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Die Dämonen von der „Lahmgruben“

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Wie sehr die zivilisierte Welt durch die verhältnismäßig kurze — bloß zwölf Jahre dauernde — Herrschaft des barbarischsten politischen System der Neuzeit, des Nationalsozialismus, zurückgeworfen worden ist, erweist sich heute, 26 Jahre nach seinem Sturz, in Österreich noch immer auf vielen Gebieten unseres Lebens. So auch auf dem der Erziehung. Wertvolle Ansätze, Fortschritte, Denkweisen und Methoden in der Päd- agogik wurden durch jenes Regime abgeschafft und durch eine Erziehung ersetzt, die an das Schlechteste im Menschen appellierte.

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Wie sehr die zivilisierte Welt durch die verhältnismäßig kurze — bloß zwölf Jahre dauernde — Herrschaft des barbarischsten politischen System der Neuzeit, des Nationalsozialismus, zurückgeworfen worden ist, erweist sich heute, 26 Jahre nach seinem Sturz, in Österreich noch immer auf vielen Gebieten unseres Lebens. So auch auf dem der Erziehung. Wertvolle Ansätze, Fortschritte, Denkweisen und Methoden in der Päd- agogik wurden durch jenes Regime abgeschafft und durch eine Erziehung ersetzt, die an das Schlechteste im Menschen appellierte.

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Nicht, daß vorher, zwischen 1918 und 1938 bereits ideale Zustände und Einrichtungen oder ein allgemein gültiger hoher Standard geschaffen worden wären. Dazu waren damals die kulturpolitischen Ziele viel zu umstritten und ihre Grundlagen in Ökonomik und Politik viel zu unstabil. Was es jedoch damals gab, waren Menschen voll des Glaubens an die Bedeutung der Erziehung und so voll von Begeisterung, daß sie ihre Kräfte und Zeit sowohl zur Erwerbung des ganzen vorhandenen geistigen Erbes als auch zu dessen Weiterentwicklung, vor allem aber zu einer erzieherischen Praxis hergaben, der wir es vielleicht zu verdanken hatten, daß die Einwirkung des Faschismus nie total werden konnte.

Insbesondere gab es damals erstaunliche Fortschritte auf dem Gebiet dessen, das man heute soziale Rehabilitierung von jugendlichen Gesetzesbrechem nennt. Damals — anfangs der dreißiger Jahre — fand in Wien anläßlich der Uraufführung des sowjetischen Films „Der Weg ins Leben“ eine denkwürdige öffentliche Diskussion zwischen dem sowjetischen Unterrichtsminister Luna- tscharsky und einem Pionier der Verwahrlostenpflege in Österreich, dem Direktor der Erziehungsanstalt Kaiser-Ebersdorf, Dr. Richard Seyß- Inquart, statt. Seyß-Inquart war so ziemlich in Allem das Gegenteil seines — vielleicht nicht wendiger begabten, jedoch charakterlich defekten — Bruders, des späteren NS- Reichskommissars in den Niederlanden und Inkulpanten auf dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß.

Was damals die Zuhörer bei der Diskussion überraschte, war die weitgehende Übereinstimmung zwischen dem — allerdings als idealistischen Schöngeist in der Sowjetunion verschrienen Kommunisten Luna- tscharsky und dem christlichen Direktor der Anstalt von Kaiser- Ebersdorf. Sie waren sich darüber einig, daß mit dem Geist und den Methoden der alten „Korrektionsanstalten“ gebrochen werden müsse. Auch gestrauchelte oder irregegangene junge Menschen müßten als Menschen angesehen und behandelt und ihnen hierdurch Glaube an sich selbst, Selbstrespekt und Honorig- keit verschafft werden, durch die allein sie Lust zur Arbeit und Eingliederung in die Gesellschaft erlangen können. Beide Pädagogen waren sich darin und darüber einig, daß ein Jugenderzieher, der sich der Prügelstrafe bedient, ungeeignet für seinen Beruf sei und von seinem Posten entfernt werden müsse.

Heute scheint das nicht so selbstverständlich zu sein. Vor mir liegen eine Anzahl Ausgaben der chemo- graphisch hergestellten „Nachrichten für Unzufriedene“, herausgegeben von der sogenannten Spartakus- Kommune. Das ist eine Gruppe junger Burschen, die ihr Hochschul- oder Mlittelschulstudium oder die Auslehre in einem Beruf zugunsten eines anarcho-kommunistischen „Aktivismus der Tat“ aufgegeben haben. Sie haben sich die Technik der Kommerzwerbung, des Von-sich-auf-hop- oder-trop-reden-Machens angeeignet, durch Aktionen, die dem Bürger epatieren, wie Sitzstreiks auf

Fabriks- und Kirchendächem und in Tigerkäflgen, Eindringen in Fernsehstudios und Okkupation von Mikrophonen bei Prestigeveranistal- tungen von Behörden und anderen Institutionen. Sie nehmen Mißstände in unserer Gesellschaft zum Anlaß, um gegen diese zu demonstrieren — nicht, um sie wirklich abzustellen, sondern um die „Massen zu mobilisieren“ und die Gesellschaft zu stürzen. Was sie an deren Stelle setzen wollen, ist der gleiche Nebel von chiliastischen Phrasen, uns Alten so wohlbekannt aus der Ideengeschichte der Sekten und Utopisten, deren Ideen und Hoffnungen zuletzt durch den sowjetischen Autoritäts- und Großmachtstaat so gründlich kompromittiert und ad absurdum geführt worden sind.

Karl Marxens Idealobjekt für Mobilisierung von Massen zwecks Sturz der Gesellschaft: die Arbeiterklasse, ist für die Rebellanten von heute nicht mehr erreichbar — zumindest nicht mit dem von ihnen in Anspruch genommenen marx-leniiy sehen Rüstzeug. Verbleibt als Objekt nur die Jugend, deren soziale Benachteiligung just darin und so lange besteht, als sie eben jung, unkonflr- miert und unkonformiert ist. Und hier sind es im Besonderen jene unglücklichen jungen Menschen, die durch moralisches oder geistiges Unvermögen ihrer Eltern oder überhaupt infolge der mentalen Trägheit der „Erwachsenen“ in einem über das Normale hinausgehenden Widerspruch zu deren Welt geraten: falsch oder überhaupt nicht Erzogene, Verwahrloste, emotionell Unterernährte oder Überfütterte, Kinder aus unglücklichen oder geschiedenen oder überhaupt nicht zustande gekommenen Ehen. Aus ihnen rekrutieren sich die Zielobjekte der Kommunarden — von denen nahezu jeder gleichfalls auf die eine oder andere beschriebene Weise lädiert ist.

Dennoch bedarf es einer von anderen Motiven und aus wirklicher Höllentiefe auftauchenden Figur, eines Netschajew, eines Asew, um die „Dämonen“ in den Seelen solcher junger Menschen zu entfesseln. Im Falle der Spartakiden ist es ein Franzose namens Roland Perrot, von seinen Anhängern Rėmy genannt. Ursprünglich selber Erzieher in einem französischen Heim für verwahrloste Jugendliche, führte er diese — viele von ihnen noch Kinder — zur Zeit der Maiunruhen 1967 in Frankreich auf die Barrikaden gegen die Gardes d’assaults. Darnach flüchtete er aus Frankreich und ging nach Österreich. Hier gelang es ihm, sich einen jungen talentierten Filmstudenten hörig zu machen und über diesen — nach erprobtem Muster — Einfluß auf die Insassen des Jugenderziehungsheimes der „Caritas“ in der Geblergasse in Wien zu erlangen. Die Anstaltsleitung, nur in konventionellen Begriffen denkend, war unfähig, der psychologisch ausgepichten Strategie Perrots zu begegnen. Es dauerte nicht lange, und das Heim brach auseinander und seine ehemaligen Insassen wurden zum Fußvolk für die weiteren Aktionen Perrots und seiner Leutnants. Es gelang ihm, eine ganze Reihe junger Menschen zu ruinieren, indem er ihnen durch Beteiligung an spektakulären Aktionen entweder den Ausschluß aus der Schule oder Lehrstelle oder den Geschmack an einem von Skandalmeldungen oder von der Gloriole des Revoluzzers verklärten Leben verschaffte.

Kein PR-Mann kann prosperieren, wenn seine Tätigkeit nicht einerseits von Auftraggebern und anderseits von bestehenden Bedürfnissen genährt wird. Das gleiche gilt für einen anarcho-kommunistischen Konspi- rator und agent provocateur, der Perrot ziemlich sicher ist. Er konnte jahrelang seine Tätigkeit unter den Augen der Polizei, ohne sichtbares Einkommen, ja sogar ohne polizeilich angemeldetes Domizil vollführen, bei mehreren Aktionen zwar mit festgenommen, jedoch immer kurz danach enthaftet. Erst vor einem halben Jahr zog er es vor, wieder ins Ausland zu gehen — ohne jedoch seine Verbindung zu seinen Hörigen abzubrechen, die keine Reisen scheuen, um sich ihre Instruktionen von ihm zu holen.

Konspiration und Revoluzzertum mögen ihre Reize für junge Leute haben, es bedarf jedoch mehr, nämlich echter Angriffsziele, um sie so lange und ausgiebig an der Stange zu halten. Die Zeitschrift der Spartakiden berichtet darüber. Eine ganze Sondernummer „öffnet die Helme!“ enthält Schilderungen von Zöglingen staatlicher und den Bundesländern unterstehender Erziehungsheime, wie diese als Extrakt nachfolgend stehenden:

„Ich mußte mal in Kirchberg (an der Wagram, Strafabteilung der Kaiser-Ebersdorfer Anstalt) arbeiten, und zwar mit Handschellen… Glatze steht hier auf der Hausordnung… Hier kommen die größten Schläger von Erziehern hin, zum Beispiel Weiß… Das Essen… besteht nur aus Abfällen… Man muß Splinten zupfen oder Tüten kleben… Wenn man Arbeitsverweigerung macht oder man kann einfach nicht mehr, wird man vor drei oder vier Erziehern… derart verprügelt, daß man manchmal gar nicht mehr stehen kann. Im Winter bekommt man zwei Briketts im Tag zum Heizen. Das WC ist eine Waschschüssel, in der man sich auch waschen muß. In der Zelle (es gibt nur Einzelzellen) sind die Mauern feucht, stickige Luft, trübes Licht…“

(Ohne Nennung des Namens des Berichtenden)

Kaiser-Ebersdorf:

Protokoll von Berti K.

(Nach einem Fluchtversuch aus der Anstalt): „Ich kam wieder in diese fürchterliche stinkende Zelle im Keller und bekam eine gehörige Tracht Prügel von vier Erziehern… Weber Walter, Ludowatz, Weiss, Boss…“

Protokoll von Herbert M.

„Einmal ist ein Gerücht entstanden, daß fünf Burschen einen Erzieher hauen und auf Flucht gehen wollten. Ludowatz, der diensthabende Erzieher, hat sich einen geholt, nichts erfahren und hat ihn darauf gelyncht. Und so einen nach dem andern von diesen Burschen. Dann kamen noch Weiß und Crome- cek und schlugen alle fünf noch einmal. Jeder, der aus dem Dienstzimmer herauskam, war blutig und mußte sich an der Wand anhalten…“

Erziehungsheim Klein-Volderberg (bei Schwaz, Tirol)

Protokoll von Omer Gigovicz.

„Als ich von der Flucht gekommen bin, sagte er Erzieher Emil Jaus zu den Burschen: ,Ich geh jetzt raus, daß ich es nicht seh; ihr haut ihn zusammen.“ Das war im Waschraum — jeder, der von der Flucht gekommen ist, mußte dort eine halbe Stunde unter der kalten Brause (es war im Winter) stehen. Die acht stärksten vom Heim schlugen mich zusammen, mit Fäusten und Besenstielen…“

Windischgarsten

Protokoll von Hans W.

mit einem Lineal wurde uns so lange auf die Finger geschlagen, bis wir bluteten…“

Eggenburg

Protokoll von Michael H.

„… ein anderes Mal mußte ich mit meiner Zahnbürste und einem Sacktuch zwei Stunden lang den Boden aufreiben… Der Zögling Robert Schuller ging nicht zur Arbeit. Darauf wurde er von den Erziehern Wiesinger, Gruber und Heidn verprügelt. Sie warfen ihn zu Boden, wobei er sich die Hand brach. Im Spital gaben sie an, er sei über die Treppe gefallen. Robert gab die wahre Ursache an, das Spital erstattete jedoch keine Anzeige…“

Wiener Neudorf (Mädchenerziehungsheim)

Am ersten Tag wurden mir meine ellenbogenlangen Haare abgeschnitten; zwei Mädchen hielten mich, eine dritte schnitt sie mir ohrläppchenlang ab. Meine ganze Wäsche wurde mir abgenommen; ich wurde in einen knöchellangen, zerschlissenen Fetzen gesteckt…“

Graz, Erziehungsheim Blümlhof für Mädchen

Am 15. März 1971 erhängte sich im Erziehungsheim ein Mädchen namens Inge Grassner sie hatte Streitigkeiten mit ihren Eltern. Das genügte, um sie in das Heim einzuweisen. Sie war zwei Jahre im Blümlhof und wurde völlig isoliert. Sie wurde von den .Pädago- ginneri ausgelacht, beschimpft und geschlagen, zum Beispiel, wenn sie ihnen von ihrem Verlobten zu erzählen begann. Sie drohte den Erzieherinnen an, daß sie sich umbringen werde, aber sie beschimpften sde nur weiter als Hure… Am 15. März, um zirka 16 Uhr, erhängte sie sich… Das sind Informationen von Mädchen, die zwei Jahre lang mit Inge im Heim verbrachten. Die Direktorin des Blümlhofs hat veranlaßt, daß die Öffentlichkeit nichts davon erfährt. Die Grazer Zeitungen haben sich geweigert, über den Fall zu berichten.“

Und so weiter und so weiter. All das mag übertrieben, vieles überhaupt falsch gesehen sein oder ad maiorem rei politicae gloriam von den Kommunarden-Redakteuren misdnterpretiert worden sein. Dennoch reicht auch nur die entfernte Möglichkeit, daß etwas daran wahr ist — und diese Möglichkeit scheint im beträchtlichen Maße vorhanden zu sein! — um zu einer kompetenten Überprüfung zu zwingen. Nicht zu einer solchen, wie sie sich anläßlich einer Anfrage des Abgeordneten Skritek an BM Dr. Broda am 17. Februar 1971 im Parlament abspielte:

ABG. SKRITEK: „Welche Maßnahmen zum zeitgemäßen Ausbau der Erziehungsheime, die in den Zuständigkeitsbereich des Justizministeriums fallen, werden derzeit vom J.-M. vorbereitet?“

BM Dr. BRODA: „Wir arbeiten derzeit an einem Bundesgesetz über die Organisation und Führung van Anstalten für Erziehungsbedürftige, soweit diese Anstalten in den Zuständigkeitsbereich des J.-M. Mien… Natürlich werden wir ganz besonderes Schwergewicht auf die Ausbildung und die Fortbildung von Erziehern legen, weil das Um und Auf der Heimerziehung auch im Bereich der Justizverwaltung ist…“

ABG. SKRITEK: „… Bezüglich der Erziehungsheime wird in der Öffentlichkeit vor allem (?) über deren baulichen Zustand immer wieder Beschwerde geführt…“

Hierzu: Ehe Gesetze ausgearbeitet und vorgelegt werden, muß eine Feststellung und Veröffentlichung der realen Zustände durch eine nicht aus Angehörigen der für die Heime zuständigen Behörden und Stellen noch von seiten deren bisheriger Konsulenten und Experten bestehenden Hochkommission in- und ausländischer Fachleute und Männer der Öffentlichkeit erfolgen.

Des weiteren: Bin Bundesgesetz, das nur für die dem Bund unterstehenden Anstalten anwendbar ist, ist angesichts der Tatsache, daß die Mehrheit der Anstalten den Ländern unterstehen, unzureichend. Ebenso muß auch die Ausbildung von Heimerziehern über den Bereich der Justizverwaltung zu dem der Länder hinausgehen, ;i„.. .

Man kann, ohne der Übertreibung bezichtigt werden zu können, sagen, daß alle bisherigen Untersuchungen der Zustände in den Heimen dillet- tantisch und inkompetent, oder als Augenaiuswischerai und Prestige-Gestik geführt worden sind. So ist einem Bericht der „Nachrichten für Unzufriedene“ zu entnehmen, daß ein ehemaliger Heimzögling und Agitator der Spartakus-Gruppe, Werner Juranek, vom Leiter der Magistratsabteilung, Senatsrat Prohaska, bevollmächtigt wurde, Untersuchungen in den Heimen zu führen, Protokolle mit Zöglingen aufzunehmen und dergleichen mehr. Solcher Unsinn konnte denn auch nicht anders ‘als schließlich mit der Einstellung dieser Tätigkeit des Werner Juranek enden. Nicht genug damit, bekam ein „junger Publizistikstudent“ vom Fernsehen den Auftrag, eine Sendung über die Heime zu schreiben, zu der ihm die Spartakiden die Unterlagen lieferten. Darauf führte die Gemeinde Wien eine „Enquete“ über Heimerziehung durch, bei der einerseits die Spitzen fromme Phrasen von sich gaben und die der Mißstände angeklagten Beamten und Experten mitteilten, daß sie alles untersucht und für gut befunden hätten. Bis Kommunarden in den Saal ein- dranigen, sich des Mikrophons bemächtigten und aus den von ihnen verfaßten „Protokollen“ vorzulesen begannen. Demnach doppelte Komödie.

Danach — es wird noch immer keine echte und kompetente Untersuchungskommission gebildet — empfangen Innenminister Rösch und die Spitzen der Polizei eine Delegation der Spartakiden und gestehen ihnen Polizeischutz sowie Befreiung von der ansonsten üblichen 24stün- digen Frist zur Anmeldung von Demonstrationen zu. Womit die Daseinsberechtigung aller erwiesen wird, seien sie nun „Establishment“ oder Adoleszenz. Was jedoch weitergeht, ist die „Verunsicherung“ unseres. gesellschaftlichen Lebens, an der die hinter dem spiritus rector Per- rot-Rėmy stehenden Mächte vor allem interessiert sind.

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