Wohllaut ihrer Stimme, Als sie mich nach meinem Schicksal fragte, da durchfuhr es mich wie ein glühender Stahl. Sollte ich sie nun anlügen? Ihr die erfundene Geschichte erzählen? Oder die Wahrheit sagen? Daß ich Ivan Tvanow sei, Agent des russischen Geheimdienstes? Aber auch das wäre Verrat! Bruch des heiligen Eides! Ach, Freunde, ich glaubte, sterben zu müssen in meiner großen Not. Aber dann plötzlich war mir Ivan Ivanow ebenso fern wie der polnische Student und eines nur wahr. Ich neigte meinen Kopf auf ihre Schulter, schloß die Augen und flüsterte: „Ich liebe dich!“ Und immer wieder: „Ich liebe dich!“ Wahrhaftig, ich wußte nur das eine mehr von mir. Da legte sie seufzend ihre zarte Wange an die meine und schwieg Sie hat mich nie wieder gefragt, nicht nach meinem

Namen, nicht nach meiner Vergangenheit, und auch von der ihren hat sie nie wieder gesprochen. Wir gaben uns Kosenamen, süße und immer neue. Ich hatte auch vergessen, daß ich sie vormittag im Cafe gesehen hatte. Erst beim Heimweg durch die nächtlich stillen Straßen und Gassen packte mich wieder diese Erinnerung, aber ich brachte es nicht übers Herz, sie zu fragen. Erst wenn ich wieder allein war, quälte es mich wieder, quälten mich alle Fragen, die in ihrer Gegenwart mir nichtig erschienen oder auf die ich vergaß. Eine Angst, ich könnte sie und mit ihr all mein Glück verlieren, war dann ständig in mir. Schrecklich waren die Tage, voll Unruhe und Ungeduld. Denn immer nur abends, auf unserer Bank, durfte ich sie Wiedersehen. Trotz meiner Bitten. „Zerstör’ nicht unser Glück", sagte sie mir — und ich schwieg. In dem Cafe, das ich auch weiterhin besuchte, habe ich sie nie wieder gesehen. Ich war bemüht, meine Arbeit, so gut ich konnte, zu leisten. Ich schwankte zwischen einer Seligkeit, die mir die ganze Welt im hellsten Licht erstrahlen ließ, und dem Dunkel der Niedergeschlagenheit und Verzweiflung. Nur die Stunden mit ihr, die Abende und Nächte, waren vom reinsten Glück erfüllt.

Eines frühen Morgens bekam ich den Besuch meines Vorgesetzten. Ich hatte bisher nur über die Quartierfrau mit ihm die Verbindung aufrechterhalten. Daß er mich aber, ganz gegen seinem sonstigen Verhalten, persönlich aufsuchte, mußte einen wichtigen Grund haben.

Er frug mich sogleich in barschem Ton, wielange ich noch mit der österreichischen Agentin verkehren werde, ohne das durch sie erlangte Material weiterzuleiten? Es sei gewiß tüchtig von mir, fuhr er etwas freundlicher fort, daß ich mit dieser wichtigen Person des feindlichen Geheimdienstes Beziehungen angeknüpft habe, aber nun heißt es auch, diese entsprechend auszunützen. Oder — und er blickte mich durchdringend an — sei ich etwa ihr ins Garn gegangen?

Ich war einer Ohnmacht nahe. Zu schnell, zu plötzlich war das Leid über mich gekommen. War alles zusammengebrochen. Dann aber faßte mich knabenhafte Wut. Also hatte sie mich betrogen! Ihre ganze Liebe war nur Berechnung gewesen. Ausspionieren hat sie mich wollen, nicht mehr war ich ihr, als ein dummer Junge, der in ihr Netz gegangen. Ich faßte mich und erklärte, daß ich hoffe, bald günstigen Bericht erstatten zu können. Daß aber das Mädchen sehr verschwiegen sei und ich vorsichtig Vorgehen müsse. Damit gab sich mein Vorgesetzter zufrieden.

Bis abends war der Haß und die Verbitterung gegen das Mädchen in mir geschwunden. Nein, auch wenn es wahr wäre, ich glaubte es nun fast nicht mehr —, daß sie meine Liebe nur erregt hätte, um mich auszuhorchen —, hatte sie es denn je getan? Nie, nie eine Frage, nachdem die erste nach meinem Schicksal unerwidert geblieben war. Ja. nun wußte ich es genau, auch sie liebte mich — was immer sie sonst auch tue. Natürlich, nun stimme wohl auch mein Verdacht, der mich überfallen hatte, als ich sie damals im Cafe gesehen. Sei es auch, sie liebt mich und ist für mich nur die Geliebte. Und mache sie dann etwas anderes, als ich es für mein Vaterland tue? Was mußte sie leiden, sie, das zarte Mädchen?, Aber /ch, sollte ich nur Verräter an unserer Liebe werden? Freunde, es war zuviel für mich. Heute noch spüre ich den quälenden Schmerz, der mich damals fast wahnsinnig gemacht hatte. Verräter mußte ich sein

— so oder so. Verräter an meiner Liebe — oder Verräter an meiner Heimat, an Mütterchen Rußland. Und ich war noch so jung! Bedenkt, Freunde, kaum siebzehn Jahre!

Abends traf ich das Mädchen an der gewohnten Stelle. Ich zitterte am ganzen Leibe, als sie kam. Schräg uns gegenüber, auf einer Bank, beleuchtet von dem Licht einer Laterne, saß ein Herr und las eifrig in einer Zeitung. Es war der morgendliche Besucher. Also unter Kontrolle. Früher hatte ich ja nie etwas anderes gesehen, als nur sie, die Geliebte. Sie fragte mich besorgt, ob ich krank sei Ich wäre so blaß, ob ich Fieber habe. Dabei tastete ihr fein- fingeriges Händchen an meinem Puls. Ein wenig müde, nur, erwiderte ich, und meine Stimme brach fast vor innerem Schluchzen. „Komm", sagte sie, „gehen wir, du bist krank." Und da merkte ich, wie sie starr zu dem Zeitungsleser hinübersah. Er muß ihr bekannt gewesen sein. Wir standen auf und gingen, wie immer Hand in Hand, Freunde, zwei Kinder, die zu frühes Leid erfahren hatten! Wir schwiegen. Auch sie scheint damals schon etwas geahnt zu haben, geahnt zu haben, daß unsere Liebe in Gefahr.

Du bist ein Mann, sagte ich mir, du dienst Rußland, tue deine Pflicht! Und ich begann sie zu fragen. Was sie wohl denke, wie der Krieg ausgehen werde? Sie schwieg. Ob sie Rußland liebe? Sie schwieg. Vorsichtig wollte ich mich weitertasten. Aber sie schwieg. Nun war es aber auch mit meiner Beherrschung vorbei. Was sie denn habe? Sie weinte still vor sich hin. Dann sagte sie traurig mit ihrer süßen Stimme. .„Wozu die Fragen? Dürfen wir uns denn nicht lieben, als Menschen, ohne Hinterhalt?“ Oh, wie schämte ich mich! Ich wollte sie küssen. Aber sanft schob sie mich von sich. Da überwältigte mich mein Unglück. Ich rannte weg.

Am nächsten Morgen gab mir meine Quartiergeberin ein Zettelchen. Dienstlich, in Geheimschrift. Darauf stand, daß ich die Aufgabe habe, die bewußte Geheimagentin heute abend zum Südausgang des Parks zu bringen. Dort werde man uns erwarten. Ein Auto stände bereit.

Das war das Ende. Ihr — und unser Ende. Das wußte ich. Nicht zum erstenmal wurde ein feindlicher Agent auf diesem Weg über die Grenze nach Rußland gebracht. Ich mußte sie retten vor dem sicheren Tod. Aber schon war das Netz zu eng zusammengezogen. Daß auch ich ständig beobachtet werde, war sicher. Wie sollte ich sie warnen? Wie sie retten? Auf den Knien bat ich Gott und alle Heiligen um Hilfe. Wie ich diesen Tag überleben konnte, ich weiß es nicht. Ueberall sah ich Augen, die mich beobachteten. Ich, der ich bisher fast nichts getrunken hatte, soff Schnaps, bis wohltätig die Angst wie in Nebel zerfloß Gegen Abend hatte ich mir einen Plan zurechtgelegt. Ich würde sie retten. Gleich, wenn sie komme, werde ich mit ihr auf die belebte Straße gehen. Dann werde ich ihr alles sagen, damit sie fliehen könne. Dann aber werde ich zurück in den Park eehen und auf der Bank, auf unserer lieben Bank, werde ich mir eine Kugel in den Kopf schießen. Ein Ende machen. Ein Ende dem Verräter. Ich war ganz ruhig und kalt. Aber es kam anders. Ich wartete vergebens auf sie. Bis in die Nacht. Sie scheint Verdacht geschöpft zu haben und blieb verschwunden. War vielleicht schon über die Grenze geflohen. Ich habe sie nie wieder gesehen, oder doch?? Ich suche sie bis heute.

In jedem Frauenantlitz suche ich ihre geliebten Züge. Ich habe dann erfahren, daß sie, aus Galizien stammend, eine der wichtigsten Agentinnen des österreichischen Geheimdienstes gewesen ist. Ein kleines Mädchen, ein Kind fast. Sie soll eine große polnische Patriotin gewesen sein, erzählte man mir.

Mich hat man bald darauf in die Heimat abberufen und einem strengen Verhör unterzogen. Die Geschichte meiner Liebe habe ich aber verschwiegen, nicht aus Furcht —, weil sie mir zu heilig war. Man konnte mir nichts nachweisen, und da ich sonst gut gearbeitet hatte — und wohl auch meines Vaters wegen — durfte ich im Dienst bleiben. Ich wurde schweigsam, ein unfroher Mensch. Ich verachtete mich und sehnte mich nach der Geliebten. Hoffte und fürchtete, mit ihr wieder zusammenzutreffen. Dann kam die Revolution, der Bürgerkrieg. Meine Eltern waren bei einem Straßenkampf getötet worden. Ob von den Kugeln der Weißen oder der Roten — wer kann es sagen? Ich mußte bei den Truppen kämpfen, die gegen Polen eingesetzt wurden. Voll des Ekels vor mir unter denen, für die ich kämpfte. Und immer noch mit der leisen Hoffnung im Herzen, sie, die Geliebte der lauen Nächte, wiederzusehen. Vor Warschau wurde ich verwundet und gefangen. Als ich im Spital aus meiner Bewußtlosigkeit erwachte, neigte sich eine Pflegerin über mich. Es waren ihre Augen, ihr liebes Gesichtchen! Denn schon schwanden mir wieder die Sinne. Ich weiß nicht, ob sie es war oder nur ein Bild meiner Sehnsucht. Als ich wieder zu mir kam, konnte niemand mir Auskunft geben. Ich bin dann in Polen geblieben. In einer Fabrik fand ich Arbeit. Ich liebte das Land, da es die Heimat meiner entschwundenen Geliebten war. Oft meinte ich, sie zu sehen, aber es war ein fremdes Gesicht. Ich suchte sie, wanderte von Arbeitsstätte zu Arbeitsstätte, immer hoffend, daß das Schicksal uns wieder vereine. Dann, nach Jahren, bin ich stiller geworden. Hütete in mir das liebliche Bild der Erinnerung wie einen Schatz. Ein Einsamer war ich geworden, einer, der abseits steht. Nur wenn die lauen Nächte des Frühlings kamen, dann faßte es mich wie Trunkenheit und der Schlaf floh mich. Und ich sprach mit ihr, und ich sagte ihr wieder die Worte der Liebe, und ich bat sie, mir zu vertrauen, mir zu verzeihen.

Noch einmal glaubte ich, sie gesehen zu haben. Als ich im zweiten Weltkrieg aus dem von den deutschen Truppen angegriffenen Warschau flüchtete, wurde — nahe der rumänischen Grenze,upser Eisenbahnzug von Flje- , gern angegriffen, Wir mußten die Wagen verlassen und in Deckung gehen. Da sah ich vor mir eine Frau mit zwei Kindern. Ober uns surrte ein Flugzeug. Da wandte die Frau sich um und blickte, die beiden Kinder angstvoll an sich gepreßt, gegen Himmel. Und es war i h r Gesicht! Reifer, älter, mütterlich — aber doch ihr liebes Gesicht! Ich wollte eben auf sie zueilen, sie fragen, mir Gewißheit verschaffen — da — ein greuliches Sausen und Heulen, ein Krachen — und ich fühlte mich, wie von einem Sturmwind erfaßt weitergeschleudert, sah einen Bretterschuppen vor mir aufwachsen, fühlte den harten Anschlag meines Körpers — und dann war es still und dunkel. Als ich von meiner Betäubung erwachte, stand der Nachthimmel über mir. Ich war allein, ringsum niemand. Mühsam habe ich mich weitergeschleppt, später — von einem Fahrzeug aufgenommen — bin ich über die Grenzbrücke gelangt. Die Frau mit den beiden Kindern habe ich nie wieder gesehen. Ich weiß ja nicht, ob es nur eine Täuschung gewesen oder ob sie es wirklich war, sie, die Geliebte meiner jungen Tage. Die erste und einzige. Unter den polnischen Flüchtlingen in Rumänien habe ich sie gesucht — und nicht gefunden. Immer, wo ich hörte, daß aus Polen Entflohene sich befinden, habe ich gehofft, ihr Antlitz wiederzusehen. Auch auf der Bank bin ich wieder gesessen — allein und blutenden Herzens. Vielleicht ist sie längst gestorben und nur ein Erinnerungsbild äfft mich von Zeit zu Zeit. Weiß ich überhaupt noch, wie sie aussah? Ist das Bild, das ich in mir zu tragen meine, überhaupt noch das wahre, wirkliche? Manchmal ist mir, als wüßte ich es nicht mehr, als wäre es entschwunden und fremde Gesichte tauchen auf, gleichgültige, und verdecken das ihre . ..

Aber mein Herz, das Herz des Ivan Ivanow, des Geheimagenten, das Herz des polnischen Studenten, das Herz des Deserteurs, des Arbeiters in Polen, das Herz des Heimatlosen des Fliehenden. der hier gelandet ist, das Herz des Liebenden — mein Herz, das unteilbare, das brennende Ich meiner Wandlungen mit Masken, es ist das gleiche geblieben, das Herz des Siebzehnjährigen in den blütenduftenden Gartennächten, da es in Liebe entflammte.

Verzeiht, Freunde, ich habe euch mit der Geschichte meiner Liebe belästigt, der ersten Liebe eines Knaben, die nicht stirbt und weiterbrennt in Ivan Ivanow, der alt wird und nicht vergessen kann...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung