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DIE ALTE ARMEE

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Der Generation von heute muß man erst ausdrücklich sagen, was wir Alten kraft eigener Erfahrung wissen, denn wir haben es erlebt, täglich mit angesehen:

Österreich-Ungarn, das Kaisertum und Königreich, war ein Staatsgebilde einziger Art; bewohnt von zehn Nationen, von Anhängern sechserlei Glaubens — des katholischen, protestantischen, griechisch-orthodoxen, griechisch-unierten, des jüdischen und mohammedanischen; ein Gebiet mit vielerlei Recht (denn auch Kroatien-Slawonien, das Okkupationsgebiet, waren Rechtsbildner für sich .. J. Nicht einmal einen einfachen, einprägsamen Namen hatte das große, großartige Reich — auch der Name war kompliziert: „österreichisch-ungarische Monarchie“ —, und es 'bestand aus den „im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern“, aus den „Ländern der heiligen Stephanskrone“ und dem „Okkupationsgebiet“. Es fehlte also zur Gemeinsamkeit der Idee ungefähr alles, was andere Staaten von Natur selbstverständlich hatten: die bindende Sprache, die allumfassende Religion, das einheitliche Gesetz. Es gab eine gemeinsame äußere Politik, es gab bis zu einem gewissen Grad gemeinsame Finanzen. Dieser Einheit von Außenpolitik und Finanzhoheit aber fehlte der wahrnehmbare Ausdruck, sie kam dem einfachen Bürger kaum ins Bewußtsein. Leuchtend sichtbar auch dem Viehhirten und Holzknecht, wurde der Gesamtstaat Österreich-Ungarn in zwei Erscheinungen: in dem alten Kaiser Franz Joseph und in seiner Armee.

Kaiser Franz Joseph hatte seit Menschengedenken regiert — 68 Jahre. Die ältesten Greise konnten sich kaum einer anderen Herrschaft erinnern. Er zählte schon unter die Elementarereignisse; wie es eine Sonne gibt, einen Mond, Sturm und Regen, gibt es den Kaiser Franz Joseph. Und gleich ihm, dem ersten Soldaten, gehörte männiglich seinem österreichisch-ungarischen Heer an. Darin hatte Mann für Mann gedient, wird im Kriegsfall wieder darin dienen müssen.

16jährigen Jüngling, der wahrscheinlich die ganze Zeit des Abends auf diesen Moment gewartet hatte, ob er es doch wagen würde, meinen Fuß zu berühren.

So manche Jahre später überraschte mich Max Reinhardt mit seinem Vorhaben, die Operette von Johann Strauß, „Die Fledermaus“, aufzuführen. Komischerweise überraschte mich dies wirklich, weil ich meinte, „Die Fledermaus“ sei gut genug, so wie sie schon immer dargestellt wurde. Reinhardt wünschte sich von mir die Einstudierung der vorkommenden Tänze, und damit begann schon etwas Neues. Denn ich hatte keine Lust, wie es immer gewesen, den Ballgästen im zweiten Akt nur von gelernten Tänzern etwas vortanzen zu lassen, und dadurch das lustige Geschehen zu unterbrechen. So kam ich auf den Einfall, die Ballgäste selbst, und vor allem die Hauptdarsteller, tanzen zu lassen. Reinhardt war mit meinem Vorschlag gleich einverstanden und gab mir vollkommen freie Hand zur Durchführung desselben. In dieser Aufführung, die auch textlich und musikalisch erweitert wurde und in der die Hauptdarsteller sangen und tanzten, ohne eigentlich Sänger und Tänzer zu sein, sprühte es von tausend launigen Einfällen, und sie zählte fortan zu den ganz großen Ereignissen auf der Bühne Max Reinhardts. Was Johann Strauß zu dieser Aufführung seiner „Fledermaus“ in seinem Musikerhimmel gesagt, weiß ich leider nicht. Aber ich könnte mir denken, daß auch er von dem hinreißenden Geist dieser Aufführung überwältigt wurde und gar nicht bemerkte, daß der Eisenstein, von Hermann Thimig gespielt, nicht sang von Gottes, sondern von Reinhardts Gnaden.

In 30 schaffensfreudigen Jahren ist ein Zauberring von Aufführungen entstanden. Merkwürdig aber ist für mich, daß Reinhardt bei einer seiner Gestaltungen am Theater, gerade der, von der man denken konnte, daß sie nicht mehr überboten werden könnte, nie müde wurde, sie immer wieder in neuer Gestalt herauszubringen. Es war der „Sommernachtstraum“. Lag dies daran, daß er durch neue Darsteller zu neuen Ideen verlockt wurde, oder war es so, daß im Wechsel der Zeiten er sich von dem, was er immer tiefer zu sehen und zu verstehen meinte, mehr oder weniger bewußt sich Rechenschaft geben wollte?

Dann hat auch er Europa verlassen müssen und ist nicht mehr zurückgekehrt: ich werde ihn nicht mehr wiedersehen und ihm nicht danken können... ihm, den man so gerne haben mußte und von dem ich mir vorstellen könnte, daß er in seinen besten und höchsten Lebensmomenten nicht vergaß, dem Herrgott dankbar zuzulächeln.

So spielte denn die k. u. k. Armee eine andere, viel wichtigere Rolle im Donaureich als anderwärts den Armeen zukommt: Sie war schlechtweg die Trägerin, Verkörperung der Staatsidee. Sie verbreitete, ja sie schuf erst die gemeinsame Kultur, indem sie Wiener Gewohnheit, Wiener Ansprüche aus der Reichshauptstadt in die entferntesten Provinzen trug: nach Bregenz in Vorarlberg, Sokal in Galizien, Predeal in Siebenbürgen, Spizza in Dalmatien.

Man muß die Primitivität des Huzulen, manches Bergbauern, des „Nuschtschu“, erst kennen, um zu ermessen, was die dreijährige Dienstzeit in der Armee für diese Leute bedeutete. „Nuschtschu“ hieß der Walache der Südostkarpaten, weil er auf jede Frage nur eine Antwort hatte: „Weiß nicht.“ In der Kaserne fanden sie zum ersten-, einzigenmal Berührung mit der Zivilisation.

Ich hatte in Esseg einen Rekruten in der Batterie, der war ein Wunder der Weltfremdheit; hieß Dudukowitsch, stammte aus dem Velebit — jenem unwirtlichen Gebirge, das da an der kroatisch-dalmatinischen Grenze der Adria entlangstreicht. Der Rekrut Dudukowitsch irrte unsinnig Zickzack durch unsere Begriffswelt und stieß sich schmerzhaft rechts und links — wie ein Nachtfalter etwa, der aus dem finsteren Garten plötzlich in ein grellbeleuchtetes Zimmer geraten ist.

Dudukowitsch hatte sich, meldete mir der Unteroffizier, die erste Nacht nicht ins Bett gelegt — er wußte offenbar nicht um den Zweck der Betten -, schlief auf dem Estrich. Dadurch fiel er mir auf, ich beschäftigte mich ein wenig mit ihm. Ich sage voraus, was ich erst nach Monaten zufällig von ihm erfuhr — es erklärt vollauf sein gesamtes Verhalten: Er war der Sohn eines taubstummen Köhlers, hatte stets sechs, acht Monate des Jahres im einsamsten Wald verbracht als Gehilfe des Taubstummen ; hörte diese Zeit über keinen menschlichen Laut, und nur im Winter, wenn sie im Tal daheim, im Weiler, „bei der Mutter“ wohnten — im Weiler, beileibe noch in keinem Dorf —, redete er ein paar Worte.

Dudukowitsch konnte nicht lesen und schreiben, das ist ielbstverständlich. Er begriff aber lange genug überhaupt nicht, daß es die Möglichkeit des Lesens und Schreibens gibt, daß man Zeichen aufs Papier malen und sie wieder hörbar machen Icönnte, Er kannte nicht die Uhr, nicht einmal die Gabel. Er hatte noch nie Fleisch gegessen; nie so viel Menschen beisammen gesehen wie beim Militär — gar nicht geahnt, daß es so viel Menschen gibt...

Der Fall ist ungewöhnlich, vielleicht kraß. Abgeschwächt um die äußersten Voraussetzungen, hat er sich in der Armee mil-lionenmal wiederholt. Es rückten ungeschlachte Rekruten ein aus der Herzegowina nach Wien: plötzlich versetzt aus karstiger Einöde mitten in die höchste Zivilisation. Der Bauernsohn aus dem Tiefland sah — als Soldat — zu seinem jähen Erstaunen Berge, Schluchten, Schneeberge. Der Arbeiterjunge war nie über das Pflaster der Großstadt hinausgekommen — bei den Kaiserlichen lernte er das Dorf kennen, den Wald, das Meer. Alles tiefste, betäubende Eindrücke auf die einfache Seele. Beim M'litär, niemals vorher und nie nachher, hatte der Ziegenhirt Umgang mit Hofratssöhnen, und sie wieder mit dem Schornsteinfeger; der Christ Umgang mit Mohammedanern, der orthodoxe Jude mit orthodoxen Griechen. Die einen gewannen dabei wie die anderen, kehrten geistig unermeßlich bereichert vom Militär zurück? Kenntnisse brachten besonders die Handwerker vom Militär heim und Spezialisten: die Hufschmiede etwa, Zimmerleute, Krankenwärter, Kutscher, Reitknechte, Musiker; sie erlernten ihren Beruf von Grund auf erst als Soldaten. Und alle erwarben körperliche Haltung und Gewandtheit, einige Gewandtheit auch im gesellschaftlichen Verkehr, Schliff und — Sinn für Sauberkeit. Und verbreiteten ihre besseren Einsichten und Formen nun zu Haus im Dorf.

Wer die Armee als Kulturfaktor richtig einschätzen will, muß gerade ihr letztes Werk betrachten, die Urbarmachung des Okkupationsgebietes. Vor der Besetzung Bosniens und der Herzegowina gab es da nur eine einzige Eisenbahn, jene von Sissek nach Banjaluka, über ein paar Kilometer — doch seit Jahren war keine Lokomotive mehr über den vergrasten Damm gefahren. Im Bezirk Gradischka, nah an unserer Grenze also, standen von 30 Dörfern aufrecht nur noch fünf — die übrigen lagen in Schutt. Wie sah es erst im Innern des Landes aus: weglose Wildnis! Aufruhr, Mord und Raub auf der Tagesordnung. „Einige Monate nach militärischer Besetzung konnte man“, sagten die Bosnier, „eine Schüssel Dukaten unbedeckt über Land tragen.“ Tausende von Kilometern Eisenbahn, Straßen sind von Soldaten gebaut worden, Tausende von Brük-ken, Schulen, Krankenhäusern — aus undurchdringlichem Bar-barenland war im Laufe etlicher Jahre ein beliebtes Touristenziel geworden.

Die Fähigkeit zu solcher Kulturschöpfung verdankt die Armee ihrem Offizierskorps. Der österreichische Offizier war aus glücklicher Völkermischung hervorgegangen, kein engstirniger Landsknecht, sondern auch weit jenseits seines Faches gescheit, beweglich, anstellig, talentiert. Aus dem Heer sind von jeher Künstler hervorgegangen, Gelehrte, Philosophen, Mathematiker, Volkswirte, Erfinder. General Uchatius schuf eine Art der „künstlichen Metallkonstruktion“; Major von Orel die Kartographie aus der Luft; ein k. u. k. Marineur das führerlose Flugzeug; Binder-Kriegelstein, Woinovioh, Hoen waren oder sind

Kapazitäten der Geschichtsforschung. Lehar war österreichischer Militärkapellmeister. Zahllose große Schauspieler entstammen der Armee, die Maler Myrbach, Vestenhof, Heßhaimer, die Dichter Zedlitz, Saar, Torresani, Busson, Bartsch, Ginzkey, Rudolf Jeremias Kreutz, Joseph Roth, Heydenau — vielleicht darf ich mich selbst der Reihe bescheiden als letzter angliedern ...

Das k. u. k. Offizierskorps, bestand es auch vorwiegend aus Deutschen, war doch durchsetzt von Leuten aller übrigen neun Nationen. Daraus erwuchsen starke Bindungen — Kameradschafts- und Familienbindungen kreuz und quer. Die Umgangs-

österreichische Infanteriefahne des Typs aus der Zeil um 1860, geführt vom Infanterie-Regiment Hoch- und Deutschmeister Nr. 4 spräche des Offiziers, mochte er aus Pilsen stammen oder aus der Kriwoschije, war (mit Ausnahme der Husaren und Honved-regimenter) Deutsch. Der Offizier gab den Ton an in der Gesellschaft von Lemberg, Esseg, Pardubitz. Er verstärkte dort den deutschen Bürgerverein. Dem Offizier zu Gefallen gab es ständige deutsche Theater in Kronstadt, Mährisch-Ostrau, in Esseg, es gab deutsche Zeitungen in den Cafes. Der österreichische Offizier war ein Agent Wiens, seiner Politik, seiner Kunst, selbst seiner Industrie und des Wiener Handels in der Provinz: denn der Offizier beanspruchte auch in Trebinje und Brody Wiener Musik, Wiener Küche, Wiener Hemden und Koffer. Die Nationalitäten Österreichs und Ungarns hatten in einer Beziehung recht, wenn sie über Germanisierung durch die Armee klagten; es war dies aber die friedliche Durchdringung mit Kultur und Zivilisation, Mittel gegenseitiger Verständigung. Die alte Armee hat Österreich-Ungarn vier Jahrhunderte zusammengehalten.

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