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Jugendliche Wanderschaft

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Durch das hochgelegene, verstaubte JLs Fenster warf die Gaslampe eines Haushofes an der Josefstädter Straße ein fahles Licht herab in den nächtlichen Keller. Es roch im Hause nach Benzin und Druckerschwärze. Mich fror auf dem eisernen Feldbett unter der dünnen Decke. Vergebens suchte ich nach den Erlebnissen des Tages zu schlafen. In dem dämmerigen Licht sah ich den Tisch, an dem ich würde studieren sollen, und daneben die Papierschneidemaschine, deren blankes Messer wie das Fallbeil einer Guillotine glänzte. Dazu ein Stuhl. Das war die Einrichtung der Behausung, die fortan dem Studenten der Rechtswissenschaften an der Wiener Alma mater und Adepten des journalistischen Berufes, Friedrich Funder, geboren zu Graz am 1. November 1872, beherbergen sollte. In dem Kellergelaß nebenan stand der ärmliche Maschinenpark für die Herstellung des neugegründeten .unabhängigen Tagblattes für das christliche Volk Österreichs“, die .Reichspost“: ein paar Abziehapparate und die Flachdruckpresse.

An dem Ablauf eines Kühlwasserbehäl-ters einer Maschine würde ich mich morgens waschen können. Würde ich bei Tage hier unten genug Licht haben zum Lesen und Arbeiten? Um mir mein Brot zu verdienen, würde ich tagsüber in der kleinen Druckereikanzlei Korrekturen zu besorgen haben. Bleibt mir dann Zeit genug zum Studium, das jetzt von dem bald Zwei-undzwanzigjährigen eilig und fleißig begonnen werden muß?

Diese Fragen nach der nächsten Zukunft beschäftigten ruhelos meinen Kopf. Vor vierzehn Tagen noch Theologiestudent an der Grazer Fakultät, Mitglied des zweiten Jahrganges im Alumnat der steirischen Hauptstadt, und nun hier! Arm, ohne Beistand der Eltern, die in Graz selbst mit Sorgen zu kämpfen haben, im Besitz eines einzigen, alten Anzugs. Zaghaft werden? Nein. Es war doch alles so wunderbar gekommen. In raschen Bildern zog es im Geist vorüber, das Werden des jungen Schicksals, das sich bisher in seltsamen Verkettungen gestaltet hatte.

Endlich kam der Schlaf über den müden jungen Menschen. Das Erlebte folgte üim in seine Träume.

Aus den ersten Lebensjahren blieben mir schwache Erinnerungen erhalten. Meine guten Eltern führten ein Bäckergeschäft in der Nähe der Stadt, „auf der Andritz“, unter den waldigen Abhängen des Schöckels, des mächtigen Hausberges der Grazer. Mein Urgroßvater, der einer alten bäuerlichen Kärntner, in Lind im oberen Drautal ansässigen Familie entstammte, hatte nach seiner Militärdienstleistung als „Verpflegsbäck“ unter Kaiser Joseph II. in der Steiermark sich niedergelassen. Das Bäckergewerbe ging in der Familie seit dreihundert Jahren durch die Generationen. Bilder aus meiner frühesten Jugendzeit zeigen meinen Vater als einen Mann, der mehr einem Lehrer oder einem Künstler gleicht, und neben ihm die Mutter, eine zarte Frau mit anmutigen Zügen. Ein Schuß Romantik muß mir, dem kleinen Buben, wohl seit je im Blut gewesen sein. Noch sehe ich mich, der kaum laufen gelernt hatte, fortgeschlichen vom Elternhause, nur begleitet von unserem treuen Zwergbernhardiner „Stuart“, an einem sonnigen Waldrand, etwas enttäuscht, daß der Berggeist, den ich doch schon dreimal, wie es sich gehört, gerufen hatte, nicht kommen wollte. Und meine Tante

Marie hatte mir die Geschichte vom Berggeist doch so genau erzählt! Die gute Tante Marie! Sie war die Älteste von elf Geschwistern meiner Mutter. Ich habe sie nie anders gekannt als alt, mit unzähligen Fältdien um die munteren Augen, gütig und voll spannender Geschichten, die einen bald zum Lachen, bald zum Gruseln bringen konnten. Zum Beispiel, wenn sie erzählte, wie Großvater Anton Mangold, der, schwäbischen Blutes, aus dem ungarischen Städtchen Tolna an der Donau stammte und vor 1848 kaiserlicher Tabakverwalter auf einem alten, befestigten Schlosse in der Gegend von Tarnopol gewesen war, in wochenlanger, abenteuerlicher Reise, als Krämer verkleidet, mit Gattin und den zwölf Kindern auf einem mächtigen, plachenüberdeckten Wagen aus Galizien nach Graz gefahren war, um sich hier als Ruheständler niederzulassen. Tief prägte es sich mir ein, wie diese Fahrt aus dem fernen kaiserlichen Kronland durch Bäche und Flüsse und durch finstere Wälder ging, in denen zuweilen an der Straße ein paar Räuber aufgeknüpft von den Bäumen hingen. Und wie der Großvater, in menschenferner Waldwildnis angefallen, den Räubern ein Schnippchen schlug, indem er ihnen am Wareninhalt des Wagens zeigte, daß er nur ein mit seinem Schock Kinder reisender „Bandelkramer“ sei, der aber gerne mit den Herren Räubern den Inhalt seines vollen Tabakbeutels und seine Barschaft, zwölf Silberzwanziger, teilen wollte.. Es; atmete der begeisterte Zuhörer immer freudig auf, wenn dann der Räuberhauptmann nicht nach dem versteckten Silbergeschirr und den Spargroschen des unerkannten kaiserlichen Verwalters forschte und als richtiger ritterlicher Ungar sogar einen Spießgesellen dem Großvater mitgab, damit er ungefährdet mit den Seinen die einsame Waldschenke , erreichen und in diesem Hauptquartier der Briganten ruhig schlafen könne.

Es gab' tausenderlei Geschichten, die sorgfältig mit malerischem Beiwerk versehen waren. Man konnte nie müde werden, sie wiedererzählen zu hören.

Tante Marie bezog als Beamtenwaise eine „Kaiserliche Gnadengabe“, wie der Titel hieß, vier Silbergulden monatlich. Während meiner Gymnasialzeit beglückte sie midi nicht selten mit einem blanken Gulden aus diesem Bezug, den sie wie eine vom Kaiser persönlich empfangene Ehre behandelte. Es war in späteren Jahren mein Schmerz, daß ich ihr, die ich sehr geliebt hatte, vor ihrem Tode nicht noch zu vergelten vermochte, was sie in nimmermüder Liebe mir getan.

Ein Preissturz an der Wiener Produktenbörse und ein unglücklicher Mehlemkauf brachten meinen Vater um seinen Gewerbebetrieb auf der Andritz. Es kamen über die Eltern bitter sorgenvolle Zeiten. In dem obersteirischen Städtchen Judenburg suchte Vater eine neue Existenz zu gründen. Es gab noch kein Bäckerschutzgesetz, die Arbeitsbedingungen waren hart. Er arbeitete bis zur Erschöpfung als Bäckergeselle, fand dann kargen Verdienst als Kanzleischreiber eines Rechtsanwaltes und schließlich als Aushilfslehrer an der Volksschule. Eine über den gewerblichen Beruf weit hinausreichende Bildung befähigte ihn dazu. Bis zum Tode seines Vaters hatte er mehrere Jahre die .Stella Matutina“, das weltbekannte und aus vielen Ländern beschickte Mittelschülererziehungsinstitut der Jesuiten in Feldkirch, besucht. Die Jahre der Wanderschaft als Geselle durch Deutschland und Frankreich, ein zweijähriger Aufenthalt in London hatten seinen Gesichtskreis erweitert und seine sprachliche Begabung sehr bereichert. Er führte eine schöne Handschrift und besaß einen in gemütvoller Schilderung leicht beweglichen Stil. Von den volkstümlichen Erzählungen und Erlebnisschilderungen, mit denen er, wie in seinem Roman „Franzosenkreuz“, zum Schriftsteller wurde, haben viele in späteren Jahren, als er zum Schreiben Muße hatte, ihren Weg in das „Grazer Volksblatt“, den steirischen „Sonntagsboten“ und den „Josefskalender“ gefunden. Schon früh hielt er mich zu guter Ausdrucksweise an und lehrte mich auf weiten Wanderungen die Natur verstehen und lieben.

Im Jahre 1878 erhielt mein Vater die Einladung der Dresdener Firma Lobeck & Cie., Inhaberin einer Schokoladenfabrik, in ihrem Betrieb zu Löbtau bei Dresden die Erzeugung des sogenannten Grazer Zwiebacks einzuführen. Die Herstellung dieses Süßgebäcks, das in verschiedenen Feinheitsabstufungen bis zur messerklingendünnen, feinverzuckerten Scheibe hergestellt wurde, hatte mein Großvater in Schweden erlernt. Heimgekehrt, nahm er in Graz die Erzeugung dieses Teegebäcks auf und verstand es, die Ware landauf, landab in Österreich beliebt zu machen. Sein Haus in der Grazer Jungferngasse, in dem sich seine Bäckerei und das jedem Grazer bekannte, appetitliche Geschäft bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts befanden, gab von dem Wohlstand Zeugnis, den er seinem Können und seinem Fleiß verdankte.

Der Ruf nach Dresden kam für meinen Vater wie eine Erlösung. Die Zeit harter Not und Sorge schien sich ihrem Ende zu nähern. Vater sollte zunächst auf ein Probejahr nach Sachsen kommen. Er ließ indes die Mutter mit meinem dreijährigen Schwesterchen und mir in Judenburg zurück. Doch bevor er ging, nahm er noch mit uns von den Bergen Abschied. So weit hinauf ins Hochgebirge war ich noch nie gekommen wie in diesen strahlenden Junitagen auf den an 2400 Meter hohen Zirbitzkogel, das breitwuchtende fünf-gipflige Bergmassiv an der steirisch-kärntnerischen Grenze. Da ging es durch duftende Zirbenwälder und über blumen-übersäte Matten, über Höhen, von denen der Blick weit, weit ins Land sprang, über blaudämmernde Bergketten bis zu silberschimmernden Firnen. Bergseen, umrandet von zerrissenem, von rosiggrünen Teppichen überwachsenem Felsgestein, lachten wie Riesengeschmeide gegen die Sonne. Vater wurde nicht müde, mir die Erscheinungen der Waldgrenze, den Lauf der Wässer, die Namen und Lebensart der Alpenblumen zu erklären, die Schrift Gottes auf freier, unbefleckter Erde.

Als mein Vater damals, ergriffen durch das eigene, neue Erlebnis österreichischer Heimat, zu mir sprach, da wußte er kaum, daß er mit dieser Schau in dem sechsjährigen Knaben Stimmen aufgeweckt hatte, die nie mehr verstummen sollten. Er war der erste, der mich mein Vaterland lieben lehrte. Wenn ich in kommenden Jahren im Auslande war, hat mich stets die stille Sehnsucht nach den duftenden, feierlichen Fichtenwäldern der Heimat begleitet. —

Ein paar Monate nach der Abreise meines Vaters erschien ein neues Schwe-sterl. Das pausbäckige liebe Ding gefiel mir gut. Aber die Mutter sah blaß aus und ging oft bedrückt umher. Es fehlte das Geld, der Vater mußte sich in der fernen, fremden Stadt erst notdürftig einrichten. Doch eines Tages kam ein schwerer, versiegelter Brief, 120 Goldmark darin, fein säuberlich in den Schützen eines Kartons geordnet. Die erste Gehaltssendung Vaters. Aber niemand in der Stadt wollte das Geld der landfremden Währung annehmen. Eine Bankfiliale gab es noch nicht in der Stadt. Ein Anwalt wechselte das Geld auf inständige Bitte der Mutter. Der erlangte Gegenwert war eine Enttäuschung. Es kamen düstere Wochen. Die beiden Schwesterchen erkrankten an Scharlach und erlagen in wenigen Wochen nacheinander der Epidemie. Es war der erste große Schmerz in meinem Leben. Denn ich hätte die liebliche kleine Julia sehr gerne gehabt. Um den Arzt zu bezahlen, gab die Mutter ein Goldgeschmeide dahin, das ihr aus besserer Zeit geblieben war. — Die Mütter pflegte wenig Verkehr, aber gerne ging sie mit uns in die Wälder zur Suche nach Pilzen und Kräutern. Mir hatte es besonders der Murdorfer Wald angetan, ein großer, nur von wenigen einsamen Wegen durchzogener Forst, durch den die . Mur ein tiefgelegenes Bett gegraben hatte. Man sagte dem Wald nach, daß er unheimlich und .verwunschen“ sei, weil einmal ein Blutverbrechen darin geschehen war. Das konnte den Reiz dieses Waldes für den Schüler der ersten Klasse der Judenburger .Volksschule nur erhöhen. An einer Waldwiese, von alten Fichten umstanden, erhob sich ein verfallenes, schloßartiges Gebäude, in dem allerlei großes Gevögel hauste. Der halbverschüttete Raum, der sich unter dem Gemäuer in eine finstere Tiefe verlor, war eine besondere Verlockung. Es rieselte darin seltsam und geheimnisvoll. Mit einem Spaten dort zu graben, etwa einen Helm oder ein Schwert zu finden, wäre herrlich gewesen. Aber die Mutter liebte es nicht, daß ich dort unten herumstöberte.

Sonniger, fröhlicher war es drüben, jenseits des Waldes, in dem kleinen Wallfahrtsorte Maria-Puch. An einem schönen Sommernachmittage kamen wir hungrig aus der Kirche. Wir hatten viel vor Gott auf unseren Herzen gehabt. Vor uns war noch der weite Weg heimwärts. Doch Mutter und Tante Marie hatten keinen Kreuzer in der Tasche. Hundert Schritte von der Kirche blinkte etwas im Staube. Em glänzender Silbergulden. Er reichte zur Sättigung für alle drei und war dann noch nicht Zur Hälfte verbraucht. Ein Engel hatte ihn wohl dorthin gelegt...?

Von meinen Schulkameraden in Judenburg schätzte ich ein Brüderpaar, armer, kleinbäuerlicher Leute Kinder, am meisten. Sie kamen in verschossenen, geflickten Röcklein stundenweit zur Schule, der eine ein winziger und zarter Bub, sein Bruder, lang, blaß, das Gesicht von Blatternnarben entstellt. Er war dürr und häßlich. Eines Tages diktierte der Lehrer dem

Kleinen eine Züchtigung. Da erhob sich der Blatternarbige und bat mit aufgehobenen Händen, ihn anstatt des Bruders zu verprügeln. Als sein flehentliches Bitten umsonst war, weinte er herzzerbrechend. Von jener Stunde an war ich dem Blatternarbigen zugetan. Die Szene in der Judenburger Volksschule wurde mir noch nach vielen Jahren gegenwärtig, wenn in öffentlichen Versammlungen von Brüderlichkeit die Rede war.

*

Als für meinen Vater das Probejahr in der Löbtauer Fabrik um war, rief er seine Familie zu sich. Im November 1879 begab sich die Mutter mit mir auf die Reise nach Sachsen. Der Auszug aus unserem Heim fiel ihr schwer. Das alte, trauliche Haus, in dem aus großem Hofe die breite, offene Treppe zu dem blumengeschmückten Laubengang vor unserer Wohnung emporstieg, diese Zimmer mit ihren verschnörkelten Fenstergittern, diese Weiten, die von hier aus der Blick auf die von Bergen umrahmte, von funkelnden Wassern durchfurchte Tallandschaft umfaßte — all dies war für sie verbunden mit der Erinnerung an stilles Familienglück und -leid. Ich aber strebte der Ferne zu und starrte gierig nach einer neuen Welt, von der mir nichts entgehen sollte, stundenlang durch das Fenster des langsam da-hinkriechenden Personenzugs, der durch Tag und Nacht uns über Prag unserer Bestimmung entgegentrug.

Endlich Dresden. Ein nebliger, feuchter Herbststag, der alles in Eintönigkeit versenkte. Die Frau mit dem Knirps im Steirergwandl, rotem Latz und grünen Wadenstrümpfen, die da von einem glückstrahlenden Vater am Bahnhof empfangen wurde, erregte Aufsehen. „Ach, Härr Jeeses, wie scheene“ — hörte ich sagen —, „een gleener Diroler Junge!“ Das war eine Enttäuschung. Also nicht einmal einen Steirerbuben konnten sie hier von einem tirolerischen unterscheiden!

Die Droschke, die uns durch endlos erscheinende Vorstadtstraßen führte, hielt vor einem langen, weißen, schornsteinüberragten Fabrikgebäude. „Chokoladen-fabrik Lobeck & Co.“ stand in Blechbuchstaben über dem Tor eines Vorgartens. Einige eingezäunte Reihen entblätterter Stachelbeersträucher, an denen der Weg vorüberführte, verhießen ein wenig Grün. Unter dem hohen Rauchschlot duckte sich seitwärts ein schmales Wohngebäude. An der letzten Stiege sperrte der Vater auf. Eine Dachwohnung mit schiefen Wänden war etwas merkwürdig Neues. In Judenburg sahen die Wohnungen anders aus: Eine billige graue Tapete überzog die Wand. Ein paar Fenster gingen gegen den Vorgarten nach der Straße, die anderen gegen den langen Fabrikhof und ein tief zwischen schrägen Steinböschungen eingeschlossenes Bachbett, in das die Fabriken der Nachbarschaft ihre Abwässer spien. Mißfarbige Gerinsel krochen aus dunklen Mauerlöchern hervor, in den Hinterhöfen der geschwärzten Ziegelbauten lagen Fässer, rostige Maschinenteile und allerlei Gerumpel. Rauchschwaden kamen aus hohen Essen. Der blaue Himmel der Heimat reichte nicht hieher.

Der bei 10.000 Einwohner zählende Fabrikort Löbtau war damals noch nicht von dem nahe angrenzenden Dresden eingemeindet. Es brauchte in dieser Umgebung nicht lange, um auch in einem siebenjährigen Knaben eine Vorahnung zu erwecken, was Proletariat und Arbeiterdasein hieß. Hier überdeckte die unbarmherzige Wahrheit noch kein Lack der Großstadt. Primitive Geschäfte, einige schmierige Wirtshäuser und Schnapsbudiken, der Friseur zog auch Zähne. Irgendwo gab es ein bescheidenes protestantisches Bethaus. Des Morgens und des Abends zogen Kolonnen bleicher Menschen zu und von ihren Arbeitsstätten. Voll erschreckter Verwunderung sah ich sie in der riesigen, feuerspeienden Halle der Siemensschen Glasfabrik die Flaschen aus der glühenden flüssigen Masse blasen. Die Ernährung dieser Menschen war bescheiden — Hering und Kartoffeln war jahraus,' ' jährein das häufigste Gericht. Kein öffentlicher Gärten unterbrach das düstere Heerlager der Industrie. Der Tummelplatz der Arbeiterjugend war das Bachbett zwischen den schrägen Steinmauern, in dessen seichten Wässern ich bald von Altersgenossen lernte, Teiche für kleine Fische bauen, die immer lebensmüde schienen, obwohl sie bisher glücklich dem Tod in den giftigen Abwässern entgangen waren. — Hier begann ich meine erste Mineraliensammlung, denn der Bach, die Weisseritz — Bistrica, eine Erinnerung an einstige slawische Besiedlung —, die bei Unwettern hochangeschwollen dumpfknurrend wie ein wildes Tier ihre Mauern ansprang, schleppte zuweilen grollend aus ihrem Oberlauf allerlei Gestein daher.

Die Jugend der Wohlhabenden besuchte die „Bürgerschule“, die ihren Namen von dem Stande hatte, für den sie bestimmt war; für uns andere war die Löbtauer Volksschule da. Ich war am 24. November 1879 aufgenommen worden. Auch hier tat sich eine neue Welt auf. Es herrschte ein mir bisher unbekanntes strenges Regiment. Die ausübende Autorität war eine Lehrerin, die mit ihrer scharfen Stimme, ihren bebrillten, kalten Augen und einem dünnen Rohrstab bewaffnet, dem kleinen Steirer schrecklich wurde. Noch nach 70 Jahren sehe ich sie vor mir wie eine Erinnye, die hinter Schulbuben her ist. Für Mängel in der Volksschulwissenschaft und sonstige Defekte gab es „Klapse“ mit dem Rohr in verschiedenen Qualitäten. Wenn man fünf auf die Spitzen der ausgestreckten Finger jeder Hand aufgewippt erhielt, zitterte dem Delinquenten lange die Hand beim Schreiben. Zuweilen schwollen die Finger bei solchen Strafen so, daß sie die Feder nicht mehr hielten. Hatte der Missetäter Schlimmeres verbrochen, so wurde er in die Direktionskanzlei abgeführt, wo ihm in Anwesenheit des Direktors der Schuldiener zwischen die Knie nahm. Derlei gehörte ordnungsgemäß zum Schulerziehungs-wesen, in gewissem Maße auch noch in den ersten Klassen des Untergymnasiums. Vielleicht hatte es seine guten Seiten. Sittenyerfeinernd wirkte es nicht. Mancher gewöhnte sich, in der rohen Kraft alles, den eigenen Stolz oder das Herrenrecht des anderen zu sehen.

Die Löbtauer Schule war protestantisch. Der Unterricht wurde mit einem schönen Schulgebet eröffnet:

»Befiehl du deine Wege und was dein Herz nur kränkt, der allerbesten Pflege, des, der die Herzen lenkt.*

Daheim erhielten wir eines Abends einen unerwarteten Besuch. Ein gewichtiger Herr in schwarzer Kleidung. Freundlich stellte er sich uns vor: Pastor von Löbtau. — Der Vater war höflich verwundert. Nach kurzer Einleitung hörte man den Zweck dieses Besuches: Einladung zum nächsten protestantischen Gottesdienst, und ob der Herr Werkmeister Funder nicht sächsischer Staatsbürger werden und der Seinen Ubertritt zur evangelischen Kirche erwägen wolle. Er verdiene sein Brot in einem protestantischen Lande, lebe unter protestantischen Menschen und könne, fern vom Lande seiner Abkunft, doch als Christenmensch nicht einsam bleiben wollen.

Der Vater dankte mit ruhiger, bestimmter Ablehnung für Besuch und Zuspruch: er und seine Familie seien österreichisch, katholisch und wollen es bleiben.

Der Herr Pastor kam noch ein zweites Mal, mit demselben Ergebnis.

Mein Vater nahm aber die Eröffnung ernst. Er meldete sich bei dem außerordentlichen österreichischen Gesandten am königlich sächsischen Hofe, Oberstleutnant Freiherr von Oer, in Audienz. Ich mußte den Vater begleiten. Der Freiherr, ein Bruder des jedem Grazer damals wohlbekannten Prälaten des Domkapitels der steirischen Hauptstadt, war Adjutant des Königs, seine Stellung als Gesandter nur eine ehrenamtliche und formelle. Er empfing uns mit gewinnender Liebenswürdigkeit, frug nach Graz und seinem Bruder und ließ sich eingehend des Vaters Erlebnis in Löbtau erzählen. Ihn ermunternd, bei seiner charaktervollen Haltung zu bleiben, versicherte er den Vater seines Schutzes, der ausreichend sei, eine Gefahr abzuwenden.

In der Tat war jene Episode für Immer erledigt. Unter der Vorstadtjugend war es damals beliebt, Katholiken schimpfweise als „katholische Kettenhunde“ zu bezeichnen. Aber von Erwachsenen haben wir in den kommenden Jahren inmitten einer Umgebung, die vorwiegend protestantisch war, nie eine Gehässigkeit aus konfessionellen Gründen erfahren. Die Volkstümlichkeit des katholischen Königshauses und die religiöse Indifferenz, die damals der wie ein Waldbrand um sich greifende skeptische Liberalismus und Rationalismus von protestantischen Kanzeln herab in der Laienwelt verbreiteten, mögen daran einen gewissen Anteil gehabt haben. Die protestantischen Kirchen Dresdens waren während der Woche geschlossen und schienen sich nur für die Toten öffnen zu wollen, da die Lebenden sie verschmähten. Ein wirkliches Zentrum warm pulsierenden kirchlichen Lebens war dagegen die Dresdener katholische Hofkirche, an der Brühischen Terrasse zwischen dem königlichen Palais und der Elbbrücke gelegen.

Von Ostern 1881 an wurde ich in die fast eine Wegstunde entfernte erste katholische Bezirksschule in Dresden geschickt. Sie war ärmlich in einem alten Hause untergebracht. Der Unterricht eines längst ruhestandsbedürftigen Lehrers, dessen Gattin zur Sommerzeit mit der Fliegenklappe im Schulzimmer erschien, und die Disziplin der Buben ließen zu wünschen übrig. Der eigene Leichtsinn sorgte dafür, daß auch meine religiöse Bildung mangelhaft war. Als aber der Nachbarsohn, der das Freimaurergymnasium in Dresden-Friedrichstadt besuchte, auf der Straße zu spotten begann»-„Der Papst! Der Papst!“, gab ich ihm eine schallende Ohrfeige, und als er wiederholte, noch eine. Er brütete Rache, bis er eines Tages den „katholischen Ketten^ hund“ durch ein zielsicheres Wurfgeschoß umlegte. Die kräftige Beule am Hinterkopf trug ich sozusagen wie ein Ehrenmal.

Knapp unter den gegen den Lobeck-schen Fabrikshof sich öffnenden Fenstern lag ein einstöckiges Gebäude mit flachem Dach, eine Waffel- und Kanditenfabrik. Hier führte der Vater jetzt die leitende Werkmeisterstelle. Die Einbürgerung des Grazer Zwiebacks war mißlungen. Das Publikum hatte das ungewohnte Erzeugnis als „zu harrte“ abgelehnt. So leicht sich die Jugend in neue, fremde Verhältnisse fügt, meine Mutter litt schwer unter ihnen. Der breite, sächsische Dialekt machte ihr Schwierigkeiten im Verstehen. Irgendwie hielt jeden Österreicher, den man unter den „gemiedlichen Sachsen“ traf, das Hedmatgefühl an seinem österreichischen Wurzelboden fest. Dem Österreicher wurden, namentlich aus der älteren Generation, noch echte Sympathien entgegengebracht. Es wirkte damals noch die Erinnerung an den Deutschen Bund und an das noch nicht weit zurückliegende Jahr 1866 nach, in dem Sachsen in Waffen an der Seite Österreichs gestanden hatte. Das Widerstreben gegen alles Preußische war heftig. Aber für den Österreicher konnte Sachsen nicht Österreich sein. Als ich eines Tages längs der Weisseritz nach der Schule heimging, saß beim Wasser ein Knabe, der mit schöner, kräftiger Stimme das österreichische Kaiserlied sang. Ich war im Nu die steile Uferböschung hinunter und umarmte und küßte weinend den unbekannten Buben, von einem unaussprechlichen, halb schmerzlichen Glück erfaßt.

Mit dem Schuljahr 1882/83 bezog die katholische Volksschule, neuorganisiert und mit jungen, tüchtigen Lehrkräften ausgestattet, einen netten, zweckmäßigen Neubau. In einem nahen Klösterchen versorgten Vinzentinerinnen, wegen ihrer unauffälligen Ordenstracht, die sie hier trugen, die „grauen Schwestern“ genannt, mehrere Dutzend der Schüler und Schülerinnen, meistens Arbeiterkinder, die weit zur Schule hatten und während der mittäglichen Unterrichtspause nicht heim konnten, für Gotteslohn mit einer Mehlsuppe und einem Stück Brot. Ich gehörte auch zu der Schar. Die Schwestern waren lieb zu der borstigen Bande. In den Schulunterricht kam jetzt ein anderer Zug. Paul Bergmann war einer jener geborenen Pädagogen, dem jugendliche Herzen zufliegen. Mit seinen fröhlichen, blauen Augen in dem schmalen, hochstirnigen Gesicht, frisch und offen in seinem Wesen, wurde er für mich Knaben das Ideal eines Mannes. Paul Bergmann hat sich in den späteren Jahren einen im ganzen katholischen Deutschland hochgeachteten Namen durch seine reformerische Wirksamkeit für eine Vertiefung des katechetischen Unterrichts erworben. Seine Vortragsreisen, auf denen er vor dem Katheder Tausende dankbarer Pädagogen versammelte, führten ihn weitum in Deutschland und nach dem Weltkrieg auch nach Österreich. Beide grau geworden, sahen sich nach mehr als vierzig Jahren der Lehrer und der einstmalige Schüler und wurden wieder jung in Erinnerung an vergangene Zeiten. Dieser edle Mann hatte mich einst in seinem Unterricht die geschichtliche Leistung Österreichs verstehen gelehrt. Auf seine Geschichtsstunden freute ich mich stets wie auf ein Geschenk.

(Die Veröffentlichung wird fortgesetzt)

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