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Land ohne Politiker

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Lissabon, im September Der Präsident der portugiesischen Regierung, Salazar, weiß in einer seiner geistvollen Reden, die jeweils einer Doktorarbeit gleichen, folgende Anekdote zu berichten: König Carlo versuchte, von einem seiner Ratgeber, der ihm über die Unzufriedenheiten im Lande berichtete, eine Definition zu erhalten, was denn unter dem „Land“ zu verstehen sei. Darauf antwortete ihm der Chef der Fortschrittspartei, Jose Luciano: „Das Land, Sir, sind die Politiker.“

Diese Politiker, welche 1910 nach dem Sturz des Königtums eine liberale Republik mit stark freimaurischem Akzent ausriefen, haben nicht gerade große Lorbeeren gepflückt. Sehen wir von den zahlreichen Bürgerkriegen, Putschen, Pronunciamentos ab, die aus Portugal einen Staat machten, der nur mit einer kleinen mittelamerikanischen Republik zu vergleichen war, so genügen nur zwei Hinweise, um das Chaos zu charakterisieren. Portugal brachte es bis 1926 auf die beachtliche Anzahl von 43 Regierungen und acht Staatschefs. Das Defizit im Budget erhöhte sich von 25.000 Escudos 1915 auf 501,000.000 Escudos 1922/23.

In wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht taumelte der Staat von einer Krise in die andere. Die Nation vegetierte dahin und glitt in eine vollendete Anarchie, obwohl die Erinnerung an die Epoche der Seefahrten und die Zeit, als Portugal die Tore einer neuen Welt öffnete, durchaus noch lebendig war.

Durch die Militärrevolte des 28. April 1926 versuchte die Armee, dem staatlichen Zusammenbruch Einhalt zu gebieten. Da die Probleme in erster Linie auf finanztechnischer wie wirtschaftlicher Ebene lagen und sich die Generäle dafür, nicht zuständig fühlten — ein Zeichen bemerkenswerter politischer Reife —, wurde nach einem Fachmann Ausschau gehalten, der kurzfristig die Finanzen in Ordnung bringen sollte. Der noch junge Professor für Finanzwissenschaft an der Universität in Coimbra, Antonio de Oli-veira S a 1 a z a r, wurde für den Posten eines Finanzministers gewonnen, stieg schließlich zum Ministerpräsidenten auf, eine Stellung, die er bis zum heutigen Tage inne hat. Er inaugurierte ein autoritäres Regime, welches seinen Ausdruck in der kooperativen Verfassung vom 11. April 1939 gefunden hat.

Welches ist nun die Bilanz dieses Aufbauwerkes, wie sie einem Reisenden im Sommer 1955 entgegentritt?

Portugal, das mit bemerkenswertem Mut um seine Besitzungen in Indien kämpft, das Portugal von heute, das an einem Schnittpunkt des Weltverkehrs zwischen Europa und Südamerika liegt, ist es wieder ein Land der kühnen Seefahrer und des neuen Humanismus geworden, sind die Baudenkmäler der flammenden Gotik und der maurische Rhythmus des Lebens nur noch Erinnerungen? Man darf nicht nur Portugal in seinen Städten begegnen, sondern muß das flache Land besuchen, wo unter einer ganz leuchtenden Sonne die Zeit stille zu stehen scheint. Dort wird das Wasser noch in der altertümlichen Form der Ziehbrunnen gewonnen, das Eselchen ist ein mindest ebenso wichtiges Verkehrsmittel wie ein Auto. In den gutmütigen Gesichtern der Bauern spiegelt sich die Weisheit eines Volkes wider, daß die Größe politischer Macht ebenso ausgekostet hat wie den Zusammenbruch.

Aus allen Gesprächen und Erklärungen läßt sich das Vertrauen zu einer Regierung ablesen, die es verstanden hat, Tradition und Fortschritt in einer der Nation gemäßen Form zu verschmelzen.

In diesem Sommer, da weltpolitische Akte von großer Bedeutung stattfanden, der Aufstand in Nordafrika sich zu blutigen Orgien steigerte, galt die Aufmerksamkeit Portugals ausschließlich dem Konflikt in Goa. Für den Erhalt dieser Enklave beim Mutterland wird gebetet, und dafür ist auch jeder Portugiese bereit, sich bedingungslos einzusetzen. Die indischen Besitzungen sind so wie Angola und Mozambique integrierte Bestandteile Portugals und werden nicht als Kolonien betrachtet. Die Schöpfung Albuquer-ques, welche durch den verstärkten Imperialismus der Indischen Union bedroht wird, ist das Symbol der Nation, für welches jedes Opfer gebracht werden muß. Portugal kennt keine Rassenunterschiede. Die Toleranz ist außergewöhnlich betont und wirklich echt. Intellektuelle aus Goa wurden bekannte Professoren und Rechtsanwälte im Mutterland. Von Portugal aus gesehen sind die Bewohner Goas nicht geneigt, ihre günstige Position zugunsten der allmächtigen Zentral gewalt Neu-Dehlis aufzugeben. Ein Professor in Coimbra erklärte mir, daß jeder Portugiese auch im Bewußtsein der Nutzlosigkeit bereit sei, für Goa sein Leben hinzugeben. Diese Feststellung wurde ohne Pathos gemacht, ja nicht einmal mit Leidenschaft ausgesprochen, sondern eher mit jener leichten Melancholie und dem Fatalismus, die charakteristisch für dieses Land sind. Die indischen ..Freiheitskämpfer“ versuchen immer wieder die Ruhe der Enklave zu stören, welche praktisch vom Hinterland abgeschnitten wird. Es ist bemerkenswert, daß sich die Bewohner Goas in dieser Bewegung kaum beteiligen. Das „Heim ins Reich“ hat noch kein Echo gefunden. Die Regierung Salazar ist zu Verhandlungen bereit, die jedoch ihrer Auffassung nach in keiner Weise die Souveränität Portugals in Frage stellen dürfen Diese Kraft der Beharrung, der Mut zum Opfer, möge ihnen auch auf die Dauer kein Erfolg beschieden werden, sollte eigentlich alle Europäer nachdenklich stimmen.

Die restlose Demission Europas, über die erst kürzlich Salazar so bitter klagte, hat in Portugal noch keinen Adepten gefunden. Beschäftigt diese außenpolitische Frage leidenschaftlich die Nation, so kann eine Auseinandersetzung und Bewegung in den innerpolitischen Dingen nicht festgestellt werden. Salazar gleicht dem Weisen, der jenseits der Politik des Tages über die Geheimnisse des gesellschaftlichen Lebens der Gegenwart nachsinnt. Er versucht jene Bedingungen zu schaffen, um den Ueber-gang von den sozialen und wirtschaftlichen Strukturen, die in ihrer Gesamtheit dem Zeitbild nicht mehr entsprechen, in einem modernen Rahmen zu ermöglichen. Es sind wohl diese gesellschaftlichen Strukturen, die dem ausländischen Beobachter eigenartig und fremd erscheinen. So spielt zum Beispiel die Frau noch überhaupt keine Rolle im öffentlichen Leben.

Salazar ist kein übereiliger Reformer im Stile eines Atatürk, der mit jeder Tradition gebrochen hat. Betrachtet man seine Revolution, so muß man feststellen, daß diese ausschließlich im politischen und wirtschaftlichen Sektor erfolgte. Von einer Diktatur im nationalistischen oder kommunistischen Stile zu sprechen, ist abwegig. Das Regime hat eher patriarchalische Züge. Es versucht, eine gewisse individuelle Freiheit mit einer staatlichen Stabilität zu verbinden, die in Europa sicherlich ohne Beispiel dasteht. Ein durch Wahl konstituiertes Parlament und ein Ständerat unterstützen die Regierung in der legislativen Arbeit.

Der Ständerat, in dem die spezifische Eigenheit des kooperativen Staates augenscheinlich zum Vorschein tritt, setzt sich aus zwölf Sektoren zusammen. Er vertritt die geistigen und moralischen Kräfte der Nation, die Wissenschaft, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände und die Gemeinden. Der Ständerat kann zu allen Gesetzen sein Gutachten abgeben, besitzt jedoch selbst keine Initiative. Eine ähnliche Einrichtung besteht im Ueberseerat, der gleichlaufende Funktionen für die Provinzen außerhalb des Mutterlandes ausübt. Die Regierung selbst ist nur dem Präsidenten der Republik verantwortlich. Die politischen Einrichtungen Portugals verbinden das amerikanische Präsidialsystem mit dem, wie es uns in Deutschland oder Oesterreich in der Form des Bundeskanzlers bekannt ist.

Für die Wahlen stellt sich auch eine Einheitspartei, die nationale Union. Aber diese ist eher eine Wahlgemeinschaft mit einer gewissen weltanschaulichen Fundierung als eine homogene Massenpartei nach dem Muster christlichdemokratischer oder sozialistischer Parteien. Die nationale Union beschäftigt praktisch keine hauptamtlichen Funktionäre. Sie verfügt, wie der Reisende feststellen kann, über keinerlei Parteilokale und tritt im Straßenbild überhaupt nicht auf. Auch Schulungskurse oder eine betont geistige Ausrichtung sind in der Partei unbekannt. Zwei Tendenzen zeichnen sich jedoch ab: eine betont ständische und eine mehr liberale, die sich auf moderne Wirtschaftstheorien zurückführen läßt. Für die Präsidentschaft und zu den Parlamentswahlen treten darüber hinaus politische Gruppen und wahlwerbende Persönlichkeiten meist aus dem liberalen Lager auf, die zur Regierung in Opposition stehen. Wahlkämpfe sind daher nicht ganz unbekannt.

Die Politiker westlicher Prägung werden in Portugal durch den Wirtschafts- und Finanzfachmann abgelöst, der die Fragen in der kühleren Atmosphäre der Ministerien und Universitäten zu lösen sucht. Eine jüngere Generation von solchen Fachmännern trat erst seit kurzem an die Oeffentlichkeit. Der Regierungsapparat wurde sehr stark verjüngt. Das Wirtschaftsministerium, die Ministerien der Kooperative und öffentlicher Arbeiten erhielten neue Titulare. Als die starke Persönlichkeit in dieser Gruppe gilt der Minister der Präsidentschaftskanzlei, Professor Dr. Marcelo Caetano, der als präsumtiver Nachfolger Salazars angesehen wird.

Das Regime hat den Persönlichkeitskult nicht vertieft. Der Ministerpräsident lebt in sehr einfachen Verhältnissen und tritt nur selten an die Oeffentlichkeit. Außerhalb der Amtsräume ist sein Bild kaum zu sehen. Salazar erzeugt nicht die blinde Leidenschaft, wie sie oft in den modernen Diktaturen üblich ist, jene Massenhysterie, welche das Postulat autoritärer Regime zu sein scheint. Das Volk kennt seine Leistungen an, ist sich der vielfältigen Reformen bewußt und weiß es zu schätzen, daß es eine der besten Währungen Europas besitzt.

Aber der Staat ist trotz alledem auf die einmalige Persönlichkeit Salazars zugeschnitten. Die Frage der Nachfolge erwächst damit zum wichtigsten innerpolitischen Problem. Wird nach seinem Tode die Kontinuität zu bewahren sein? Alle diesbezüglich gestellten Fragen wurden positiv beantwortet, obwohl man sich bewußt ist, daß Aenderungen eintreten werden. Der kooperative Staat ist durchaus im Bewußtsein der Nation verankert. Die demokratischen Formen des sozialen Lebens wurden von den ständischen abgelöst. Die Mischung von einer sehr starken persönlichen Freiheit — Arbeitsämter und Devisenbewirtschaftung sind vollkommen unbekannt — und dem deutlich spürbaren Eingreifen der Verwaltung gehören zu der Ausdrucksform des neuen Staates.

Die Landwirtschaft und die Fischerei spielten bisher die erste Rolle in der Volkswirtschaft. 1952/53 wurde ein neuer Sechsjahresplan der Regierung vorgelegt. Ueber 13 Milliarden Escudos stehen damit dem Mutterlande und den überseeischen Provinzen zur Verfügung. Große Staudämme entstehen. Die Stahlindustrie muß aufgebaut, die reichlich vorhandenen Bodenschätze an Buntmetallen besser ausgenutzt werden. Auch in dieser Hinsicht wurde der Privatinitiative ein großer Spielraum gelassen. Die Planung versucht nicht in der Starrheit eines doktrinären Systems steckenzubleiben. Durch die Automatik dieser wirtschaftlich gewollten Entwicklung wird jedoch eine Reihe sehr ernster Probleme auftauchen.

Eine Arbeiterschaft mit geformtem Bewußtsein gab es bisher in Portugal nicht. Das Personal in den Betrieben war der Mentalität nach Bauer. Durch den Eintritt Portugals in die NATO wurden neueste technische Errungenschaften in das Land gebracht. Hier bildeten sich Ansatzpunkte für eine soziologische Umschichtung, die, allerdings von der Elite des Landes gesehen, in ihrem Umfange auch erkannt wird.

Die nationale Revolution wird sich durch neue Gedanken ergänzen müssen. Die Reden Salazars deuten darauf hin, daß er die zweite Phase in seinem Werk einkalkuliert hat.

Salazar glaubt an Europa, jedoch nicht an die Ideen der Integration, wie sie der Schuman-Plan vertritt. Seine Ideenwelt geht von der Familie und Nation aus, den Grundlagen jeder natürlichen Gemeinschaft, und läßt sich damit in die Worte kleiden: „Gott, das Vaterland, die Autorität, die Familie, die Arbeit.“

Der neue Staat anerkennt den sozialen Wert des Individuums nur in seiner Eigenschaft als Mitglied der Familie, des Berufsverbandes und der Gemeinde. Es gibt daher keine abstrakten Rechte eines Menschen, sondern ausschließlich konkrete. Die Nation sieht sich nicht durch eine einzelne Persönlichkeit, sondern nur durch diese natürliche Gemeinschaft vertreten.

Welches sind nun die Eindrücke, die durch eine Reise vermittelt werden können?' Man erkennt die große Bautätigkeit, die neuen Universitätsgebäude gehören wohl zu den modernsten Europas. Die Straßen sind in ausgezeichnetem Zustand, der Hafen und der Flugplatz von Lissabon besitzen Weltgeltung, die Kaianlagen sind mit denen von Hamburg und Antwerpen zu vergleichen. In billigen und gutgeführten Hotels begegnet man einer gastfreundlichen Bevölkerung. In kulturellen Dingen ist Frankreich tonangebend, während der wirtschaftliche Einfluß Deutschlands unverkennbar ist.

Ueber dem Land liegt jedoch ein Himmel, der weder die Verspieltheit des Mittelmeeres noch die unbarmherzige Grelle Spaniens kennt. Vielleicht ist es dieses eigenartige Licht, das in stille und leidenschaftslose Abende übergeht, welches das Temperament des Volkes prägt, die oft noch bestehenden sehr starken sozialen Gegensätze mildert und eine Ausgeglichenheit schafft, die mit der Unruhe des übrigen Europas in Kontrast steht. An Stelle des Einflusses wirtschaftlicher oder parteilicher Machtgruppen wurde versucht, die Solidarität einer Nation zu schaffen, die sich ihrer zivilisatorischen Aufgabe am Ende des Kontinentes neuerlich bewußt geworden ist. Eines ist jedoch selbstverständlich: Das „Experiment Portugal“ ist kein Modellfall für andere Staaten.

Man scheidet von den Prachtstraßen Lissabons, den kleinen engen Städtchen und den schwermütigen Volksgesängen, mit dem Bewußtsein, daß die abendländische Kultur in ihrem einmaligen Reichtum und vielfältigen Ausdruck Möglichkeiten gefunden hat, welche in Portugal eine eigenartige, aber nicht minder reizvolle Blüte erzeugt hat.

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