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Der Mittelpunkt der Stadt

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Eine periphere Existenz? Meine Sprache verrät, daß ich in den Außenbezirken zu Hause bin, aber ich betrachte mich nicht als Randfigur. Die Menschen, die dort leben, sind vielleicht einander ähnlicher als hier, bei den Gebildeten, aber wir sind die Mehrheit, und für den, der Ohren hat, ist unser Schweigen beredter als alles Stammeln der Wohlgesetzten.

Ich schließe nicht aus, daß die Sehnsucht zur Mitte umso größer wird, je weiter davon entfernt wir sind. Ich kann nur für mich sprechen. Für mich war die Stadt, die ich sozusagen ständig im Rücken wußte, wie ein zu Stein verdichtetes Wunder, das ich hinnahm, wie es sich darbot: Zinnenbewehrte Mauern vor einem Meer von Dächern, zum Himmel ragende Türme. Die Inschriften über den Toren waren schwer zu entziffern, ihr Sinn noch schwerer zu ergründen, umso deutlicher und verständlicher dafür die Verbotsschilder, die mir und meinesgleichen den Eintritt verwehrten. Jeder hat seinen Platz, dachte ich, während ich meinen Garten bestellte.

Ich war ein guter Gärtner. Ich spürte, was ein Garten braucht, und tauschte, wie es unter Gärtnern üblich ist, über den Zaun hinweg meine Erfahrungen mit den Nachbarn aus. Dennoch war mir nicht wohl dabei. Während ich mich über das Wetter, Unkraut, Kompost und dergleichen unterhielt, war mir bewußt, daß die Sprache, in der das geschah, in Wahrheit nicht unsere eigene Sprache war, sondern aus der Stadt hinter unserem Rücken kam, und das war denn auch der Grund, weshalb ich jene beneidete, die dort verkehrten. Manche taten nur so, aber man war nie ganz sicher. Sie sprachen in Andeutungen, die ich nicht verstand, und das ärgerte mich. Ich war in meinem Stolz gekränkt.

Mit den zahllosen Lichtern, die dort angingen, sobald es dämmerte, war die Stadt wie ein verdichtetes Gegenbild des Sternenhimmels darüber. Wenn wir nachts auf einen der Hügel stiegen, von denen aus man einen Teil der Stadt überschauen kann, fügten sich auch die Lichter vielfach zu Figuren, die irgendeinen Sinn vermuten ließen, und ihr Abglanz wölbte sich hoch hinauf zu einer Kuppel aus zartem Nebel.

Nie seither ist mir die Stadt so fabelhaft und großartig erschienen, das Aufregendste freilich waren die ersten Schritte, der erste Schritt über die Schwelle eines der Tore. Wer einmal A gesagt hat, muß nicht nur B sagen —: er kann es auch. Tastend zunächst und ein wenig ängstlich, bald aber schon behender und entsprechend mutiger bewegte ich mich weiter. Der Zufall und angeborene Neugier bestimmten meinen Weg auf diesen ersten Ausflügen, und gewiß waren es auch Erinnerungen an Geschichten, die ich draußen gehört hatte. Sie bewirkten, daß ein und das andere Haus mir so merkwürdig bekannt vorkam, daß ich eintrat und mich darin umsah, und daß ich dann auch wie selbstverständlich hinnahm, als ich feststellte, daß es bei diesen Häusern unmöglich war, den Eingang als Ausgang zu benützen. Die Umgebung, in der ich mich wiederfand, war nicht mehr dieselbe.

Auch ich war, wenn ich von diesen Gängen heimkehrte, nicht mehr derselbe.

Gespräche, bei denen wir unsere Erfahrungen verglichen, brachten uns schließlich darauf, daß die Stadt nicht einfach eine Ansammlung von Häusern, Straßen und Plätzen war, in einer halb absichtlichen, halb zufälligen Ordnung, sondern an Dichte zunahm, je weiter man sich von ihrem Rand entfernte und in sie eindrang, und daß man darauf auf das Vorhandensein eines Punktes der höchsten Verdichtung schließen konnte. Als das Wort endlich gefallen war, verstummten wir erschrocken, denn es war jedem klar, daß unsere Ausflüge damit ihre spielerische Unverbindlichkeit verloren hatten. Jeder Schritt, den wir hinfort taten, war auf diesen Punkt bezogen, führte zu ihm hin, von ihm weg oder an ihm vorbei, und unser selbst würden wir erst wieder sicher sein, wenn wir den Punkt gefunden hatten. Ich wußte es. Keiner fragte, als ich aufstand und ging, aber ich spürte, wie ihre Blicke mir folgten. Auch sie wußten, was mich bewegte.

Ich war dann nicht der einzige, der sich auf die Suche machte. Wir zogen aus wie Eroberer, für eine lange Fahrt und unbestimmte Gefahren gerüstet, einer den anderen mit einer Spur von Eifersucht messend. Wir hielten uns nicht lange in den bereits bekannten Gegenden auf. Da wir uns einig waren, daß es nichts einbrachte, wenn wir auf den breiten Prachtstraßen blieben, die jeweils nach einem point de vue ausgerichtet waren, der mit unserem Ziel nichts zu tun hatte, und weil wir auch vermeiden wollten, uns in dem Gewirr der schmäleren Straßen und Gassen zu verlaufen, schlugen wir uns entschlossen quer durch die Häuser und sonstigen Bauwerke, die sich uns in den

Weg stellten, jede einigermaßen gangbare Abkürzung ausnützend.

Anfangs kamen wir ziemlich rasch voran,, obwohl der Haufen, der aufgebrochen war, bald merklich zusammenschmolz, weil es immer wieder ein paar besonders Kluge gab, welche die Vorhut, zu der auch ich zählte, zu überholen versuchten. Wenn wir in ein Gebäude hineingerieten, wo sie sich schon auszukennen glaubten, verschwanden sie durch Nebenräume oder Tapetentüren auf Nimmerwiedersehen. Mit zunehmender Dichte wurden allerdings auch wir langsamer. Die Luft wurde stickig, schwer von Staub und seltsamen Gerüchen, die Mauern dicker, die Passagen kompliziert und verwinkelt, und die Schatten, die wir aufscheuchten, waren oft fremdartig und furchterregend, oft auch von bezaubernder Schönheit und geheimnisvoller Anziehungskraft. Wer für Ablenkungen anfällig war, blieb hier sehr leicht hängen. Dann wieder fanden wir uns vor versperrten Türen, in deren Schlösser keiner von unseren Schlüsseln paßte. Wo es ging, behalfen wir uns mit Brechstangen oder einem improvisierten Rammbock, aber manchmal blieb uns nicht erspart, den Mechanismus auszutüfteln. Obwohl wir dann womöglich Tempo zulegten, war eine solche Verzögerung kaum aufzuholen. Freilich dachte niemand mehr ernstlich an Zeit oder Zeitverlust, wir stolperten, stießen und drängten voran, wie es eben ging, treppauf und treppab, durch Korridore, Säle und intime Gemächer, Küchen und

Keller, ohne viel nach rechts und links zu schauen. Der Kompaß war für uns wichtiger als die Uhr.

Wenn ich den Eindruck beschreiben soll, den die Umgebung auf mich machte, so würde ich sagen, daß ich darin eine fortschreitende Steigerung von zwei gegensätzlichen Eigenschaften empfand, Austauschbarkeit und Endgültigkeit, so wie man etwa in einem roh behauenen Stein unter der Oberfläche noch viele verschiedene Gestalten zu sehen glaubt, obgleich für den Bildhauer längst feststeht, was daraus werden soll. Erst verschwand der Zierat, dann das Detail, und zuletzt waren da nur mehr unge-formte, nur durch die Struktur des Materials definierte Massen, während die Energien, die sich in ihnen stauten, so spürbar wurden, daß wir uns wie zwischen Gewitterwolken vorarbeiteten.

Endlich jedoch standen wir vor einer Wand aus blankem, glattem Fels von jenem häßlichen Dunkelgrau, wie es herauskommt, wenn man alle Farben eines Malkasten miteinander vermischt. Wie gefrorener Schlamm. Und dennoch gab es für uns keinen Zweifel, daß wir ganz nahe waren. Nur diese Wand trennte uns vom Ziel: Schon schichteten wir auf, was wir für einen solchen Fall an Sprengstoff mitgebracht hatten. Jeder suchte Deckung, wo er sie fand. Ich steckte die Lunte an. Ich lief. Ich warf mich auf den Boden.

Nach dem grellblauen Blitz, nach dem Donner und der Druckwelle, als der Pulverdampf sich verzog, war da ein Loch in der Wand, durch das ein mildes Licht hereinflutete. Wir krochen aus unseren Winkeln, hin zu dem Licht.

Vor uns breitete sich eine Ebene, flach und kahl bis zum Horizont. Ein kühler Wind schleppte Sandfahnen, und die Sonne stand hoch in einem wolkenlosen Himmel.

Die Daheimgebliebenen lachten uns aus, als wir ihnen beschrieben, was wir gefunden hatten. Ich bemühte mich, ihnen begreiflich zu machen, warum diese Leere im Mittelpunkt der Stadt das größte aller Wunder sei, aber es gelang mir nicht. Ein paar Sandfahnen sind nicht genug, um die Aufmerksamkeit zu fesseln. „Schau lieber auf deinen Garten”, rieten sie mir, und damit hatten sie natürlich recht. Mein kleiner Garten! Und wenn es sonst nichts wäre, auf das ich verweisen kann, so sehe ich ihn doch seither mit anderen Augen.

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