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Die „Generation von 1898“

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Über wenige Länder kann so schwer objektiv geurteilt werden wie über Spanien, dessen Geschiditsdarstellung meist entweder von Liebe oder Haß diktiert zu sein scheint. Freilich sind schon die geschichtlichen Grundlagen hier ganz andere als im übrigen Europa: auf der alten, ethnisch uneinheitlichen Grundlage (vor allem der Iberer, deren Nachkommen speziell die Basken sind) setzte eine frühe Romanisierung und dann die Christianisierung ein, später besetzten Westgoten das Land, 711 die Araber, deren jahrhundertelange Herrschaft tiefe Spuren hinterließ. Die Wiedereroberung (Reconquista) bringt eine enge Verbindung von Religion und Nation, von hier setzt sich die Gegenreformation durch (Gründung des Jesuitenordens durch den Basken Ignatius von Loyola), hier wird die Inquisition staatlich durchgeführt, und aus Spanien werden Juden und Mauren vertrieben. Durch die bedeutungsvollen Entdeckungen entsteht hier ein mächtiges Kolonialreich, aber Spanien erlebt nicht die

Renaissance des übrigen Abendlandes. In dieser Zeit schreibt Cervantes (1547—1616) sein Hauptwerk, „Don Quichotte“, auf den die geistigen Führer des Landes immer wieder zurückgreifen. Während des 17. und 18. Jahrhunderts erfolgt der politische und kulturelle Niedergang, im 19. Jahrhundert erschüttern Thronkämpfe und Bürgerkriege das Land, der geistige Kampf setzt 6ich zwischen Traditionalisten und Anhängern des Fortschritts fort, schließlich gehen 1898 im Kriege gegen die USA Kuba und die Philippinen als letzte Reste des einstigen Kolonialreiches verloren. Schon damals beginnt die Selbstbesinnung über die Gründe dieses Verfalls und die Möglichkeiten eines Wiederaufstiegs, und eine Anzahl von Denkern und Dichtern — die als Generation von 1898 bezeichnet wird — bemüht sich um die Wiederaufrichtung ihres Heimatlandes.

Zunächst ist Angel Ganivet (1865 bis 1898) zu nennen, der in seinem Idearium espanol erklärt, Spanien müsse zunächstinnerlich Einkehr halten (in Anlehnung an Augustinus sagte er: Noli irę foras, in Hispania habitat veritas); es müsse seine natürlichen Anlagen selbst entwickeln. Besonders hebt er den spanischen Stoizismus (den er schon beim alten Seneoa findet) und sosiego (ruhige Gelassenheit, Gesetztheit) hervor, Eigenschaften, die der angebornen Impulsivität immer wieder gegenübertreten. Er wünscht maßvolle und wohlüberlegte Übernahme der Einrichtungen moderner Zivilisation und versucht zu einer Gemeinschaft der einzelnen spanischen Landesteile zu gelangen. Hier wird also schon eine vorsichtige Europäisierung, verbunden mit einer Selbstbesinnung auf die eigenen Kräfte, empfohlen.

Solche Antithesen — Idealismus und Realismus, tiefreligiöser Sinn und Härte gegen Andersdenkende — sind dem spanischen Wesen auch sonst eigen. Sie finden sich auch bei dem großen Philosophen Miguel de Unamuno (1864—1936), ebenfalls baskischer Herkunft. Auch er möchte an die spanische Tradition anknüpfen, aber auch europäische Kulturwerte übernehmen. In seinem berühmten Kommentar zu „Don Quichotte“ (1905) stellt er dem glühenden Idealismus des Don Quichotte, des ganz auf das Geistige eingestellten Menschen, der deshalb von seiner Mitwelt nicht verstanden, sondern verspottet und verlacht wird, den nüchternen Realismus des Sancho Pansa entgegen. Er möchte in beiden Typen förmlich platonische Ideen sehen und ihnen mehr Wirklichkeit zuerkennen als dem Erzähler Cervantes. Berühmt ist auch seine philosophische Schrift über das tragische Lebensgefühl (1913), in der er das Problem des Menschen darstellt, aber nicht das des abstrakten, sondern des konkreten Individuums aus Fleisch und Blut. Er sieht als Haupttriebfeder den Hunger nach persönlicher Unsterblichkeit an, die nun weder theologisch noch philosophisch bewiesen, sondern intuitiv postuliert wird. Unamuno wirkt förmlich als Vorläufer der heutigen Existentialphilosophie, wie denn auch Kierkegaard für sein Denken eine groß Rolle spielt. Trotz seiner großen Vorliebe für seinen großen baskisdien Landsmann Ignatius von Loyola steht der Philosoph der Kirche und dem Christentum teilweise ablehnend gegenüber. Wegen seiner politischen Haltung wurde er vom Diktator Primo de Rivera 1924 verbannt. Aufgeschlossen dem europäischen Denken, bringt dieser in jedem Sinne humanistische Denker (zunächst Universitätsprofessor in Salamanca für griechische Literatur) seinen Landsleuten die Botschaft von der Größe des spanischen Menschen und dann des Menschen überhaupt.

Der dritte geistige Führer der Generation von 1898 ist Azorin (geb. 1874), der vor allem als dichterischer Schilderer seiner Heimat hervorgetreten ist und aus dieser Kenntnis die Kräfte zum Wiederaufbau sammelt, andererseits diese spanische Haltung mit europäischem Fortschrittsglauben (aus der Zeit vor 1914) verbindet.

Andere Denker sind etwa Ortega y Gasset (geb. 1883), der in Anlehnung an neuere deutsche Philosophen, wie Sche- ler, Probleme der Massenpsychologie (Aufstand der Massen 1912) studiert und seine Heimat in „Espana invertebrada“ (1922, Spanien ohne Rückgrat) kritisch betrachtet. Er vertritt den Perspektivismus, die Anschauung, die jedes Individuum, jedes Volk oder jede Epoche als unersetzliche Organe für die Eroberung der Wahrheit ansieht. Auch er sucht in seinen Meditationen über Don Quichotte die Physiognomie dieses spanischen Symbols und den Charakter seiner Landschaft zu ergründen, wenn er auch nicht so weit in der Interpretation geht wie Unamuno. In den letzten Jahren hat er durch weitere geschichtliche Studien sich einen europäischen Namen geschaffen. Ein anderer Kulturhistoriker ist Salvador Madariaga (geb. 1886), der Spanien im Völkerbunde von 1934 bis 1938 vertrat. Er trachtet das Wesen des Spaniers durch Vergleich mit anderen europäischen Kulturnationen besser zu verstehen. 1935 trat er für den Korporationsstaat ein (Anarchie oder Hierarchie).

Alle diese Denker weisen auf die europäische Demokratie hin, sind stärker liberal als traditionalistisch eingestellt, betonen aber immer wieder die Werte Ihrer eigenen Heimat. So konnten denn auch nach den geistesgeschichtlichen Vorbereitungen mehr politische, linksradikale und faschistische Ideen eindringen und bestimmten die jüngste politische Entwicklung (Republik, Bürgerkrieg 1936 bis 1939, Herrschaft Francos).

Die traditionalistischen Richtungen waren schon vor 1898 durch den gelehrten Humanisten Marcelino Menendez y Pe- layo (1856 bis 1912) vertreten, der in umfangreichen Werken (zum Beispiel „Geschichte der ästhetischen Ideen in Spanien“, „Geschichte der spanischen Nichtkatholiken“, „Heterodoxos“) klare Bekenntnisse zur Religion und Monarchie gegen Materialismus und Liberalismus abgelegt hatte. Von der Generation von 1898 kann nur Ramiro de Maeztu (1874 bis 1936) als traditionalistisch orientierter Denker (Verteidigung des Spaniertums) angesprochen werden.

Trotz diesen zahlreichen Anregungen wurden die sozialen Verhältnisse nur wenig gebessert, das Schulwesen blieb rückständig, die Lage der Bauern bedrückt — alles Voraussetzungen für die politischen Umwälzungen der letzten Zeiten. Immerhin ist es den (hier nur skizzierten) geistesgeschichtlichen Bewegungen gelungen, die verschiedenen Kräfte des spanischen Wesens wachzurufen und so den geistigen, dann den politischen Anschluß an Europa zu finden.

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