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Weibliches 1789?

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Staatspräsident Giscard d’Estaing Kat seinen Wahlkampf unter dem Slogan tiefgreifender Reformen und Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen Frankreichs geführt. In bisher vier Fernsehansprachen und einer Pressekonferenz — pardon, er liebt dieses Wort nicht und nannte es daher „Aussprache mit der Presse” — wurde der Begriff .Veränderung” oft benutzt, fast möchte man sagen: strapaziert. Dieser kühle Techniker der Macht hat den Wunsch nach Erneuerung weder allein gepachtet noch gar erfunden. Es sind vielmehr in den letzten zwei bis drei Jahren in der Tiefe der Nation Kräfte lebendig geworden, die der verstorbene Präsident und vorsichtige Staatsmann Georges Pompidou zu bändigen trachtete. Das zweite Staatsoberhaupt der V. Republik, das oft mit Stolz auf seine bäuerlichen Vorfahren hingewiesen hat, wollte umfassenden gesellschaftspolitischen Experimenten den ihnen eigentlich gebührenden Platz kaum einräumen. Seine Politik zielte vielmehr darauf, zu konservieren und die Traditionen in sachten Reformen der Gegenwart anzupassen. Schon zu seinen Lebzeiten wurde daher des öfteren die Befürchtung laut, daß der dauernd zurückgedrängte Dampf den Kessel explodieren lassen könnte, wie dies im Mai des Jahres 1968 geschehen ist.

Laut der vom „Figaro” am 30. August veröffentlichten Meinungsumfrage des damoskopischen Institutes SOFRES äußerten sich 96 Prozent der Befragten dahingehend, daß noch viel geschehen müsse, um die bisherige Gesellschaft zu verändern. Nur 2 Prozent glaubten, die Reformen seien seit dem 19. Mai bereits durchgeführt. Diese für sich sprechenden Zahlen spiegeln den Wunsch weitester BeVölkorahgS- kreise aller Stände und Klassen •nach einem Verschwinden unzähliger Tabus und nach einer eingehenden Erneuerung der sozialen Strukturen wider. Zwar hatten die Gaullisten den Versuch unternommen, den Wählern glaubhaft zu machen, daß nach dem Machtantritt des Generals der große Umschwung bereits eingetreten und das seit 1789 bestehende Bild Frankreichs zugunsten eines modernen Konzeptes verdrängt worden sei. Der Alt-Gaullismus hat aber, trotz aller Verdienste um die Technisierung des Landes, nicht alle wesentlichen Elemente des sozialen und kulturellen Lebens der Gegenwart anpassen können. Die’ Beziehung vom Individuum zum Staat, das Überwiegen bäuerlichen Gedankenguts im größten Teil des Landes, der Bestand der Großfamilie und besonders die Stellung der Frau hatten sich seit 1958 unmerklich den Voraussetzungen des 20. Jahrhunderts gebeugt. Kenner Frankreichs durften trotz des vielzitierten Wortes von der „Revolution” die konservative Grundeinstellung der Nation unterstreichen. Im Mai 1968 wurden dann erstmals seit Kriegsende zahlreiche Fundamente der gesellschaftlichen Existenz in Frage gestellt, unter anderem auoh das napoleonische Statut der Universitäten. Viele na tionale Heiligtümer können sich gegenwärtig nur noch mit Mühe behaupten und selbst die auf der allgemeinen Wehrpflicht basierende Armee ist Kontestierungen unterworfen. Die Kirche muß mit tiefgreifenden Spannungen kämpfen und hat die Folgen des Zweiten Vatikanischen Konzils noch nicht verkraftet. Aber Universität, Armee und Kirche, die mit Schwierigkeiten im eigenen Kern konfrontiert werden, sind in ihrer Tiefenwirkung nicht mit der eigentlichen Umwandlung im heutigen Frankreich vergleichbar, die auf dem Sektor der Familie, und hier besonders in der Position der Frau stattflndet.

Erst in aller jüngster Zeit hat dieses Land, dem man fälschlich einen so femininen Charakter zuschreibt, die Bedeutung des weiblichen Geschlechtes in Industrie, Arbeit und sozialem Leben in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt. So repräsentieren die Frauen 40 Prozent der aktiven Bevölkerung dės Landes. Wie kommt es, daß die weiblichen Lohnempfänger in ihrer Gesamtheit nur ein Viertel des Gehaltes aller Männer erhalten? 79 Prozent aller Personen, die den berüchtigten Mindestlohn SMIC beanspruchen, sind Frauen. Die Berufsausbildung von Madame und Mademoiselle läßt zu wünschen übrig. Die staatlichen und städtischen Verwaltungen stellen bei öffentlichen Ausschreibungen von Arbeitsplätzen den Frauen viel schwierigere Bedingungen als ihren männlichen Kollegen. Soweit es die technischen Schulen betrifft, mußte die Regierung dreimal energisch eingreifen, um den Mädchen die Aufnahme zu sichern. Derartige Beispiele lassen sich beliebig fortführen. Da das weibliche Element im Wählercorps das Übergewicht hat, aber nur neun Damen die Parlamentssitze ZI5fSU WITT GiscafcT d’Estaing auf diesem Sektor ein großangelegtes Reformwerk initiieren. Zum erstenmal in der Geschichte wurde daher ein Staatssekretariatsposten zur Verbesserung der weiblichen Lebensbedingungen eingerichtet. Inhaberin dieses Portefeuilles wurde Franęoise Giroud, die Direktorin des Nachrichtenmagazins „Express” und enge Mitarbeiterin des Herausgebers und Präsidenten der Radikalsozialistischen Partei Jean-Jacques Servan- Schreiber. Die Vollmachten der Staatssekretärin sind nicht genau definiert. Sie soll auf alle Fälle der Regierung Ideen übermitteln, die darauf hinausgehen, die Gleich berechtigung mit den männlichen Kollegen in die Realität umzusetzen. Denn es steht fest, daß die Französinnen nicht mehr nur Objekt sein wollen oder daß sie die Rolle akzeptieren, die ihnen jahrhundertelang zugestanden wurde. Sie erheben Anspruch, ihr Leben selbständig zu gestalten und scheuen auch nicht davor zurück, Gesetze in Frage zu stellen, auf denen die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts beruht.

Drei Momente rücken in den Vordergrund der Streitgespräche: der Vertrieb empfängnisverhütender Mittel, die Erleichterung der Ehescheidung und die Freigabe der Schwangerschaftsabbrechung. Es ist bis her in Frankreich keineswegs einfach gewesen, eine Ehe zu .trennen. Willenserklärungen der Partner genügten nicht und es wurden oft häßliche juridische Kniffe angewendet, um eine Lebensgemeinschaft aufzulösen. Die Gatten pflegten einander die erniedrigendsten Dinge vor zuwerfen, ungute Briefe zu schreiben, falsche Zeugenaussagen zu konstruieren, und die Gewinner waren natürlich die Rechtsanwälte. Diese langwierige und mit erheblichen Kosten verbundene Prozedur soll nach einem Entwurf des Justiz- miniatBM..Laeanuflt.-vereinfacht und, das gemeinsame Einverständnis vorausgesetzt, ein Weg gefunden werden, der diese bisherige Praxis beendet.

Noch im Frühjahr dieses Jahres wurde der Verkauf empfängsnlsver- hütender Mittel freigegeben und Zentren für Familienplanung wurden ausgebaut. Seit der gaullistische Abgeordnete Neuwirth, in der Öffentlichkeit als „Pillen-Neuwirth” bekannt, sein diesbezügliches Gesetz 1967 einbrachte, wurden von der parlamentarischen Mehrheit und der Regierung zahlreiche Manöver unternommen, um diesen Text nicht Wirklichkeit werden zu lassen.

Wenn manchmal ironisch der Vorwurf laut wurde, Frankreich sei „auf sexuellem Gebiet ein Entwicklungsland”, lächelt zwar der Ausländer, aber im innersten Kern’ kann diese Behauptung aufrechterhalten werden. Der Mangel an einer gezielten Aufklärung führte zu der Katastrophe der illegalen Schwanger- schaftsabbrüche, die zu einer echten Gefahr für das Leben zehntausender Frauen wurde. Man kolportierte in politischen Parlamentskreisen Zahlen von jährlich 800.000 bis 1 Million solcher geheimen, oft unter grauenerregenden Umständen durchgeführten Abtreibungen. Für 1972 betrug die Gesamthöhe der Todesfälle von Frauen zwischen 18 und 40 Jahren, die sich die Leibesfrucht hatten atotreiben lassen, 10.700. Als im April

1971 das umstrittene Manifest der 343 Frauen in der linksgerichteten Zeitschrift „Le Nouvel Observateur” publiziert . wurde, entstand ein akutes politisches Problem, das sich

1972 und 1973 in leidenschaftlichen Polemiken zuspitzte. Diese 343 Frauen gehörten zu den bekanntesten Repräsentantinnen des künstlerischen und literarischen Lebens Frankreichs. Einige aufsehenerregende Prozesse gegen Minderjährige, die der Abtreibung angeklagt waren, sensibilisierten die Öffentlichkeit und veranlaßten Parteien, Kirchen, Ärzte und Nobelpreisträger, divergierende Positionen zu ergreifen. Die Regierung hat Ende 1973 dem Parlament einen Text yongelegt, der im wesentlichen das Gesetz von 1920 auflheben und eine Liberalisierung der Schwangerschaftsunterbrechung in die Wege leiten sollte. Der Entwurf wurde von der konservativen Mehrheit zurückgewiesen und bisher hat die Regierung Chirac der Kammer und dem Senat keinen neuen Entwurf unterbreitet. Es ist bekannt, das Valėry Giscard d’Estaing und Frau Gesundheitsminister Simone Weill sich im wesentlichen zu einer Liberalisierung bekeapien, die bis an die Grenze der sozialen Indikation geht. Der heiße Wahlkampf und die ins Unermeßliche steigende Inflationsrate haben nun dieses Problem aus der unmittelbaren Tagesdiskussion verdrängt.

Diese Betrachtung wäre unvoll ständig, würde man nicht ein Phänomen anführen, das seit der Wahl Giscard d’Es’taings unwahrscheinlich anmutende Dimensionen angenommen hat. Eine Welle unqua- liflzierbarer Pornographie und Erotik flutet über das Land und dringt in Regionen vor, in denen die allgemeine Moral bisher den Vorstellungen eines christlichen Volkes entsprach. Die Champs-Elysees verwandeln sich seit einigen Wochen in ein Pornographie-Museum und es ist Eltern kaum anzuraten, ihre Kinder vor den zahlreichen Kinos dieser Prunkstraße verweilen zu lassen. Selbst für die abgebrühtesten Filmfachleute ist der Erfolg des erotischen Streifens „Emanuela” ein Rätsel. Trotz der Sommermonate, in denen die Leute kaum ins Kino gehen, erreichte die Besucherzahl eine Traumgrenze von mehr als 1 Million. Dabei handelt es sich um einen eher mittelmäßigen Film, in dem eine bisher unbekannte holländische Schauspielerin permanent ihre Rundungen zeigt und sich von einem Lustgreis in die erotischen Geheimnisse des Fernen Ostens einweihen läßt. Noch peinlicher wirkt es, wenn kirchliche Einrichtungen, Gebräuche und Sitten den Hintergrund für sogenannte .Kunstwerke” bieten. Es ist hier die Rede von dem Film .Unmoralische Geschichten” (Contes Immoraux), der von einer gewissen Linkspresse als bedeutende künstlerische Aussage präsentiert wird.

Da die heranwaohende Generation mit sämtlichen Aspekten der Gewalt durch Film und Fernsehen vertraut gemacht wird, bleiben die Folgen nicht aus. So folterten drei Jugendliche in Metz zwei Bettler stundenlang zu Tode, so kam es zu Ausschreitungen hunderter Jugendlicher während eines öffentlichen Balls in Rouen.

Frankreich erlebt im Bereich der gesellschaftlichen Strukturen eine Revolution, die durchaus mit der politisch-sozialen von 1789 verglichen werden kann. Eine Welt geht zugrunde und die Zukunft ist nicht einmal noch in Umrissen zu erkennen.

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