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Wo hält die europäische Demokratie?

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Jahreswenden haben stets den Beiz des Rück- und Vorblicks. Sie lassen kalendarische Revuen zu, deren Optimismus oder Pessimismus sich nach dem Standort der Beobachtung richtet. So sind sie von der Relativität belastet; aber auch von der Fragwürdigkeit, 365 Tage vom Geschichtsprozeß zu isolieren und zu abstrahieren. Daß hier dennoch so etwas wie eine Situationsbestimmung versucht werden soll, entspringt weniger dem Jahresbeginn — als vielmehr der Notwendigkeit, den europäischen Horizont aus der (zugegebenermaßen eingeengten) Sicht des mitteleuropäischen Demokratiebewußtseins auszuleuchten. Wo steht dieses Europa und wie steht es um seinen Standard an Demokratie, der uns immer mehr von der übrigen Welt abzuheben scheint?

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Jahreswenden haben stets den Beiz des Rück- und Vorblicks. Sie lassen kalendarische Revuen zu, deren Optimismus oder Pessimismus sich nach dem Standort der Beobachtung richtet. So sind sie von der Relativität belastet; aber auch von der Fragwürdigkeit, 365 Tage vom Geschichtsprozeß zu isolieren und zu abstrahieren. Daß hier dennoch so etwas wie eine Situationsbestimmung versucht werden soll, entspringt weniger dem Jahresbeginn — als vielmehr der Notwendigkeit, den europäischen Horizont aus der (zugegebenermaßen eingeengten) Sicht des mitteleuropäischen Demokratiebewußtseins auszuleuchten. Wo steht dieses Europa und wie steht es um seinen Standard an Demokratie, der uns immer mehr von der übrigen Welt abzuheben scheint?

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Denn in den anderen Kontinenten ist der Weg zur parlamentarischen Demokratie, der einerseits im Gefolge eines Nachkriegsschockes, anderseits in Form einer Heilsbotschaft für die Kolonien und schließlich missionarischen Demokratie-Euphorie insbesondere von den angelsächsischen Ländern in alle Welt exportiert wurde, für viele zu einer Sackgasse geworden1. Militärdiktaturen machen sich in Afrika und zum Großteil in Nahost breit, in Asien kämpft ein nationaler Kommunismus gegen demokratisch beschönigte Halbdiktaturen „starker Männer“2; in Südamerika ist zwar durch das chilenische Beispiel auf demokratische Weis ein Richtungswechsel eingeleitet worden. Niemand wagt aber zu sagen, wohin Allendes chilenischer Weg (der bisher funktio-nell-demokratisch ist) führen wird.

Weiß steht gegen die farbige Welt: das umfaßt offensichtlich neuerdings auch den Gegensatz zwischen parlamentarischer Demokratie der Industrienationen und Diktaturen in immer mehr Entwicklungsländern3.

Belgien, Irland, Kroatien

Aber selbst in Europa macht sich zunehmend eine Tendenz der Ermüdung bemerkbar, wenn es um das demokratische Selbstverständnis geht. Dies gilt zum ersten nicht sosehr für die zunehmende Gleichgültigkeit4 gegenüber den Einrichtungen der Demokratie, sondern vielmehr für die offensichtliche Unfähigkeit der institutionellen demokratischen Apparaturen, Konflikte zu bereinigen, oder zumindest friedlich zu begradigen. Insbesondere erweisen sich nationale oder historisch gewachsene Gegensätze, die man längst für erledigt hielt, als ungemein zäh und vital. 1971 hat es nicht so sehr den Anschein, als ob soziale Konflikte den europäischen Gesellschaften zu schaffen machten, wie vielmehr religiöse, historische, nationale.

• Da ist Belgien. Die letzten nationalen Wahlen waren ein Beweis für die keinesfalls entschlafenen Gegensätze zwischen Flandern und Wallonen. Trotz nunmehr bereits mehrmonatigen Regierungsverhandlungen ist es bis heute noch immer nicht gelungen, einen neuen Ausgleich zu installieren.

• Irland: der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten ist nahe daran, zu einem europäischen

Skandal zu werden. Die nordirische Regierung war bisher nicht in der Lage, durch legislatorische Maßnahmen zu einer Befriedung beizutragen. Die englische Ordnungsmacht setzt sich angesichts des gemeinen Untergrundterrors der IRA dem Verdacht aus, nur noch im Stile kolonialen Interventionismus in Nordirland zu regieren.

• Jugoslawien: die Verfassungsreform, deren Ziel eine friedliche Föderalisierung als dauerhafte Grundlage eines nach-titoistischen Vielvölkerstaates sein sollte, wird durch den offiziell schon totgesagten Nationalismus der Kroaten offen gefährdet. Angesichts des Fehlens einer institutionell gesicherten Opposition im kommunistischen Einparteienregime kanalisiert sich Widerspruch offenbar besonders radikal-nationalistisch.

„Legitimationsmaske“

Es ist das Verdienst neomarxistischer Wissenschafter, vor allem die selbstgerechte Legitimationsmaske der parlamentarischen • Demokratiein Europa vom Gesicht gerissen zu haben. Tatsächlich ist die Sichtbarmachung der Machtstrukturen hinter den Verf assungsurkunden herkömmlicher „Volksherrschaften“ auch das zentrale Anliegen jeder aktuellen Gesellschaftskritik, komme sie von links oder von rechts. Das führt freilich schon in den Bereich der Ethik, wie sehr die Legalität Ausdruck gewollter und angestrebter Freiheitsräume oder bis zum Henkerstrick verformtes Zweckmittel ist, das der Berliner Naziführer Gregor Strasser 1933 zynisch destillierte: „Jawohl, legal bis zur höchsten Sprosse, aber gehängt wird doch!5“

Tatsächlich sehen wir uns auch im heutigen Europa dieser „Konstellationsmoral“ gegenüber, wie Carl Friedrich sie treffend nennt — eine Erkenntnis freilich, die schon Max Weber seinen Zeitgenossen ins Stammbuch schrieb: „In der Welt der Realitäten machen wir stets aufs neue die Erfahrung, daß der Gesin-nungsethiker plötzlich umschlägt in den chiliastischen Propheten, daß z. B. diejenigen, die soeben Liebe gegen Gewalt gepredigt haben, im nächsten Augenblick zur Gewalt aufrufen ...“'

Am Horizont nach dieser Jahreswende läßt sich daher die Demaskie-rung demokratischer Fassaden ebenso wie die Zerreißprobe der Legalität an vielen Beispielen beschreiben. Da ist der Osten, in dem die demokratischen Chancen weiter degenerieren. Das Prager Beispiel lähmt nach wie vor alle Versuche einer Auflockerung und verunmöglicht „neue Wege zum Sozialismus“.

Tatsächlich hat Polens KP-Chef Gierek zwar auch Nichtkommunisten stärker in die Apparatur der Macht eingebaut —doch mußte seine Partei dazu erst durch blutige Ereignisse in Nordpolen vor der letztem Jahreswende gezwungen werden; und niemand garantiert, daß aus dem frankophilen Parteichef8 nicht ein zweiter Gomulka wird, der gleichfalls seinen „polnischen Herbst“ (1965) unter der systemimmanenten Realität des Osbblockkommunismus verraten hatte.

Nach einem außenpolitischen Tauwetter zog Rumäniens Regime in einer Mini-„Kulturrevolution“ die Zügel gegen liberale Intellektuelle 1971 wieder an“.

In Bulgarien gab es Prozesse gegen Jugendliche, denen „Infektion“ durch die „Neue Linke“ Westeuropas vorgeworfen wurde10.

Und in der Sowjetunion selbst? Jedenfalls war 1971 jenes Jahr, das Leonid Breschnjew eindeutig als den Primus der Kreml-Troika auswies. Damit aber ist der Weg geebnet für eine Einmannautokratie im Sinne der Vorgänger Breschnjews und bislang neuerlich der Beweis geliefert, daß der Logik folgend, das Sowjetsystem seine Verbreiterung in Richtung auf gleichberechtigte Mitbestimmung auf Dauer jedenfalls ausschließt.

Iberische Demokratisierung?

Sieht man am europäischen Horizont entlang, resigniert man angesichts der Entwicklung entlang der Küsten des Mittelmeeres. Nur schüchtern machen Popularisierungsversuche des Franco- und Gaetano-Regimes Fortschritte11. Vielmehr scheint sich Portugal endgültig in die Sackgasse eines überseeischen Abenteuers verstrickt zu haben, was auf die Dauer das Mutterland mit seinen neun Millionen Portugiesen zum wirtschaftlichen Verbluten zwingt. So vermengt sich auf kurz oder lang die soziale Frage mit der nationalen und politischen. Um mit der inneren Kritik gegen die Militärpolitik in Afrika, gegen die interdependente soziale Lage und gegen die mangelnde demokratische Legitimation fertigzuwerden, bedarf es wahrscheinlich schon sehr bald der Einstellung auch der schüchterinen Liberalisierung und Demokratisierung.

Spanien wartet auf die Tage nach dem Caudillo. Was immer aber an Opposition angestaut ist, muß sich irgendwann zu diesem Zeitpunkt entladen. Die Opposition — jede Opposition — mußte in Franco-Spanien zu lange nur warten.

Dabei ist der Gleichklang der Probleme zwischen Spanien und Jugoslawien augenblicklich jedenfalls erstaunlich. Extrem unterschiedliche

Systeme weisen ihre Sachzwänge in einer geradezu frappanten Parallele auf. Alte Männer, die hinter sich mühsam über interne Konflikte zerstrittene Einheitsparteien haben, mehrere Nationalitäten eingeengt, auf dem Weg zur Industrialisierung, Konflikte mit einer nicht institutionalisierten Opposition durch eine sogenannte Demokratisierung vor sich herschiebend12.

1971 brachte im Südostzipfel Europas den Antritt der faktischen Herrschaft des Militärs, wenngleich eine türkische Zivilregierung formal im Amt verblieb13.

In der Türkei wie vergleichsweise in Griechenland weist sich die offensichtliche Überladung der Verfassung mit allzuviel vom Ausland Tradiertem aus. Am Bosporus—1971 — wie in Athen 1967 haben1 angeblich die demokratischen Politiker und die demokratischen Institutionen versagt, hat die Demokratie angeblich einen Notstand der Nation provoziert, der nur durch die angeblich einzig intakte Macht, die Armee, beseitigt werden konnte14. Der Verweis auf den Notstand ist den Mitteleuropäern aus ihrer Geschichte nicht neu: er sucht heute die Südeuropäer heim.

Dabei befleißigen sich die putschenden Militärs (wie übrigens ganz ähnlich die interventionistischen Invasoren in der CSSR 1968) der Behauptung, erst sie könnten die verfassungsgewollten, „ursprünglichen“ und „guten“ Zustände wieder sanieren — ohne das Paradoxon zur Kenntnis zu nehmen, daß die verfassungsmäßigen Freiheiten und Grundrechte (als oberste Wertvorstellungen der Demokratie) nicht aufrecht erhalten werden können, wenn man sie der Erreichung dieses Zieles wegen unterdrückt15. Macchia-vellis Ehrlichkeit bleibt da angesichts pamphletischer Obristenrhetorik erfrischend aktuell. Tatsächlich ist es also um die „Freiheitsräume“ schlecht bestellt. Am Rande von Kerneuropa erweist sich die innere Kraft jener Staatsform, die sich noch

Die vorhandenen europäischen Institutionen hingegen haben den Blick für diese Grundsatzfragen noch keineswegs geschärft. Die Europäische* Wirtschaftsgemeinschaft, deren Taufversprechen die Bewahrung eben dieser demokratisch gehärteten Freiheit war, kann sich offensichtlich nicht über ihre Bilanzbuchhaltungen erheben. Unter dem Gewicht von sogenannten Realitäten wird selbst ein Papadopoulos in Kauf genommen, wenn sein Regime nur nicht dem Osten verfällt (und wird selbstverständlich im Rahmen von Assoziationsverträgen weiter integriert). Der Europarat hingegen erweist sich in Fragen des demokratischen Standards zwar als moralische Anstalt, ist aber angesichts disparater Interessen nicht in der Lage, Gralshüter der europäischen Demokratie zu werden, wie dies im Grunde wünschbar wäre.

Zu alldem offenbart die weltpolitische Szene zum Jahreswechsel nicht allzu große Zuversicht. Die USA befinden sich auf dem Verantwortungsrückzug. Und zunehmend kehren sich subtile amerikanische Interessen hervor, die nicht mehr auf den demokratischen Standard des Schütz-

■lihgs, Proteges oder Vasallen Rücksicht nehmen. Man akzeptiert nicht nur in Europa, sondern fast überall in der Welt Militärdiktaturen, Einparteienregime, Bürgerkriegsparteien, Autokratien.

Zwischen der Virginia Bill of Rights und der Deolaration de Droits de'homme bestand einst ein enger Zusammenhang. Er ist offenbar diesseits und jenseits des Atlantiks einer sogenannten Flexibilität geopfert worden. Und deshalb steht es nicht eben allzu gut um die Demokratie in Europa. Sie wird auch 1972 nicht von Belastungen verschont bleiben.

1 Den eigentlichen Anlaß des Konfliktes zwischen Indien und Pakistan bildete paradoxerweise eine weitgehend demokratisch durchgeführte Wahl in Pakistan. Erst diese Wahl machte die Gegensätze zwischen West- und Ostpakistan transparent.

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