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REINHARDT IM KINDERTHEATER

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Im Mai 1933 hat sich auch Max Reinhardt in mein Florentiner Gästebuch eingeschrieben. Es ist ein inhaltsreicher, oft bewunderter und studierter Band, in welchem seit meiner Übersiedlung nach Italien sich alle meine Gäste bei ihrem ersten Besuch zumindest mit Namen und Datum einschreiben mußten. Wenn manche von ihnen Notenbeispiele, improvisierte Zeichnungen oder gar mehr oder minder gelungene Verse zu der Unterschrift beizusteuern Lust hatten, so war solche Geste mir höchst willkommen.

Unter Reinhardts Unterschrift steht jene der Frau Helene Thimig, und eine ganze Anzahl Namen füllt das Blatt bis zum Rande aus. Ich kannte Reinhardt aus Berlin nur flüchtig, sein Theater, das ich oft besuchte, war mir stets als der Gipfel der Schauspielkunst erschienen. Nun war er nach Italien gekommen, um seinen berühmten „Sommernachtstraum“ zum soundsovielten Mal in seinem Leben zu inszenieren; er hatte ihn seit 1905 wohl hundertmal auf den verschiedensten Bühnen zur Aufführung gebracht, sowohl in Berlin, wie auch auf den so häufigen Gastspielreisen, die er mit seinem ihm so eng verbundenen Ensemble uÄternahm, merkwürdigerweise bis dahin niemals in Italien, wo ihn doch gewiß ein höchst empfängliches Publikum stets stürmisch gefeiert hätte. Das Ensemble hatte die Schweiz, Schweden, Rußland, sogar Amerika mit dieser Produktion besucht, doch blieb Italien immer links liegen. Nun war endlich diese Einladung gekommen, eben den „Sommernachtstraum“ in einem Rahmen aufzuführen, der wie kein anderer für dieses Werk geeignet erschien: im Boboligarten von Florenz, als Zierde des dort zu jener Zeit alljährlich sich wiederholenden musikalischen Maifestes. Der Atem der Sensation ging durch jene noch weniger als heute rührige, doch weiß Gott, nicht minder theaterfreudige italienische Theaterwelt — es war der erste „Maggio Musicale“, eines der ersten, später von zu viel Konkurrenz überwucherten sommerlichen „Festivals“.

Reinhardt machte es viel Freude, in dem herrlichen Park umherzugehen und nach dem geeigneten Platz für sein Unternehmen zu suchen. Er war von den in Florenz zu Dienst stehenden Regisseuren und Szenographen begleitet, die mit ihm kreuz und quer durch das große Gebiet des Boboli wanderten und ihm diesen oder jenen Schauplatz als überaus geeignet für sein Unternehmen vorschlugen; doch der große Mann zeigte sich den berühmten historischen Stätten gegenüber abgeneigt, ihm erschien weder das Amphitheater, noch der herrliche Platz vor der Pitti- Fassade als das Richtige, und er wählte zum großen Erstaunen seiner Berater einen bislang nicht besonders beachteten einfachen Wiesenplan, um welchen herum eine Fülle herrlicher Pinien ihre Kronen hinmmelwärts erhoben. Hier entdeckte er den geeignetsten Ort für die kongeniale Darstellung seines über alles geliebten Meistermärchens. An der Beleuchtung des endgültig gewählten Schauplatzes hieß er unzählige Fachleute unermüdlich arbeiten, um mit vollendeter Technik seinen Plänen und Einfällen gerecht zu werden. Besonders entzückt zeigte er sich von der Schar der Glühwürmchen, die allabendlich das dunkle Gezweig jener Baumkronen rings um die große Freilichtbühne bevölkerte. So sehr entzückt, daß er sich nicht mit dem von der Natur aus beigesteuerten szenischen Effekt begnügte, sondern Tausende von künstlichen Glühwürmchen das Dunkel der Theaterabende phantastisch beleuchten ließ. In Florenz herrschte natürlich in Erwartung des Besuches des so berühmten Meisters große Aufregung; man erwartete ein ganz ausnahmsweises Theaterereignis und sah sich in jenen Erwartungen auch keineswegs getäuscht. Wer nur irgendwie mit Theaterkreisen in Verbindung stand, versuchte sich Eintritt zu jenen Proben zu erwirken, die ganze jüngere Generation, die sich für irgendeine Arbeit im Theaterfach vorbereitete, stand schon am frühen Morgen vor den Toren des Parkes Spalier, um nur ja keine Ordre des Leiters zu versäumen.

Als meine Freunde und ich von dem kommenden Ereignis erfuhren, faßten wir einen kühnen Plan: wir wollten Reinhardt in meinem eigenen, für dergleichen durchaus geeignetem Haus unser eigens Theater vorspielen lassen. Schon einige Zeit vorher hatten dieselben begeisterten jungen Leute in meiner Garage ein primitives Theaterchen eingerichtet, um dort allerhand Bühnenexperimenten zu obliegen. Es wurde „Teatro Garage“ benannt und machte der Gesellschaft viel harmlosen Spaß. Wie wäre es nun — so fragten wir uns —, wenn wir unser Idol Reinhardt ganz kühn und informell zu einer Vorstellung einladen würden? Vielleicht würde ihm eine solche Huldigung Spaß machen — man dürfte natürlich nicht etwa zu anspruchsvoll auftreten, ihm nur ein Stündchen harmlose Unterhaltung bieten — als beste Idee erschien der Gedanke eines Kindertheaters, eines einfachen, doch amüsanten, richtig italienischen Volksstückes, dargestellt von Schauspielern zwischen sechs und zwölf Jahren. Italiener sind von Natur aus für solche Unternehmungen ebenso begabt wie begeistert, besonders wenn es sich um ein Auftreten in besonderem Rahmen, vor besonderem Publikum handelt. Wir wählten eine simple, doch recht unterhaltsame Komödie, genannt „La Villanadi Lamporecchio“, und fanden unter unseren, den Plan enthusiastisch unterstützenden Mitarbeitern auch eine Anzahl schauspielerisch überdurchschnittlich begabter Kinder, die sich voller Energie und Ehrgeiz für die ihnen zugeteilten Aufgaben einsetzten. Es wurde im „Teatro Garage“ eifrig geprobt; da es sich um eine noch nie dagewesene Gelegenheit handelte, sich der größten lebenden Theaterautorität mit einer, wenn auch noch so bescheidenen Arbeit vorzustellen, meldeten sich natürlich die besten Maler, Kostümschneider, Dekorateure der Stadt zu begeisterter Mitarbeit, es wurde fleißig gebaut und gehämmert, auch um das breite, für die Ein- und Ausfahrt bestimmte Tor für die Bühnenöffnung und alle notwendigen Nebenräumlichkeiten möglichst sachgemäß einzurichten. Meinerseits steuerte ich ein persönliches, höflich-herzliches Schreiben an den zu erwartenden illustren Gast nach Berlin bei, mit der Frage, ob er sich noch an mich erinnerte, ob er Zeit und Lust finden würde, in Florenz mein Haus mit seinem Besuch zu beehren, ob er es vorzöge, daselbst eine größere oder nur ganz intime Gesellschaft zu finden — oder ob es ihm nicht Spaß machen würde, etwas häusliches Theater zu sehen. Und natürlich, wie wir es erwartet und erhofft hatten, entschied er sich für diesen letzteren Vorschlag.

Das große Datum wurde festgesetzt, die Einladungen wurden verschickt, fieberhafte Aufregung hatte sich aller Beteiligten bemächtigt — da kam eine Hiobspost: der illustre

Gast war just für denselben Abend zur italienischen Kronprinzessin eingeladen worden. Mit königlichen Häusern ist nie zu spaßen — wir alle waren verzweifelt, wußten nicht, wie das Dilemma zu lösen sei. Zum Glück tauchte ein theaterbegeisterter, findiger, mit dem Hofe der Savoya gut bekannter Kopf auf, der zu helfen versprach. Er versicherte, daß dergleichen königliche Empfänge niemals bis in späte Abendstunden dauerten; indem man den Beginn der Vorstellung selbst auf eine spätere, für kindliche Teilnehmer allerdings auf eine ziemlich späte Stunde verschob, würde die Sache um den Preis einiger „Hetzerei“ — aber Theaterleute waren es ja gewohnt, sich oft „hetzen“ zu müssen! — immer noch zu bewerkstelligen sein. Wir sandten daher ein Rundschreiben über den späteren Beginn der Vorstellung an die besorgten Gäste aus, doch waren an dem so wichtigen Abend, lange vor der angesetzten Stunde, alle vom Florentiner Theater ausgeliehenen Sitzreihen voll besetzt. Endlich wurde vom königlichen Palast angerufen, daß Reinhardt und seine Frau sich eben zum Abfahren rüsteten. Es wurde neun Uhr, und ein Viertel nach neun, und zwanzig Minuten nach neun: sie kamen nicht. Man konnte unsere bereits ungeduldigen Zuhörer nicht länger warten lassen, und so gaben wir, recht nervös und deprimiert, den Kindern, die man durch das lange Warten nicht zu sehr ermüden durfte, das Zeichen anzufangen; auch angesichts der leeren Ehrenplätze in der ersten Reihe. Die Aufregung schnürte allen Arrangeuren die Kehle zusammen: was war da geschehen? Der erste Akt war schon ziemlich zu Ende, als einige jubelnde Kehllaute am Tor verkündeten, daß der Wagen der zitternd erwarteten Gäste endlich vorgefahren sei. Ganz einfach: der fremde Chauffeur hatte sich in der Florentiner Hügelgegend verirrt, das Haus nicht gefunden und war eine Weile herumgefahren, bis ihm ein Passant den richtigen Weg wies. Eine Last fiel uns allen vom Herzen, aus der geplanten feierlichen Begrüßung der Ehrengäste wurde nichts, sie machten gar kein Wesen aus der Verspätung, sondern nahmen ohne weiteres Zeremoniell ihre Plätze rasch ein.

Und nun begannen die Kinder ihren zweiten Akt — sie schienen wie ausgetauscht an Laune und Erregung, alles ging, wie es nie vordem gegangen war. Das Merkwürdigste ereignete sich jedoch nach dem Schluß der Komödie, denn Reinhardt zeigte sich entzückt von dem kindlichen Schauspiel, so sehr, daß er nach Schluß durchaus wünschte, man sollte ihm auch den versäumten ersten Akt nochmals vorführen. Da wurde man Zeuge einer Suggestivwirkung, die allen Anwesenden unvergeßlich geblieben ist: Die Kinder, ohne recht zu wissen, wer ihnen hier eigentlich gegenüber saß, fühlten sich von einem so starken Einfluß von Reinhardts Anwesenheit überwältigt, daß sie ihre Rollen unvergleichlich lebendiger verkörperten als sie es vordem getan hatten. Sie tollten und tobten auf der Bühne umher, sie improvisierten, sie wußten sich gar nicht vor Übermut zu fassen — und der Mann, der sie unbewußt zu solchem Tun inspirierte, verstand kein Wort italienisch und verstand doch alles, er lachte, winkte und applaudierte, und amüsierte sich anscheinend königlich. Dann defilierten alle Schauspieler an ihm vorbei, er schüttelte ihnen die Hand und streichelte die Kleinen; die jüngste Mimin, eine süße sechsjährige Kleine, überreichte Frau Thimig einen Blumenstrauß, begleitet von einem schönen, einstudierten Knicks. Es gab ein Buffet, und Max Reinhardt verabschiedete sich mit der Versicherung, sich noch niemals in seinem Leben in einem Privathaus so gut amüsiert zu haben.

Dann war das große Erlebnis vorbei. — Ich sah Reinhardt im Leben nur mehr selten wieder; gelegentlich noch in Salzburg, wo die Stimmen von den Türmen der Kathedrale bald keinen „Jedermann“ mehr rufen sollten, nachher, nach dem großen Umsturz, der uns alle in eine so andere Welt hinüberfegte, hie und da in New York, allwo sich Reinhardt trotz gelegentlicher doch niemals wirklich überzeugender Erfolge — er konnte und wollte jener so anderen Welt sich und seine Kunst nicht mehr akklimatisieren! — nicht durchzusetzen vermochte. Die großzügig geplante Aufführung von Werfels „Weg der Verheißung“, von der man viel sprach, konnte nicht mehr verwirklicht werden. Enttäuscht, vergrämt, vereinsamt starb Reinhardt in irgendeinem Hotelzimmer, fast unbemerkt von der „Öffentlichkeit“. Der Abschied vor seiner Welt, der Welt überhaupt, hatte eine schlechte Regie gehabt

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