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Die Kirche im nationalen Zusammenleben Spaniens

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Obwohl Spanien eine unterentwickelte Wirtschaft hat, obwohl die Institutionen des modernen Lebens hier noch nicht voll entwickelt sind und obwohl wir Spanier noch kaum in den Wirtschaftsstatistiken Europas und als Exportland erscheinen: trotz allem erscheint Spanien wieder auf diese oder jene Weise, sei es durch Krieg oder Frieden, sei es im religiösen oder künstlerischen Bereich, im Bewußtsein der nordischen und zentraleuropäischen Länder.

Das „glanzvolle und herbe Spanien“ — nach dem glücklichen Worte Mauclairs — übt eine intensive Faszination auf jene, die sich ihm nähern, aus, und erweckt mächtige Leidenschaften und Gefühle der Liebe oder des Hassest niemals jedoch Gleichgültigkeit. Diese Anziehungskraft erlitt Orwell bei seinem Zusammenleben mit den Spaniern in den Schützengräben der Felder und Steppen von Almudevar und Tardienta, an der stationär gewordenen „roten“ Front in Aragon 1937. Spanien ist ein ständiges Thema im turbulenten Leben Hemingways. Ebenso wurde das Leben und Verhalten der spanischen Anarchisten und Sozialisten zum Hauptthema in jenen Jahren für Franz Borkenau, der mit seiner wissenschaftlichen Beobachtungsgabe als Soziologe uns ein Buch geschenkt hat, das für das Verständnis des Krieges von 1936 grundlegend wichtig ist: „The Spanish Cockpit“ (Der spanische Kampfplatz).

Der jüngste Schriftsteller englischer Sprache, der durch sein Interesse für die spanischen Ver-1 hältnisse in unserer geistigen und politischen Welt große Neugierde durch seine drei Bücher wachgerufen hat, ist Gerald Brenan. Ich möchte hier in keine Auseinandersetzung über die Genauigkeit seiner Beobachtungen als Reisender durch die ärmsten und elendesten Marken Estremadurs, Kastiliens und Andalusiens eintreten. Ich will hier die Aufmerksamkeit nur auf den beachtenswerten Wandel seiner Ansichten über die spanische Kirche hinlenken. Wenn man heute, nach zehn Jahren, sein „Spanish Labyrinth“ (Spanisches Labyrinth) wieder liest, bemerkt man sofort, daß er da in keiner Weise die Vitalität dieser Institution, die da so hinfällig und geschichtlich unwirksam erschien und die sich dermaßen erneuert hat, erkannte. — Oftmals habe ich gedacht, daß vielleicht die mühselige Lehre der Exilszeit das einzige Mittel ist, um viele Vorurteile und sektiererische Empfindungen der spanischen Linken zu korrigieren. Da benützen z. B. die Sozialisten die verfassungsmäßigen Freiheiten, um sich sehr dogmatisch als „Republikaner“ und Antiklerikale zu gebärden. Die Institutio-naliäten hatten sich vorgenommen, mit dem Einfluß der Kirche auf Erziehung, Schule und wissenschaftliche Forschung aufzuräumen. Ihrerseits wieder wollten die europäisierenden Intellektuellen die Kirche völlig aus dem öffentlichen Leben ausschalten, ohne die vielfältigen Verbindungen dieser Kirche mit der spanischen Lebenswirklichkeit der Nation in Rechnung zu stellen. — Es wäre interessant, nachzuforschen, was diese Männer über die tragische Erfahrung ihres öffentlichen Lebens nachdenklich m Erwägung gezogen haben, in den weiten Ländern ihres Exils, in Mexiko und den Vereinigten Staaten, in Argentinien und der Schweiz, in England und Frankreich. Haben Männer, wie Americo Castro, Alvarez del Vayo, Araquistan oder Madariaga, um nur einige der hervorragendsten ins Exil gegangenen spanischen Schriftsteller zu nennen, ihre Auffassung des nationalen spanischen Lebens geändert?

Die zeitgenössische spanische Kirche wurde von allen diesen als eine dekadente, reaktionäre, rückständige Einrichtung abgeurteilt, minderwertig im Vergleich mit den anderen Institutionen der Nation, seien es nun die Einrichtungen der Universitäten, der Arbeiterschaft, der Wirtschaft oder der Armee. Sie glaubten, teilweise auf eine sehr simplifizierende Art, daß diese Kirche sich mit der Asche der verbrannten Gotteshäuser und Klöster aus der spanischen Wirklichkeit verflüchtigen würde. Das Gegenteil ist eingetreten: „die Toten, die ihr getötet habt, erfreuen sich einer guten Gesundheit“ (um mit dem Dichter zu reden), da seit der Verfolgung der Kirche von Seiten der „Republik“ und seit den Morden der „roten“ Zone, die Kirche zur Schlüsselinstitution des spanischen Lebens geworden ist.

Auch ohne ein Eintreten in eine Diskussion über die Rechte, die ein Sieg schafft: die Niederlage schafft einen Tatbestand, der seine Folgen hat. So ist es viel vernünftiger, sich um das Verständnis der Wirklichkeit zu bemühen, als vorzugeben, sie zu ignorieren und sich sodann ausgeschaltet zu finden von diesem Vaterland, das sosehr begeistert und fasziniert, vielleicht gerade deshalb, weil es sosehr verwundet und schmerzt: Gerade in ihrem Exil sind die bedeutenden Historiker Americo Castro, Sanchez Albornoz und Salvador y Madariaga in ihrer Hochschätzung der großen spanischen katholischen Kultur zunächst des 16. und 17. Jahrhunderts zur Ueberein-kunft gekommen, während gleichzeitig Menen-dez Pidal über dieselbe Epoche in einer Weise schreibt, die ganz mit der Schau Spaniens übereinstimmt, die der große klassische konservative Historiker Menendez Pelayo entwickelte.

Wie sehen wir also jetzt diese geschichtliche Sendung der Kirche und ihre öffentliche Funktion im heutigen Spanien? Nehmen wir einige der Bücher zur Hand, die Ausländer, die Spanien zu verschiedenen Jährhunderten besucht haben, schrieben. Ich erinnere an die Eindrücke der Flamen in Asturien, die in Begleitung Karls V. kamen: sie sind überrascht von der Unbequemlichkeit der Wohnungen, der Armut der Lebensmittel, der Frugalität der Küche, der Härte und dem Ernst der Sitten. Gehen wir dann weiter zu den Briefen und Schriften der englischen Offiziere, die unter Wellington und Don Carlos in Spanien kämpften: wieder begegnen wir demselben peinlichen Schauspiel, das sich dem Menschen bietet, der in Europa an einen weit höheren Lebensstandard gewöhnt ist. Wohlgemerkt: in der Zeit dieser Berichterstatter beherrscht Spanien eines der weiträumigsten und reichsten Weltreiche, die die Geschichte kennt. Die Armut der Halbinsel, die natürliche Armut des Landes und die Ungunst des Klimas sind dieselben, über die in unseren Tagen Brenan seine Bücher vollschreibt, 150 Jahre nachdem seine Landsleute unser Land im Kampf gegen Napoleon durchquerten. Wir können also nicht die Kirche für die natürliche Armut und das Elend des Landes verantwortlich machen. Im Gegenteil: die Kirche hat diesem spanischen Menschen, der wirtschaftlich den Engländern und Franzosen, den Deutschen und Italienern so sehr unterlegen war, eine sittliche Struktur gegeben, die ihn befähigte, eine große Kultur schöpferisch zu entwickeln und ein universales Reich von einzigartiger Art zu bauen. In diesem Land von armem Boden, hartem Klima, im Schnittpunkt Afrikas und Europas, des Mittelmeeres und des Atlantiks, sind volkhafte und rassische Elemente sehr verschiedenartiger Herkunft zusammengetroffen. Dazu kommt die geographische Zerstückelung der Halbinsel, die einer Vereinigung der verschiedenen Kulturen große Schwierigkeiten entgegengestellt: alles Unterschiede zu den Ländern, mit denen wir Spanien eben verglichen haben. Nach der römischen kulturellen Einigung des Landes und einer schwachen Blutzufuhr durch germanische Völker schuf die Kirche die tiefsten geistigen Verbindungen zwischen diesen verschiedenartigen keltiberischen Stämmen und Völkern. Die Düsterheit, die Härte, der Widerstand des kargen Bodens und der Felsschluchten, die extremen Schwankungen des Klimas, die Kontraste der Landschaften, scheinen diese Menschen zu formen: nüchtern, hart, rebellisch gegen jede Disziplin, unabhängig und ihrer Eigenart treu bis zum Tode. Dem Bewohner der kargen Meseta und dem Bauern der steinigen Sierra konnte niemals eine so innige Anhänglichkeit an das (reiche) irdische Leben zuwachsen wie dem Flamen oder Lombarden, wie dem Florentiner oder Bayern. Das also werden hier Menschen sein, die immer zum Krieg oder zum Abenteuer bereit sind, zur fatalistischen Passivität oder zum emotionalen Gefühlsausbruch, immer zum Fanatismus und zur Intoleranz geneigt, nie jedoch zum Kompromiß, zum Dialog und zur Nachgiebigkeit.

Das katholische Dogma zündet in diesen Seelen mit der Heftigkeit des Feuers, ohne Kompromisse und Rücksichten, mit einer alles auslöschenden Wucht. Diese innere Spannung und diese Gewalttätigkeit der Gemütskräfte verzehrt sich, zurückgehalten und etwas gezähmt durch die Kirche, Jahrhunderte hindurch im Kampf gegen den Islam und schmiedet sich dergestalt einen nationalen Staat, der vom Staatswesen Frankreichs, Englands, Deutschlands oder Italiens wesenhaft verschieden ist. Man soll dal friedliche Zusammenleben der drei Glaubensbekenntnisse (Islam, Judentum, Katholizismus) im Mittelalter nicht überbetonen. Der totale Krieg mit dem Islam kam erst zum Ende, als die Halbinsel den Invasoren entrissen war, und auch da genügte nicht der politische und militärische Sieg von 1492. Der Kampf setzte sich bis zur völligen Austreibung der Maurisken am Anfang des 17. Jahrhunderts fort. Ebenso gilt: die radikale Unverträglichkeit mit den Juden fand kein anderes Ende als eben durch ihre Ausscheidung.

Dieser vitale Dynamismus, der die Feinde vernichtet und die Gewissen verbrennt, ohne Ruhe für die intellektuelle Ueberlegung, für die geordnete Unruhe des philosophischen Denkens, ist den reinen Weisen nicht günstig. Eine heftige und unmittelbare Voreingenommenheit wird immer wieder hier die Denker zu angewandten Wissenschaften drängen, seien es nun theologische, ethische oder juristische Bezüge, nicht jedoch zur interessefreien Spekulation. Zu den Tiefen des Seins gelangen diese Menschen nicht durch die Metaphvsik, sondern durch die Mystik. — Die Künstler dieses Landes werden sich ständig fremde Techniken und Erfindungen zu assimilieren suchen und einen aufs Praktische gerichteten Realismus entwickeln, der seine höchsten Werte in der Volkskunst entfaltet. Die Dichter und Schriftsteller dieses Landes werden mit Ungeduld ihre Talente ausschütten, ohne sich auf ein bestimmtes Gebiet konzentrieren zu können, auf dem sie es zu wirklich schöpferischen Leistungen oder zu klassischen Werken zu bringen vermöchten. Spanien besitzt, zu allerletzt, weder eine städtische Kultur wie Europa, noch auch eine Kultur von Laien wie die der Renaissance. Beide erfordern Wesensmerkmale, die dem spanischen Menschen fehlen.

Aus diesem Grunde gründet sich die Tätigkeit des spanischen Staates nicht auf eine methodische militärische und wirtschaftliche Expansion wie die der angelsächsischen Staaten, und seine Regierungen bemühen sich auch nicht, das Wohlergehen ihrer Untertanen solide zu fundieren durch eine Arbeit, die sich technisch gemäß den geschichtlichen Erfordernissen der jeweiligen Stunde abspielt. Die kaiserliche Politik wird durch die Vitalität ihrer Soldaten zugrundegerichtet, die mehr Conquistadoren und Entdecker als Regierende sind, und die Regierenden empfinden mehr eine gewisse sittliche Inspiration als eine Neigung zur wirtschaftlichen Untermauerung ihrer Macht. Wir werden also keine Pflanzer haben, wohl aber Projektemacher, und keine Staatsmänner, wohl aber Vorkämpfer Gottes ...

Diese dogmatische Kultur, dieser theokra-tische Staat, diese politisierte Kirche bilden zusammen unter dem Ancien Regime eine historisch-kulturelle Einheit, die in der Weltgeschichte nicht ignoriert werden kann; Renaissance, Gegenreformation und Barock tragen eine unverkennbare spanische Prägung. — Bis zur Französischen Revolution tritt diese Gesellschaft und diese Kultur in keine Krisis ein. Die jüngsten historischen Studien über die Aufklärung und den aufgeklärten Absolutismus in Spanien zeigen, wie diese die nationale Linie fortgesetzt haben, daß es der Französisierung im 18. Jahrhundert nicht gelang, die traditionellen Werte wesenhaft zu tangieren. Die historische Forschung hat uns jedoch keine vollständige und befriedigende Erklärung für den Zusammenbruch des Ancien Regime gegeben, für seinen totalen politischen und kulturellen Zusammenbruch im Ausgang des

18. Jahrhunderts. Als Napoleon in Spanien einfällt, hat die Halbinsel für ihren eigenen König, für ihren Adel, für ihre Regierung, für ihr Heer und für ihre Kirche nur noch Verachtung übrig. Es ist eine nackte Tatsache, daß treu zur katholischen Ueberlieferung und zur* Monarchie nur noch das einfache Volk, die Dorfkuraten und die Bettelmönche stehen. Nun stürzen auch die anderen Strukturen des Ancien Regimes ein, die ideologischen und die gesellschaftlichen. Es gibt keine Generale, keine geistliche Hierarchie, keinen Adel und keine Intellektuellen, die, wie etwa in England, die überlieferten Einrichtungen erhalten, indem sie diese den neuen Forderungen der neuen Zeit anpassen. Dazu kommt noch, daß die gehobenen gesellschaftlichen Schichten den Eroberer als überlegen anerkennen und bereit sind, mit ihm zusammenzuarbeiten, um eine Ueberlieferung zu zerstören, die bereits so offensichtlich Schiffbruch erlitten hatte. - So beginnt also im ersten Drittel des

19. Jahrhunderts jener neue Zyklus der Geschichte Spaniens, in dem geistige und mentale Gewalttätigkeiten immer wieder in einen anarchischen Umsturz münden, so daß die spanische Nation sich mehr und mehr vom übrigen Europa entfernt.

Die innere Wiedererstarkung der katholischen nationalen Einheit wird sichtbar in den kar-listischen Kriegen, in denen die Massen des einfachen Volkes der Kirche die Treue halten. In der Revolution von 1868 beginnt sich auch diese volkhafte Religiosität aufzulösen. Von da an beginnt sich die spanische Nation offen aufzulösen, da sich zunächst der Kantonalismus und dann der baskische und katalanische Separatismus erheben: da die integrierende Kraft der Zentralverwaltung zu gering ist und zugleich die am fortschrittlichsten entwickelten Provinzen es nicht für vernünftig halten, ihr Wohlergehen aufzuopfern, um in der Misere der Nation aufzugehen. Und nun begann, 19 3 1 bis 193 6, während der Zweiten Republik, eine tiefgehende religiöse Erneuerung, die den Zellkern und die Grundlage jener kulturellen und politischen Anstrengungen bildet, die, nach dem nationalen Sieg von 1939, bestrebt sind, den katholischen Weg der spanischen Nation wieder aufzunehmen.

Wen man also die ganz eigentümliche Situation der Kirche im heutigen Spanien verstehen lernen will, mit ihren äußeren Manifestationen, die so ganz anders als die der anderen europäischen Staaten sind, muß man immer von der konkreten Wirklichkeit Spaniens ausgehen, die eben so ganz anders beschaffen ist als jene, die die Kirche in den anderen Ländern vorfindet.Jeder Beobachter kann heute in Spanien eine Atmosphäre, geprägt durch Religiosität, vorfinden, die sehr heftig mit dem säkularisierten Milieu Europas, mit der laisierten französischen Gesellschaft, mit dem deutschen Heidentum, mit der offiziellen und staatlichen Religiosität der Engländer und mit der privaten Religiosität der Italiener kontrastiert. — Die Gegenwärtigkeit der Kirche ist eine wirkliche Realität im spanischen Leben, in allen seinen Bereichen: im Heim und in der Familie, im Büro und auf der Straße, in der Fabrik und im Arbeiterviertel, in der Universität und in den Vergnügungsstätten, im Brauchtum, den Sitten und in den intimsten persönlichen Beziehungen. — Man möge nicht glauben, daß diese Gegenwärtigkeit der Kirche eine Art Ueberbleibsel aus alten Zeiten ist, ein Anachronismus im modernen Leben, sondern in vielen ihrer grundlegenden Bezüge entspricht sie bereits der Idee einer wirklich christlichen Zivilisation.

Im 19. Jahrhundert und im Kriege von 1936 bis 1939 war das grundlegende Motiv für die profunde Spaltung der Spanier ihre Beziehung zur Kirche — das ist kein Widerspruch zu dem oben Gesagten; sehr viele von denen, die da die Kirche im öffentlichen Leben bekämpften, haben ihren persönlichen Glauben zudem erhalten. Wie immer dem sei: durch die Feindschaft, den Haß, wie durch die Anhänglichkeit, die sie wachruft, besitzt die spanische Kirche eine unleugbare erstrangige Gegenwärtigkeit im öffentlichen spanischen Leben heute. Die große spanische Geschichte lehrt, was die jüngste tragische Geschichte neu bewiesen hat: der katholische Glaube ist in Spanien das einzige verbindende, vereinende Element, ohne das ein Zusammenleben der verschiedenen Gruppen einfach unmöglich ist.

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