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Randbemerkungen zur woche

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DIE BILDUNG EINER NEUEN BUNDESREGIERUNG muß erst ihre testen Unterlagen erhalten, denn ein nur zwischen VP und WdU vereinbartes Programm, das leider über die schwebenden kulturellen und kulturpolitischen Obliegenheiten sich völlig ausschweigt und sich im wesentlichen aul die wirtschaitlichen Vorhaben beschränkt, wird schwerlich die „Konzentration aller Kräfte, die den souveränen Staat Oesterreich und seine innere Befriedung bejahen“, herbeiführen, wenn schon diese Definition sinngemäß auch die bisherige zweite Koalitionspartei miteinschließt, mit der ein siebenjähriges Arbeitsbündnis bestanden hat. Die nicht zu verhehlenden Unstimmigkeiten im Lager der „Wahlpartei der Unabhängigen“, die unter anderem ihren beredten Ausdruck in der Forderung des Wiener Landesobmannes Stüber nach der Führung im Verband ihren Ausdruck fanden, raten jenen zur Zurückhaltung, die vielleicht aus diesem oder jenem Grund einem solchen Experiment mit dieser Gruppe geneigt waren. Es wird nun an der bisherigen zweiten Regierungspartei sein, ihre Grenzen zu erkennen und Beweise ihres Willens zur vollen Mitverantwortung abzugeben. Eine andere Frage ist es, daß in der Zukunft allem Anschein nach das Parlament wieder zu den ihm gebührenden Ehren kommen wird. Die Entwicklung geht, wenn nicht die Zeichen trügen, dahin, letzte Entscheidungen aus dem Dunkel von Parteivereinbarungen und Kammerabsprachen heraus dorthin zu bringen, wohin sie gehören: vor die gewählte Volksvertretung. Mehr Rechte, aber auch größere Verantwortung warten auf die Abgeordneten. Ihr Können, ihr Geschick, aber auch ihre Courage werden stärker als bisher das Gesicht, aber auch die Zukunft ihrer Parteien bestimmen.

AFFAREN UM PERSONEN ENTZÜNDEN IN FRANKREICH leidenschaftliche Auseinandersetzungen wie kaum in einem anderen Lande Europas. Einmal geht es um einen Schriftsteller, dann um einen kranken Jungen, einen Arbeiterpriester, einen Maler; nicht allzuoft um einen Politiker und General. Frankreich hütet eilersüchtig und stolz die Rechte der Person. Und das ist gut so. Gegenwärtig hat der Fall der Kinder F1 naly die Gemüter, die Presse und die ganze Oeffentlichkeit erregt. Ein schwieriger Fall, über den das letzte Wort noch nicht gesprochen ist,

Der Wiener jüdische Arzt Dr. Fritz Finaly ist 1936 mit seiner Gattin Anna, geb. Schwartz, nach Frankreich ausgewandert, um der drohenden Hitlerhejjschalt qusmw#iclMB,>,,,1944 verlauf er ihr in Frankreich und verschwindet für immer mit seiner Gattin in einem deutschen Konzentrationslager. Zwei Kinder, Robert und Gerard, damals drei und zwei Jahre alt, sind als Waisen in Grenoble zurückgeblieben und finden gemeinsam mit einem Dutzend anderer verlassener jüdischet Kinder Aufnahme, Obhut und Rettung in einer Grenobler Gemeinde-Kinderkrippe, die von einer kinderfreundlichen Mademoiselle Antoinette Brun geleitet wird. Nach dem Ende der deutschen Okkupation werden die meisten jüdischen Kinder von ihren Familien geholt, nur Robert und Gerard, die Lieblinge der Krippenleiterin, bleiben in ihrer Obhut zurück. Dann meldet sich das Begehren einer Tante, welche die Verbringung der beiden Buben nach Neuseeland begehrt, doch die MUe. Brun macht geltend, der eine der Knaben habe eine Operation überstanden und sei zu schwach für die weite Reise. Nun beginnt der Streit um die Kinder zwischen der Krippenleiterin und den Verwandten. Religiöse Motive melden sich. Behördliche Instanzen stellen sich auf die Seite des Fräuleins Brun, geben ihr die Vormundschaft, und als es so weit ist, aber noch allerlei im ungewissen bleibt, läßt sie die beiden jüdischen Kinder, die inzwischen sechs und sieben Jahre alt geworden sind, taufen. Aber eine zweite Tante, die sich gemeldet hat, gewinnt bei der Oberbehörde den Krieg um die Kinder und wird zum Vormund erklärt. Daraul verschwinden die Kinder von einem Institut in das andere, ein erbittertes Ver-steckenspiel, in dem das Gesetz auf Seite der Verwandten ist, die Sympathien und eiternde Fürsorge katholischer Frauen auf Seite der Kinder und ihrer Verstecker. Schließlich sind sie gar von Bayonne nach Spanien verschwunden. Antoinette Brun und die Oberin der Sionsschwestern von Grenoble sind verhaltet worden, erstere in Zellengemeinschalt mit zwei Dirnen, die soiort das alte Fräulein ihrer Habseligkeiten beraubten. Von den beiden Knaben kennt man bis zur Stunde nicht den Aufenthalt, und wie es heißt, haben sich spanische Autoritäten mit einem Einschreiten nicht bemüht. Längst hat an der Affäre der französische Antiklerikalismus Feuer gefangen, es brennt gefährlich, wie in Zeiten der Dreyius-Alfäre. Aber auch im französischen Katholizismus haben sich zwei Parteien gebildet, die eine verteidigt die „Entführung“ der Finaly-Kinder, die andere fordert (und an ihrer Spitze der Episkopat) die Mithilfe der Katholiken bei der Aultindung der Kinder. Ein schönes Beispiel unparteiischer Gerechtigkeitsliebe gibt in diesem Streit die Wochenschrift der französischen Protestanten .La Relorme' mit ihrer Stellungnahme:

„Zweifellos hatte Antoinette Brun unrechtt sie hätte die Kinder zurückgeben müssen. Aber durch den Zwang der Umstände hatte sie die beiden in eine Umgebung versetzt, die sie nun eben in ihrer Weise geformt hat. Was glaubt man durch das Wegreißen und die totale Verpflanzung der Kinder für deren seelisches Gleichgewicht und auch für deren Wohlergehen zu gewinnen? Man spreche uns nicht von großen Gefühlen, wo es sich hauptsächlich um Vorurteile handelt. Was zuerst und einzig hätte zählen sollen, ist das Schicksal der Kinder. Zwei Knaben von elf und zwölt Jahren sind keine Nummern.“

Aber es liegt von beiden Knaben noch kein verbürgte Aussage- vor, welche Wahl sie freiten. Trotz allem ist zu hoffen, daß die ganze Affäre in Güte bereinigt wird. Sie wird die Erinnerung zurücklassen, daß auch der fromme Bekehrungseiler der Zucht und der Erleuchtung bedarf, und aul der anderen Seite: die Erinnerung an die unveräußerlichen Rechte der Person, sich frei zu entscheiden. Selbst wenn es gegen Tanten wäre.

IN DER STUNDE, IN DER J. W. STALIN im Sterben lag und die Augen der ganzen Welt voll Sorge aui Moskau gerichtet waren, hat der Präsident der Vereinigten Staaten eine Bolschaft an das russische Volk gerichtet, von der alle Besonnenen wünschen, daß sie ihrerseits den Wall von Angst und Absperrung, von Furcht und Haß übersteigen möchte, so wie wenige Wochen zuvor es der letzten Botschaft J. W. Stalins an Westeuropa gelang, als er namhafte Beträge für die von der Flut Heimgesuchten in England und Holland überweisen ließ. Eisenhowers Wort an das russische Volk ist ein Zuspruch des Friedens und des Mitgefühls, es geht „der Bevölkerung der Sowjetunion zu, den Männern und Frauen, Jungen und Mädchen, in den Dörlern und Städten, auf den Bauernhöfen und in den Fabriken Ruß' lands, Sie sind die Kinder des gleichen Gottes, der der Vater aller Völker der Welt ist. Wie alle Völker, teilen die Millionen Rußlands unser Sehnen nach einer freundlichen und friedlichen Welt. Ohne Rücksicht aul die Einstellung seiner Führung werden wir Amerh kaner weiter dafür beten, daß der Allmächtige über die Bevölkerung dieses großen Landes wachen und ihr durch seine VJeisheit Gelegenheit geben möge, in einer Welt zu leben, in der alle Männer, Frauen und Kinder in Frieden und Gemeinschaft zusammenwohnen“. Es wäre viel geholfen, wenn der Geist dieser Worte zunächst einmal bei den UNO-Gesprächen erscheinen würde.

WIE OPERETTENSZENEN könnten die Vorgänge in Teheran anmuten, wenn man nicht wüßte, daß sie sich vor einem so ernsten Hintergrund abspielen. Der Premierminister spielt den Schah an die Wand, enfkieidet den jungen Monarchen schrittweise seiner Macht und seiner Rechte. Der Schah, zur Abdankung entschlossen, zeigt sich weinend seinem Volke und entllammt es zu dynastischer Begeisterung. Der Premierminister flüchtet zuerst im Nachtkleid in ein amerikanisches Gebäude, den Mantel eines Mollah umgeworlen, eines Mitgliedes eben jener mohammedanischen Geistlichkeit, die sich soeben an die Seite des Schahs gestellt hatte. Hohe Posten in der Regierung, der Polizei, der Armee wechseln von Stunde auf Stunde den Inhaber. Anhänger der kommunistischen Tudehpartei schüren das Feuer. Und hinter all dem stehen die mon-dialen Konflikte, der Streit um die iranischen Oelfelder, die ungelöste Spannung mit den Westmächten, das Versiegen der iranischen Einnahmen aus dem Weltölgeschätt. In diesem Chaos kann nur zu leicht der politische Linksextremismus als lachender Dritter zu einer langerwarteten Chance kommen, zwischen die nahöstlichen Araberstaaten und die arabische Hauptmacht Pakistan einen trennenden Keil treiben. Die Unterminierung Vorderarabiens ist dem Kreml bisher nicht gelungen. Der heiße Boden Persiens kann die Saat des Umsturzes leichter zum Keimen bringen als es den Anschein hatte. Die Vorboten von Stürmen werden nicht selten übersehen.

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