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Aufstand der Scherenschleifer

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Der 14. März, obgleich da Vorgänge einsetzten, die das Land an eine Katastrophe heranführten, wird in den Geschichtsbüchern Österreichs nicht aufscheinen. Dafür ist Sorge getragen, denn die Eingeweihten haben sich zu lebenslänglichem Stillschweigen verpflichtet. Was geschah an diesem Tag? In den Bezirksflnanzämtern, in den Finanzlandesdirektionen und im Finanzministerium selbst wurden die Halbjahreszuteilungen an Kanzleimaterialien vom 1. Juli des Vorjahres, also mit der üblichen Verspätung, an die Endbenützer ausgeliefert. Das war's, was am 14. März geschah.

Nun, das allein wäre kein weltbewegender Sachverhalt gewesen, versteht sich. Auch was unmittelbar danach passierte, hat vorerst weder die Polizei noch die Rotationspressen in Bewegung versetzt. Wichtig ist, daß sich unter den mit Kanzleimaterial Belieferten welche befanden, auf die laut Verteilerschlüssel neue Bleistiftspitzer entfielen. Jene unter ihnen, die die frisch empfangenen Spitzer gleich verwendeten, machten das auf Beamtenart genüßlich und im Bewußtsein eines Vorrats an dafür reservierter Zeit. Doch wie groß war ihr Erstaunen, dann ihr Entsetzen, als die anzuspitzenden Bleistifte schon nach drei, vier Umdrehungen des Spitzers bis auf einen unbrauchbaren Rest verschlungen waren! Der charakteristische Holzgeruch und spiralig abgeraspelte Holzfasern, untermischt mit Graphit, boten sich vertraut dar wie immer, der Rest war Schrecken.

Um vorschnelle Schlüsse zu vermeiden, müssen wir uns die Realität des Tagesaublaufes in den fiskalischen Ämtern vor Augen halten. Die insgesamt rund 428.000 Finanzbeamten und Beamtinnen Österreichs sitzen, von den Inhabern höherer Rangklassen abgesehen, zu zweit, zu dritt oder zu viert in je einem Kanzleiraum. Diese relativ feine räumliche Verteilung bewirkt, daß es Monate oder Jahre dauern kann, bis sich Angelegenheiten in entferntere Räume oder gar in andere Stockwerke durchsprechen.

Wer daher meint, die Sache mit den unheimlichen Bleistiftspitzern hätte sich in der Fiskalwelt wie e}n Lauffeuer verbreitet, irrt. Wohl sind wir in der Psychologie bewandert genug, um zu ermessen, daß von neuen Bleistiftspitzern die Lockung ausgeht, sie unverzüglich zu benützen, und daß die Anwesenheit eben eingetroffener ungespitzer Bleistifte diese Lockung enorm verstärkt. Ihr entgegen stehen jedoch Verhinderungen durch Telephonanrufe, Jausenpausen, Vorgesetzte, dienstliche Besucher und andere Störungen. Daher dürfte nur der Laie vermuten, daß das Anspitzen von Bleistiften an jenem 14. März im ganzen internen Fiskalbereich gleichzeitig, sozusagen 428.000fach, eingesetzt hätte.

Schon daraus, daß die Betriebsanweisung für Bleistiftspitzer eine Lebensdauer von 25 Jahren vorschreibt, ergibt sich, daß lediglich ein im Kopf leicht auszurechnender Bruchteil der Beamtenschaft jeweils ein neues Gerät zwecks verantwortlicher Inbetriebnahme und gegen Rückerstattung des alten erhält. Zieht man also von 8560 approximativen Empfängern alle ab, die den neuen Spitzer nicht gleich benützen konnten oder wollten, blieben nur wenige Tausend, die sofort zu aktivem Anspitzen übergingen. Unter ihnen, die zudem über das ganze Land verstreut waren, eine jähe Verständigung anzunehmen, wäre gegen jede theoretische Wahrscheinlichkeit und hat in unserem Fall auch nicht stattgefunden.

In den Kanzleien, in denen gefräßige Schnellspitzer die Benutzer schockten, gab es bald, als weiter nichts vorfiel, zunächst zaghaftes, dann beherzteres Gelächter. Die irrwitzig geschwind vernaschten Stifte waren eine Sensation, die sich bald verbrauchte. Denn die Intensität des Eindrucks nahm mit der Schärfe der an die Spitzer geschraubten winzigen Messerchen ab, die sich innerhalb weniger Tage normaliserte, wonach es nichts Außergewöhnliches mehr zu entdecken gab. Wären höhergestellte und daher mit größerer Übersicht operierende Beamte, Ministerialräte etwa oder Sektionschefs, oder gar der Minister selbst, persönlich mit dem Phänomen konfrontiert worden, hätte sich möglicherweise einer von ihnen etwas dabei gedacht. Doch da der Zufall es wollte, daß dies nicht vorkam, zog niemand irgendwelche Konsequenzen, und die Dinge nahmen weiter ihren Lauf.

Um die größeren Zusammenhänge kenntlich zu machen, muß erwähnt werden, daß eine neue volksfreundliche Steuerreform um diese Zeit ihrem Höhepunkt zustrebte. Ihr Ziel war, aus der Bevölkerung, möglichst unter Vermeidung allzu öffentlicher Ärgernisse, ein Viertel bis ein Drittel mehr an Tributen herauszuholen als bisher. Die Durchführungsbestimmungen sahen vor, unter anderem sämtliche Künstler, also auch die Scheren-, Messer-, Stein-, Glas- und Diamantenschleifer, besonders energisch zu packen. Das hieß, daß ihnen, die als selbständige Unternehmer eingestuft waren, alle nur erdenklichen Nachteile, mit denen Österreich initiativ oder gar eigenwillig denkende Personen zu bestrafen pflegt, unnachsichtlich aufdividiert wurden. Die Eingaben, Petitionen und Proteste der Künstlerschaft, zu der ja neben den Friseuren, Komponisten, Schriftstellern, Leichen-restaurateuren und vielen anderen auch die Schleifmeister zu rechnen sind, blieben unbeantwortet. Gleichzeitig wurde der Boden der ökonomischen Verhältnisse unter ihren Füßen höchst absichtsvoll unterminiert, um dem Reformideal eines einigen Volks von fügsamen Lohnempfängern auch auf diesem Sektor näherzukommen.

Das Bild, das sich die Allgemeinheit von den Scheren- und Messerschleifern macht, erinnert an Illustrationen in alten Kinderflbeln, wo man Männer erblickt, die mittels Fußpedalen betriebene Schleifsteine von Haus zu Haus führen oder von großen Hunden oder kleinen Eseln ziehen lassen. Diese Vorstellung ist natürlich falsch, und von je tausend Schleifmeistern geht heute höchstens noch einer dem Gewerbe auf alte Art nach. Die anderen 999 vermieten ihr Wissen und Können, dessen Traditionen über die Eisen- bis in die Bronze- und Steinzeit zurückreichen, wahlweise als freie Konsulenten. Man findet sie in Besteckfabriken ebenso wie in Erzeugungen chirurgischer Geräte oder hinter Computern, wo sie die zu erschleifenden Parabeln optischer Geräte berechnen. Ihr Freiheitsdurst und ihr mehrmals im Jahr auftretender Wandertrieb lassen zum Grimm der Staatsorgane keine modernen sozialen Fixbindungen zu, und gerade die berühmtesten Schleifermeister leisten zur Zufriedenheit ihrer Auftraggeber im Stand der Ungebun-denheit stets ihr Bestes. Daß die von Eifer getriebenen Finanzreformer solche ihrem Erachten zufolge allzu lockeren gesellschaftspolitischen Idyllen als erste zu knacken sich vornahmen, ergab sich somit aus zwangsläufiger Logik.

Jeder Amboß brüllt, sobald er getroffen wird. So blieben auch die Scheren- und Messerschleifer nicht ruhig, als sie die Fundamente ihrer Existenz unter den Schlägen des Fiskus wanken sahen, und die über-schliffenen Bleistiftspitzer sollten als verhüllte und nicht allzu unfreundliche Warnung auf das im Ernstfall verfügbare Kampfpotential aufmerksam machen. Da dieses Signal zu vornehm und vielleicht auch etwas zu gut österreichisch verspielt in seiner inneren Struktur war, trat der Ältestenrat zusammen und beriet eine Woche lang. Er beschloß, daß die Scheren- und Messerschleifer in Kontakt mit der übrigen Künstlerschaft als erste eine Eskalation der Repressalien gegen die Auswüchse des nun denn doch gar zu selbstherrlich seine Bürger manipulierenden Staats eröffnen sollten.

Mit der Leitung der Maßnahmen wurde Hans Blitz, der trotz seines hohen Alters von 105 Jahren äußerst agile und findige Gremialobmann, betraut. Und bereits am 4. April fand sich in der Presse folgende Agenturmeldung: „Franz, der minderjährige Sohn des Chefs der Präsidialkanzlei. Dr. Horst Adolf Grünschnaitl, durchstieß gestern beim Radiobasteln seine linke Handwurzel derartig, daß die Klinge in der Tischplatte steckenblieb. Als Dr. Grünschnaitl das Messer herausriß, um den Knaben zu befreien, fügte er sich selbst eine Schnittwunde an der Bauchdecke zu, die sich löwenmaulartig öffnete. Nach Behandlung im St.-Anna-Hospital befinden sich Vater und Sohn auf dem Weg der Besserung.“

Damit war überscharf Geschliffenes bereits in höchste Amtskreise vorgetrieben. Um die Aktion wirksam zu machen, war Grünschnaitl von der ebenfalls zur Künstlerschaft gehörigen Narkoseschwester ein Kassiber folgenden Wortlauts zugeschoben worden: „Österreichs Kunstausübende fordern unter Anführung der Sch-meister die fiskalische Gleichstellung aller Volkskreise, andernfalls ...“ Das sollte deutlich genug sein, blieb aber auch wieder ohne Effekt, weil Franz, der Sohn, den aus . des eingeschlummerten Vaters Hand geglittenen Zettel fand, daraus achtlos eine Papierkugel drehte und diese durch eine Fensteroberlichte fortschoß.

Da es infolge dieser Umstände zu keiner Reaktion der Regierung kommen konnte, wurde der konzertierte Großanschlag vom 16. April eingefädelt. An diesem sonnenhellen Tag brachen in 13 der 27 Bundesministerien fast gleichzeitig Bürobrände aus. Die sofort eingesetzten 7344 Kriminalbeamten stellten fest, daß Papierentzündungen durch in Fensternähe abgelegte Leselupen die Brandursache waren. Die Lupen fügten nach ihrer Konfiskation mehreren Beamten des Bundeskriminalamts Verletzungen zu und brachten Uniformteile zum Glimmen. Ruhe trat erst ein, als der junge Plzobkoär1 Dr. Hirns auf die Idee kam, die als frischgeschliffene Neulieferung erkannten Lupen in eine Dunkelkammer einschließen zu lassen.

Alle Welt beschuldigte nichtvorhandene Stadtguerilleras, während die Beamtenspitze des Innenministeriums über einem Telegramm die Köpfe zusammensteckte, das ebenso wie der Dr. Grünschnaitl zugesteckt gewesene Kassiber lautete. Nun, auf diesen Text wußte sich niemand einen Reim zu machen. Obmann Hans Blitz sah ein, daß man in so gröblichen Zeitläufen nicht einmal in Österreich . mit diplomatisch diskreten Andeutungen auskam, sondern auf vulgäre Art deutlich werden mußte. Also ließ er wie Sinnsprüche aussehende Affichen goldfarben einrahmen und am 23. April in Repräsentationsräume des Hotels Sacher einschmuggeln. Sie lauteten so: „Österreichs Schleif- und sonstige Künstler fordern ultimativ gleiches Steuerrecht für alle. Sonst... !“

Alles übrige erhellt aus der Extraausgabe eines der Künstlerschaft gutgesinnten großen Wiener Blattes, die in aller Frühe des 24. April in den Straßen ausgerufen wurde. Gemeldet wurde in großen Lettern über die ganze erste Zeitungsseite: „Attentat auf Königini Heute um 0.35 Uhr jagte ein gespenstischer Konvoi unter Polizeischutz mit Blaulicht und Folgetonhorn vom

Hotel Sacher durch das nächtliche Wien zum Gustav-Adolf-Krankenhaus. In einem zwecks Umherführung des hohen Besuchs von der Bundesregierung gemieteten Leih-Rolls-Royce saßen drei einander stützende Persönlichkeiten unter Aufsicht eines Rettungsarztes: eine inkognito in Wien weilende Königin, 75, deren Name auf Regierungswunsch geheimgehalten wird, der britische Botschafter Lord Mac-duff, 94, und Österreichs Außenminister Dr. Wörth-Schwanzhoiserl, 32. Aller dreier Münder waren mit blutstillender Watte vollgestopft. Vorangegangen war nach einem Opernbesuch ein Souper in engstem Kreis. Als die Königin zu vorgerückter Stunde in heiterer Weinlaune ihr Tor.tenmesser abschleckte, fuhr ihr dieses zischend in die Zunge. Dem Beispiel der Majestät kavaliersmäßig folgend, erlitten der Minister und der Botschafter blitzartig ebensolche Verletzungen. Die Zungen wurden im Spital sofort genäht und durch Eingipsung ruhig gestellt, die Patienten sind außer Lebensgefahr. Den einzigen Hinweis auf eventuelle Zusammenhänge mit dem Vorfall bilden von Österreichs Schleif- und sonatiger Künstlerschaft gezeichnete Steuerforderungen.“

Dieser Fingerzeig erleuchtete die Behörde, und so kam es, daß Polizeipräsident Dr. Fußkugel bereits um 6.59 Uhr in Begleitung seines ersten Adjutanten vor dem Haus von Gremialobmann Hans Blitz am Rennweg vorfuhr. Den Herrn wurde vom Portier erklärt, daß vor 9 Uhr keine Besucher em-fangen würden und eventuelle Ansuchen schriftlich einzubringen sowie mit Stempelmarken im Wert von 45 Schilling freizumachen seien. Wutschäumend raste der Polizeikommissär davon. Zähneknirschend, doch pünktlich um neun kehrte er, ein Telephonat mit dem Regierungschef hinter sich habend, zurück. Die Unterredung mit Obmann Blitz war kurz. Blitz ließ durchblicken, es gebe Gerüchte, wonach eine geeinte Künstlerschaft Maßnahmen erwäge, deren etliche er nennen wolle. Er nannte die Totalschärfung sämtlicher zu schleifenden Gegenstände, Werkzeuge und Maschinen im Sinne bisheriger Zwischenfälle; den Verzicht aller freien Schriftsteller und Journalisten auf jeden zweiten Buchstaben des Alphabets; die Absicht aller Musikschaffenden und Musikausübenden einschließlich der Opern- und Festspielensembles, Musik in Hinkunft nur noch von hinten nach vorne zu komponieren beziehungsweise wiederzugeben; die Drohung der Architekten, private und öffentliche Bauten nicht mehr unter wirtschaftlichen, sondern allein unter ästhetischen Gesichtspunkten zu entwerfen; den Vorschlag der Designer, allen von ihnen gestalteten Produkten von der Nähnadel über das Bügeleisen und den Fernseher bis zum Jumbo-Jet ein gleichartiges eiförmiges Aussehen zu geben — und noch etliches andere mehr.

Dr. Fußkugel hielt wenige Stunden später vor einem über Dienstalarm zusammengerufenen Ministerrat blaß, aber gefaßt Vortrag. Nach siebenstündiger Beratung ließ die Regierung Obmann Blitz mit der Bitte um Diskretion die Annahme aller Forderungen der Künstlerschaft, der frei Berufstätigen sowie jener Lohn- und Gehaltsempfänger mitteilen, die in ihrer Freizeit Pfuscharbeit genannte Aufbauleistungen vollbrächten. Damit war die vollkommene Gleichberechtigung aller Staatsbürger vor dem Fiskus endgültig erreicht, und über Einbußen klagten lediglich bisher privilegiert gewesenen Parlamentarier und sonstige Politiker.

Der glorreiche Sieg der Brüderlichkeit über den Protektionismus, der Humanität über die Barbarei und des Geistes über die Materie wurde drei Tage lang bis zur Volltrunkenheit des Großteils der allerorten jubelnden Bevölkerung gefeiert. Ab dem vierten Tag wurde wieder ernst, aber glücklich gearbeitet. Und Obmann Hans Blitz erteilte Delegationen aus 47 Ländern Ratschläge über das jüngste österreichische Rezept, störrische Behörden zur Räson zu bringen.

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