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Die Verheißung

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Nachdem die Türken die Stadt der Städte, das ruhmstrahlende Konstantinopel, erobert hatten, wurde unter der christlichen Bevölkerung noch sehr lange von der früheren Zeit gesprochen und vorzüglich von jenem Tage im Mai, dem Tage des Wehklagens. Allmählich indessen starben die alten Leute ab, die Jüngeren aber hatten schon keinen anderen Zustand mehr erlebt als jenen, bei welchem der Sultan der Sultane und seine Würdenträger in den alten Palästen der christusliebenden Kaiser residierten; und die Gewöhnung machte sie gleichgültig. Endlich gab es nur noch ganz wenige Greise, die sich an den Tag der Tränen zu erinnern vermochten.

Unter diesen war ein Hafenarbeiter, dessen Kräfte kaum mehr zum Tragen von Lasten ausreichten, so daß er meist müßig am Hafen in der Sonne umherlungerte und sich häufiger ein Almosen erwarb als etwa ein Entgelt für kleine Handreichungen; manchmal bot er sich auch Fremden an, er wollte sie um ein Billiges zu den Merkwürdigkeiten der Stadt führen. Dieser Mann pflegte folgendes zu erzählen:

Weil meine Eltern sehr früh gestorben waren, verbrachte ich meine Kindheit bei meiner Großmutter, die eine wohlgeborene Frau war. Darüber ist nicht weiter zu reden, es hat viele Wohlgeborene gegeben, deren Kinder und Enkel hernach in die Sklaverei oder in den Bettelstand gerieten.

Ich habe nur ungewisse Erinnerungen an die Zeit vor dem großen Unglück. Höchstens entsinne ich mich, daß häufig Bewaffnete durch die Stadt zogen und daß das Bild der wegweisenden Muttergottes sehr feierlich umhergetragen wurde und dabei die Leute auf den Straßen laut beteten; manche weinten auch. Einmal hat die Köchin meiner Großmutter mich zum Tor des heiligen Romanos mitgenommen, wo ihr Mann Wache stehen mußte, und wir haben ihm Essen gebracht. Weiter erinnere ich mich an viel Lärm. Es wurde oft getrommelt, und es wurden viele Glocken geläutet. Wie das ist, das wißt ihr nicht mehr, der Sultan hat ja das Glockenläuten verboten. Auch erinnere ich mich an den Donner von Geschützen. (

Die Großmutter, die eine strenge Frau war und sich mit vielen Wohlgerüchen salbte, nahm mich jeden Morgen bei der Hand und ging mit mir über das Augu-steum in die engelerbaute Kirche der Göttlichen Weisheit. Hinter uns ging ein alter Diener, welcher meiner Großmutter das Gebetbuch nachzutragen hatte und • auch die Kerzen, die ihr von ihrem Landgut zugeschickt zu werden pflegten und die sie in der Kirche aufstellte. Und so geschah es auch an jenem Tage zu Ende des Maimonats; es war ein heller und windiger Tag, und die Sonne schien. Das trifft nicht zu, was später erzählt worden ist, daß der Himmel sich geschwärzt und die Sonne sich verborgen habe, weil sie den Fall der gottbehüteten Stadt nicht anzusehen vermochte.

Wie es auf den Straßen und auf dem Augusteum zuging, das kann ich in meinem Gedächtnis nicht mehr auffinden. Ich weiß nur, daß in der Kirche ein sehr ungewöhnlicher Zustand herrschte.

Ich war in der Kirche an manchen hohen Festtagen gewesen, wo ich dann hatte sagen hören, sie sei heute sehr gefüllt. Dennoch hatte sich auch an solchen Tagen die größte Menschenmenge in diesen riesigen Hallen gleichsam verloren. Jetzt aber war ein Gedränge in der Kirche selbst wie in den Vorhallen und Anbauten und auf den Galerien, und immer neue Menschen strömten hinein und preßten sich aneinander. Sie waren auch sehr laut, manche schrien und heulten, und viele wurden von den Drängenden zu Boden gestoßen. Ich konnte wegen meines kindlichen Wuchses nichts sehen außer den vielen Menschen; nur ein dünnes Weihrauchwölkchen sah ich noch, das über den Köpfen und über der Bilderwand des Hochaltars schwebte. Dort wurde Messe gehalten, und wir wollten dahin. Aber es war kein Durchkommen. Die Großmutter schalt mit ihrer strengen und überdeutlichen Stimme, die Leute möchten ihr Raum geben, allein an diesem Tage hörte niemand auf sie. Es war mir auch nicht möglich, meine Hand in der ihren zu behaupten, dazu war die Gewalt der Drängenden zu groß.

Es nisteten unter den Wölbungen der Kirche und besonders unter der Hauptkuppel ungeheure Mengen von Schwalben. Niemand hatte je versucht, sie auszutreiben, was wohl auch unmöglich gewesen wäre, sondern viele hatten eine Freude an ihnen und an dem Lobgesang, den durch ihre Zungen die gesamte Schöpfung an diesem Orte darbrachte. Jetzt aber mußten sie erschreckt sein durch die zahllosen Menschen und deren Lärm, und sie schössen unaufhörlich angstvoll umher in dunklen Wolken, die auch mich sehr beängstigten, wenn sie durch das buntfarbige Licht glitten, das aus den vierzig Glasfenstern der Hauptkuppel herniederfloß. Und es war mir auch unheimlich, daß heute über dem Getöse der Menschen kein Laut von den Schwalben zu vernehmen war, und sie erschienen mir wie unruhige Seelen, von denen ich hatte reden hören.

Ich könnte hier nun vieles von den Vorfällen in der Kirche berichten, etwa von dem, was die Leute redeten und schrien und wie einer auf eine Säule kletterte und von dort die alte Weissagung hinunterrief, nämlich, daß die Türken nur bis an den Springbrunnen des Atriums gelangen würden; dort werde ihnen ein Engel mit flammendem Schwert entgegentreten und sie nicht nur vom Heiligtum weisen, sondern sie aus der Stadt ins Meer treiben. Viele nahmen das mit Weinen und Jauchzen auf und manche Frauen mit Krämpfen, gleichwie von Fallsüchtigen; und indessen schlugen von draußen her schon die Äxte der Ungläubigen an die Tore, welche verschlossen worden waren.

Ich klammerte mich an eine ältere Frau, die ein grünes Kleid mit Marderbesatz trug. Ja, es war mit Marder besetzt, daran erinnere ich mich genau, und am linken Ärmel war der Besatz eingerissen, das mochte im Gedränge geschehen sein. Darüber hatte ich die Großmutter und ihren Diener, die eben noch ganz nahe von mir gewesen waren, aus den Augen verloren, und ich will gleich hier sagen, daß ich sie nie mehr gesehen habe. Denn als ich am Abend dieses Tages an ihr Haus kam, war es ausgebrannt und leer, und ich habe nichts wiedergefunden als ein handgroßes beinernes Kamel, mit dem ich zu spielen pflegte, das lag geschwärzt im Schutt. Ich bin dann später von anderen Leuten aufgenommen und genährt und zur Arbeit angehalten worden.

Inzwischen müssen in der Kirche schon alle die Greuel, welche ja bekannt sind, ihren Anfang genommen haben: das Eindringen der Türken zu Fuß und zu Pferde, das Schänden der Heiligtümer, das Plündern, Zerstören und die Fortführung der Frauen und Jungfrauen und die Tötung ungezählter Menschen geistlichen und weltlichen Standes; und es muß der Sultan Mohammed die Stufen zum Hochaltar hinaufgeritten sein, muß auf ihm das Gnadenbild der wegeweisenden Muttergottes, der allheiligen Immerjungfrau, gevierteilt und die Gebete der Ungläubigen verrichtet haben. Von all diesem aber habe ich nichts wahrgenommen..

Ich gelangte an einen Nebenaltar, vor dem sich nur wenige Menschen befanden. Ein Priester las hier die Messe, ein seh alter Mann, über seinen Namen ist nachher sehr häufig gesprochen worden. Aber welcher von den vielen Geistlichen des großen Tempels es gewesen ist, darüber hat man zu keiner Einigkeit gelangen können. Seinen hohen Jahren zum Trotz hatte er noch eine sehr klare und sehr schöne Stimme, deren Klang ich auch heute noch im Ohr zu haben meine. Doch mag es auch sein, daß ich ihn in meiner Erinnerung mit dem Klang der Kirchenglocken verwechsle, den ja von den Heutigen niemand mehr kennt, es sei denn, er habe sich in christlichen Ländern aufgehalten; ich selber habe ihn seit meiner Kindheit nicht mehr gehört.

Jedes der von dem weißhaarigen Priester gesungenen Worte war sehr deutlich zu verstehen; denn der Lärm, welcher das große Schiff der Kirche erfüllte, drang hieher nur als ein dumpfes und eintöniges Brausen wie des Meeres, und es geschah nur selten, daß sich aus dem allgemeinen Getöse und Jammergeheul etwa ein Bündel einzelner Aufschreie schrill hinaushob.

Sehr genau erinnere ich mich noch heute, wie meine Verstörung und mein Entsetzen um ein weniges geringer wurden, als ich den weißhaarigen Priester durch die Pforte der Bilderwand aus dem Allerheiligsten treten und uns, den rechten Arm hoch ausgereckt, das lebenspendende Kreuz zur Anbetung entgegenhalten sah. Hier, so gewahrte ich, geschah noch etwas in der gleichen Weise, wie es seit je geschehen war, und so gab es denn ein Unverrücktes und Dauerndes inmitten aller Furchtbarkeit und Wirrnis. Dies Gefühl behauptete sich, wie mir scheinen will, in mir, selbst als ich innewerden mußte, daß die Furchtbarkeit und Wirrnis sich anschickten, von der Kuppelhalle, vom Hauptschiff aus auch hieher sich fortzupflanzen.

Mittlerweile hatte der Priester die Wandlung vollzogen, und alle, die in Angst und Verzweiflung auf den Stufen knieten, beteten den Leib und das Blut an, und ich tat es gleich ihnen, so wie meine Großmutter es mich gelehrt hatte. Da hörte ich hinter mir den Lärm gellender werden und herandrängen, ich unterschied hastige und dröhnende Schritte, und wie ich mich umwandte, da gewahrte ich vier oder fünf türkische Krieger, die schräg von links her zwischen den Säulen heranstürzten, noch in ziemlicher Entfernung, und die“ bloßen Säbel erhoben hatten; und sie schrien und keuchten zugleich. Nun wichen von den Umherirrenden viele zur Seite, und ebenso taten auch jene, die bisher vor den Stufen des Altars ausgedauert hatten, so daß ein freier Raum sich erstellte, durch welchen die Türken auf den Altar zueilten. Ich aber blieb an meiner Stelle, denn es war ja niemand, der mir gesagt hätte, wohin ich mich wenden sollte.

Der Priester stand sehr sichtbar vor dem Eingang der Bilderwand und hielt das Sakrament in den Händen, und es hätte nun nach der Ordnung die Ausspendung des heiligen Leibes beginnen sollen. Aber da kniete niemand, ihn zu empfangen, da rannten die Feinde des Kreuzes herzu, und ich war gewiß, daß das Heilige in den nächsten Augenblicken in ihre Hände und in ihre Schändung fallen müsse.

Der alte Priester hob langsam den lebendigen Erlöser in die Höhe und stand nun regungslos da, gleich einem farbigen und sehr zu bewundernden Standbild. Dies schien mir sehr lange .zu währen; ja, es dünkt mich auch heute noch nicht abgeschlossen, obwohl es nur die Dauer weniger Pulsschläge in Anspruch genommen haben magi wie denn überhaupt alle diese Vorgänge in einer sehr kurzen Zeit stattgefunden haben müssen, einer viel kürzeren, als ich sie hier zum Erzählen benötige.

Darauf kam eine Bewegung über den Priester; er trat ruhig die Stufen hinunter und schritt unbeeilt durch die ganze schräge Länge des Raumes nach rechts auf die marmorne Wand zu, und es erschien mir höchst wunderbar, wohin er denn wollte, um sich und das Sakrament in Sicherheit zu bringen; denn an jener Seite fand sich nirgends ein Auslaß in der Mauer.

Währenddessen stürmten die türkischen Krieger schräg von links her an und änderten nun ihre Richtung ein wenig, um desto geschwinder den Geistlichen zu erreichen. Er aber verstärkte seinen gelassenen Schritt nicht', und ich konnte es nicht begreifen, daß er dennoch von den Verfolgern noch nicht eingeholt worden war.

Und nun gewahrte ich noch etwas, das sich mir sehr fest einprägte. Es hatte sich nämlich eine der geängstigt umherflatternden Schwalben auf des Priesters rechte Schulter niedergelassen und saß nun dort und regte sich nicht, höchstens daß sie den Kopf ein klein wenig hin und her bewegte. An den Stufen des Altars aber waren Blumen in Gefäßen aufgestellt gewesen, und als der Priester die Stufen hinabschritt, da hatte der Saum seines Gewandes eines der Gefäße gestreift und es umstürzen gemacht; so hatte sich eine Rosenranke in dem Gewebe verfangen, und die zog er nun mit sich fort.

Der Priester näherte sich der Mauer zur Rechten des Raumes und hielt das Heilige immer noch hoch über seinem Haupte, so daß jedermann es sehen mußte,. Mir aber zitterte das Herz, weil ja nun im nächsten Augenblick die Mauer ihn zum Stehenbleiben nötigen und er also in die Gewalt der Verfolger fallen mußte.

Allein, nun geschah es, daß er nicht stehenblieb, vielmehr das Gleichmaß seiner Schritte fortsetzte; fortsetzte in die harte Mauer hinein. Ich weiß nicht, ob sie sich vor ihm gespalten hat oder ob er in sie hineinschritt wie in weiches Wasser oder unwiderständige Luft. Aber das weiß ich, daß sie ihn einließ und allen Blicken entzog mit dem Heiland in den hocherhobenen Händen, mit der Schwalbe auf der rechten Schulter und mit dem Rosenreis im bestickten Saum seines Gewandes. Ja, dies weiß ich, dies habe ich gesehen; gesehen mit meinen Augen. Und das letzte, das ich erblickte, das war das Rosenreis am wehenden Saum seines Gewandes.

Während des, Ganges von den Altarstufen zur Wand hatte jedermann geschwiegen, bis auf die rufenden und keuchenden Türken, find so hatte sich vor allem Getöse in der Kirche hier eine sonderbare Stille aufgerichtet. Jetzt, da die Mauer auf so wunderbare Weise Christus und seinen Priester aufgenommen hatte, da schrien die Bekenner des Glaubens, die fioch in dem Räume waren, laut auf und stürzten der Mauer zu, als müsse sie auch ihnen den rettenden Einlaß gewähren. Die türkischen Krieger blieben stehen, starrten auf die geschlossene Wand, sahen einander an und ließen die Säbel sinken. Und als sie sie eine kleine Weile danach wieder erheben wollten, um ihren Zorn an den Christen auszulassen, die sich an die Mauer drängten, da schollen sehr laute Hornstöße durch die Kirche. Dies war, wie mir später gesagt worden ist, das Zeichen, daß der Sultan durch seinen Leibbläser hatte geben lassen, nachdem er mit eigener Hand einen der Plünderer erschlagen hatte. Und hiemit verkündete er, daß die Kirche der Göttlichen Weisheit von diesem Augenblick an mit allen ihren Schätzen sein Eigentum sein sollte, und an seinem Eigentum sollte sich keiner mehr vergreifen dürfen. Nun hörte das Morden auf, und die Christen wurden paarweise gefesselt, davongetrieben, um in die Sklaverei verkauft zu werden. Anderen aber ist es gelungen, sich hinter den Säulen und Hecken und auf den Galerien zu verbergen und später in der Dunkelheit zu entkommen.

Aber von all diesem habe ich nichts in meinem Gedächtnis aufgehoben, und auch daran, wie ich selber die Kirche verlassen habe, kann ich mich nicht erinnern. Das aber weiß ich, was ich in jenem Nebenraum mit meinen Augen gesehen habe, und außer mir wußten es noch viele andere. Denn die Erzählung dieses Herganges hatte sich durch die Augenzeugen sehr schnell in der Stadt, verbreitet, und sie behauptete sich in den Herzen der Menschen vor sehr vielen anderen Erzählungen, die in den folgenden Tagen von Lippen zu Ohren und abermals von immer neuen Lippen zu immer neuen Ohren getragen wurden. Es ist auch in der Folge und selbst nach vielen Jahren davon die Rede gewesen, man höre mitunter aus dem Mauergestein der Kirche geistlichen Gesang, der vom Zwitschern einer Schwalbe begleitet sei; aber niemand habe je herausbringen können, woher es komme.

Ich denke mir, ich bin wohl der letzte noch Lebende von all denen, die es mit angesehen haben, wie der Priester in die Wand ging. Deswegen erzähle ich diese Geschichte, damit sie und ihre Verßeißung nicht untergehen. Die Verheißung aber, so redete schon damals die allgemeine Stimmung und so glauben wir mit allem rechtgläubigen Volk, die Verheißung ist diese, daß der Priester wiederkehren wird, wenn die Herrschaft der Ungläubigen sich verzehrt hat. Er wird hervortreten aus dem Mauerwerk, den unge-schändeten Christus in den Händen, und wird den heiligen Leib allen Gläubigen austeilen, und es wird kein Unterschied sein zwischen den westlichen und östlichen Anbetern des Kreuzes. Die Rose wird blühen und die Schwalbe wird singen, und das Wandgestein wird aufleuchten wie Feuer, und sp wird in allen ihren drei Reichen auch die natürliche Welt teilhaben an der neuen Verklärung.

Bis dahin aber sollen wir wissen, daß mitten in der geschändeten Kirche ein heiliger Raum ist, bis zu dem die Entweihung nicht hat vordringen können; ein Raum, darin alle Heiligkeit sich aufbewahrt hat bis an den Tag, da sie wieder wird offenbar werden; ein Raum, da Christus wohnt in Verborgenheit und Geheimnis. Und so ist der Tempel der Göttlichen Weisheit noch immer eine christliche Kirche und ein großes Heiligtum der Länder.

(Aus: Die Sultansrose und andere Erzählungen, Innsbruck-Wien; mit Bewilligung des Verlages Tyrolia)

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