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Frhling in Spanien

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Man sieht sie nicht; meilenweit landeinwärts herrscht der Stein; der harte Fels der spanischen Lande, der sie überflutet mit steinernen Wellen, der sich türmt zu bizarren, gespenstischen Gebilden, nicht nur hier am Meer, auf dem halben Weg zwischen Alicante und Valencia. Man spürt sie aber; ihr zarter Duft ist so stark, daß er den Geruch des Meeres überwindet, des alles gebärenden und alles verschlingenden Meeres, über das Jahrtausende hindurch die Eroberer nach Spanien kamen: Duft der Orangenblüte.

Viele Meilen fern von hier fährt der Wagen durch Orangenwälder; die in Blüten und die in Früchten stehen. Kolonnen von Lastwagen führen die Frucht den großen Märkten zu. Kleine rotgelbe Meere: Orangenfluten, ausgegossen auf Trockenböden; die Sonne, der Wind trocknen die Früchte, die einer industriellen Verwertung zugeführt werden.

Nacht über dem Land. Der Küster der Kathedrale in Javea, einer kleinen Stadt an dieser Küste, führt uns auf das Dach hinauf. Mannshohe Zinnen, Laufgänge, vorwölbende Schachte, zum Abguß des brennenden Pechs auf die anstürmenden Feinde. Das Dach einer Burg, einer Festung. Da standen sie also, die Männer; unter ihren Füßen der Dom, sie stehen ja auf seinen breiten Schultern, die sich heben und wölben in den Kuppen seiner Schiffe; über ihnen ein riesenhafter Himmel, aus dem eine gnadenlose Sonne brennt; auf allen Seiten, unten, nebenan, der Feind. — Unser Blick gleitet von den Zinnen dieser Festung zu den helleren Horizonten, in denen noch die Lichter des Tages hängen: in seinem scheidenden Lichte stehen sie, dunkel, rund, stark: zwei, drei auf der nächstliegenden Hügelkette, vier fünf auf der hinter ihr sich bergenden: Wachttürme. Gebaut, um das Volk des Landes zu warnen vor den von der See her einfallenden Piraten, den maurischen Feinden, die, nachdem sie aus Spanien vertrieben worden waren, immer noch kamen, Jahrhunderte hindurch, um zu plündern, auf Menschenraub auch, auf der Suche nach Beute, nach „Menschenmaterial“. Die Brandfackeln auf den Türmen meldeten von Berg zu Berg den Schrecken weiter: die Täler, das Volk, sah diese Warnung, und floh; in die unwirtlichen Schluchten, in die festen Orte, in die Kirchen. Wer näher hinsieht, wird schnell nicht nur an tausend kleinen Land- und Dorfkirchen, sondern in der Grundstruktur großer Kathedralen, wie etwa in Valladolid, der Stadt, in der Philipp II. geboren wurde und in der Kolumbus starb, entdecken: diese Kirchen sind Festungen; wuchtende, möglichst quadratische Steinkästen, ohne Fenster oft, bewehrt durch verstärkende Pfeiler. Wenn die Kräfte und Möglichkeiten der Erbauer ausreichen, dann gipfeln diese Kirchenfestungen in einem mächtigen quadratischen Turm, der breit, gelassen den Feind erwartet. Das also waren Spanien Kirchen: Fluchtorte dem Volke, das in sie floh vor äußeren und inneren Feinden. Denn da: verstand sich in ganz Alteuropa von selbst in den langen Jahrhunderten, bevor es zum Siege des neueren Königtums und des zentralen Fürstenstaates der Neuzeit kam: Feinde, Todfeinde kamen nicht nur von außen, über See, sondern wuchsen immer auch im Inneren; Herr kämpfte gegen Herr, Landschaft gegen Landschaft. Grenze und Größe der spanischen Kirche hängen noch heute an ihrer uralten Prägung als Burg und Festung.

Jahrhundertelang hatte das Volk, das einfache Volk, sich gewöhnt, Schutz und Schirm zu suchen und zu finden in dieser Kirchenburg: Schutz vor einfallenden Feinden, vor Fremden, vor Menschen, cie anders waren, und die ihm als Räuber des Kostbarsten erschienen, der Seele. Unser Blick geht, im Herzen des Landes, von den Steinfeldern Kastiliens, hinüber zu Avila: Stadt, bewehrt mit an hundert runden Türmen, eine Festung heute noch, in ihr die Festungen ihrer Kijchen. Avila ist die Geburtsstadt der großen heiligen Therese; diese mächtige Frau gab in der Krisenzeit des spanischen Reiches, als es zusammenzubrechen begann unter dem Ansturm der holländischen und englischen Seemacht, mehr noch unter den Stürmen der lutherischen calvinischen Revolutionen, die Losung aus: wenn, wie heute, die Welt unserem obersten Herrn und König, Christus, verlorenzugehen scheint, dann müssen wir uns zurückziehen in feste Burgen unseres Herzens und unserer Seele; um da, in der Festung unserer Klöster und Herzen, Kraft zu sammeln und Widerstand zu leisten bis aufs letzte. Eine Kirche der Festungen, des Widerstandes: gegen „Fremde“ und „Feinde“, gegen

„Ausländer“ und „Europäisierende“, gegen „Neuerungen“; Schwäche und Stärke der spanischen Kirche hängen an dieser einen Gegebenheit. Ihre Schwäche ist immer bedingt durch ihre Angst, ihr Mißtrauen; vielleicht hatte sie seit Jahrhunderten es nicht mehr gewagt, so wie einst im Jahrhundert des Konzils von Trient, offene Feldschlachten anzunehmen, offen einzutreten in den Geisteskampf, der heute auf allen Fronten dieser Erde neu sich entfaltet. Vielleicht hatte sie allzusehr vertraut auf ihre Burgen, ihre Festungen, ihre Besitztümer. Der entsetzliche Haß, der in dem letzten Jahrhundert und bis in unsere Tage immer wieder aufbricht im einfachen Volk, ist ja nichts anderes als enttäuschte Liebe: wer sollte dieses Volk armer und armseligster Leute schützen und schirmen, wer sollte es verteidigen wider den Uebermut der großen Herren und Aemter, wenn nicht diese ihre Kirche? Diese Kirche aber hatte sich als zu schwach erwiesen: sie hatte die Großen gewähren lassen...Außenstehende, auch in Spanien Ansässige, die auf den Glanz der Prozessionen sehen, auf das öffentliche Auftreten von Prälaten bei festlichen Anlässen, sagen achselzuckend dem Gast in diesem wunderschönen, erregenden Lande: die Kirche ist übermächtig... Innenstehende, spanische Katholiken sagen: unsere Kirche ist zu schwach. Sie vermag in keiner Weise politisch, staatspolitisch und volkspolitisch das Gewicht in die Waagschale zu legen, das ihrer inneren Substanz und Bedeutung zukommt. Spaniens Kirche, besser vielleicht, ein Großteil ihres Klerus, ist arm. Damit nimmt dieser Klerus Anteil an der größten Würde dieses Landes, an seiner Armut. Von dieser wird mehrfach noch zu sprechen sein. Viele Stunden, ja tagelang kann man hier durch Steinfelder, Steinwüsten fahren. Ausgegrenzt aus dieser entsetzlichen Armut sind kleine Felder, kleine Gärten. Der einfache spanische Kleriker und Pfarrer besitzt ein staatliches Einkommen, das monatlich an die dreihundert Schilling beträgt. Er ist also angewiesen auf milde Zuwendungen von Reichen, von Patronen; in der Stadt ist es nicht selten, daß er Nebenberufe ergreifen muß, etwa Stundengeben. Dieses Ausüben von Nebenberufen, in Mitteleuropa vor allem für Intellektuelle charakteristisch, ist in Spanien vielleicht eines der charakteristischesten Phänomen der Gegenwart: der junge Leutnant, der etwa 660 österreichische Schilling verdient, ist ebenso wie der mittlere und bereits gehobene Staatsbeamte, auf Nebenberufe und Nebenverdienste angewiesen. Die möglichen poetischen, innerkirchlichen und religiösen Folgen dieses Zwanges für den Klerus, Nebenverdiensten nachzujagen oder (und) Almosen von reichen Familien anzunehmen, mag man sich nach eigenem Urteilsvermögen ausmalen. Es darf wohl in diesem Zusammenhang gesehen werden: einige junge energische Bischöfe und dann etwa die spanischen Jesuiten, sind in diesen letzten Jahren unermüdlich tätig in der sozialen Arbeit. An ihr hängt nicht nur die Verbesserung des Loses breiter Schichten, sondern, in jeder Weise, mit das künftige, zeitliche Schicksal der spanischen Kirche. Ihres möglichen politischen und geistigen Eigenstandes in einer Nation, die ein Komplex vielfältiger Kräfte und Gegensätze ist.

Festung' Spanien, spanische Kirchenfestung: an dieser Tatsache hängt nicht nur viel Leid und lange Ohnmacht, sondern auch eine tiefe, eigentümliche Stärke. Dieses Volk und dieses sein Christentum besitzen Substanz; Substanz, die nicht zerrieben, nicht hineingezogen wurde in den Verschleißprozeß, der in mannigfachen Formen in europäischen Ländern seit langer Zeit im Gange ist. Inbrunst des Glaubens, dazu eine nüchterne, ruhige Art, sich auf Gott zu verlassen. Ihn als Herrn aller Wirklichkeit anzunehmen. Diese Substanz ist tief geborgen, oft verborgen, und sie ist unerschlossen. Es ist, wie wenn das karge Land, die riesigen Steinfelder darauf warteten, daß Menschen kämen, die, wie die italienischen Kolonisatoren in den Wüstengebieten Afrikas, tiefe artesische Brunnen in den steinigen Boden hinabgrüben, mit unendlich viel Geduld, Ausdauer, Zähigkeit und Methode. (Eigenschaften, die die Spanier sich oft selbst absprechen — wobei sie jedoch widerlegt werden durch einige ihrer größten Arbeiter im Weinberg des Herrn: nicht nur durch Ignatius, Therese, Franz Xaver.) Hier teilen sich nun die Meinungen, hier trennen sich die Wege spanischer Katholiken: die einen sind der Ueberzeugung, daß diese Substanz nur erhalten werden kann, wenn sie weiterhin gehütet wird durch eine gewisse Absperrung von „ausländischen“ und „modernen“ Einflüssen. Andere sind der Ansicht, daß heute die Stunde gekommen ist. in der Spaniens reiche innere Schätze fruchtbar. flüssig gemacht werden können und seifen für die Wdtkirdie, für Europa, für die Menschheit. — Diese Zweiteilung ist mscharf, sie wird der komplexen Vielfalt panischer Wirklichkeit nicht gerecht, wie gleich hinzugefügt werden muß. Der spanische Mensch birgt in seiner Brost eine Vielfalt von Tendenzen, Strebumgen und Elementen — -das Zusammenleben dieser oft gegensätzliche Elemente in etmer Persönlichkeit könmen, als Außenstehende, vielleicht mar alte Völker, wie Chinesen und manche Asiaten, und Katholiken rät Ländern, in denen ihre eigenen Traditionen kirchlichen Vergangenheit und Gegenwart Spaniens.

In den Atislagen der Buchhandlungen in Madrid, in Barcelona fallen, neben den vielen Uebersetzungen der angelsächsischen Roman-literatw, neben den Büchern, die Hitler, Mussolini, den Generalen des zweiten Weltkrieges gewidmet sind (eines davon trägt -den ansprechenden Titel: „Die Meuchelmörder Hitlers'“), die vielen Llebersetzungen religiöser und theologischer Werke auf. Frankreichs, Deutschlands, Italiens feekannte und angesehenste Autoren nicht zerbrochen wurden, begreifen. Der Oesterreicher, der dazu befähigt ist, hat zudem heute eine besondere Aufgabe, sich für den spanischen Menschen und für diese große Nation zu interessieren: wenn es je zt! einer echten europäischen Selbstbehauptung kommen sollte, dann werden Spanien und Oesterreich Angelpunkte dieses europäischen Koordinaten-systems ein müssen.; Verständnis für ein solches werden aber nur Menschen aufbringen können, die, wie der Spanier und der Altösterreicher, eine Fülle von Gegensätzlichkeiten lebensmäßig iu sich bergen. — Für die gegenwärtige innere Lage des spanischen Katholizismus heißt das: selbst .die Männer der Festung, der Absclaließung, sehen heute mit oft hohem Interesse auf dk Vorgänge und Bewegungen im Weltkatholizismus, nnd in Westeuropa und anderseits gilt: die junge katholische Elite — an ihrem Aufstieg hängt der spanische Frühling, 4er Eintritt der spanischen Potenz in das itinere noch weit mehr als das äußere Kraftespiel in Europa und um Europa — diese junge katholische Elite muß, mehr als man das in anderen Ländern versteht, Rücksicht nehmen auf die vielen tragischen und schwierigen Bezüge der staatlichen und scheinen hier auf. Die Auslagen der Buchhandlungen weisen dergestalt bereits in sehr demonstrativer Form auf einen tiefinneren, schwierigen und komplizierten Prozeß hin: in Spanien öffnen sich heute — vielleicht zum ersten Maie seit Jahrhunderten, seit Erasmus von Rotterdam im Gefolge Karls V. seinen Einzug in Spanien hielt mit seinen Büchern, seit, im 1*. Jahrhundert, die Aufklärung in Spanien eindrang, Tore. Tore der Seele, des Geistes. Die Lage ist heikel genug; ein einziger Blick auf den tragischen Untergang der spanischen Erasrnianer im 16. Jahrhundert, dann auf das Scheitern der spanischen Aufklärung mrr*d der spanischen Aufklärer genügt, um die prekäre Situation anzudeuten. — Es wkd großer Geduld, eines großen Opfermutes und Wagemutes bedürfen, soll das noch fremde Geisteegait Europas in eine heilvolle Begegnung mit dem spanischen Wesen gebracht werden, ohne dieses zu überfordern, zu überreizen, zu überanstrengen. Hier beginnt ein Prozeß, der, in anderen Dimensionen, im heutigen Osten, in Asien und Afrika, überall im Gange ist — nur nicht überall so sorgfältig betreut wie heute in Spanien durch eine Handvoll umsichtiger Menschen: es bedarf aller Klugheit und Besonnenheit, eines großen Takts des Herzens und des Verstandes, von Seiten der Ueber-bringcr europäischer Gaben wie von Seiten der spanischen Betreuer dieser Kommunikation, soll eine hcilvolle gültige Begegnung gelingen. Solleo nacht wieder, wie so oft zuvor, Kitrzschluß-realationen entstehen, Brände, die rieh auflehnen gegen eine Ueberfremdung. gegen eine Gabe, die als Gift erscheint, weil sie nicht mit dein Eigensten ergriffen werden kann.

Das aber ist, heute in Spanien, die Stunde einer jungen kaifholischen Elite. Diese Männer und Frauen, erwacht und erweckt in den letzten fahren der Republik, gereift in den Enttäuschungen der letzten Jahre, wissen sowohl bd die zahlreichen Verswchungen Jener Geister und Mächte, die berate Spanien mgmdrdhen nnd umwerben, wie wm die Versäichfflingen nand Gefährdungen, die Spanien in sich selbst trägt. Ihr Programm — wenn vom ,,Programm“ eines Lebendigen, einer lebendigen Gemeinschaft vieler persönlich und politisch oft sehr verschieden akzentuierter Persönlichkeiten gesprochen werden darf — tendiert dahin, Spanien langsam und besonnen einer Kommunikation zu erschließen mit dem Besten und Reifsten, was Europa gestern, heute und morgen aus ich entwickelt. Entfaltet in politischen, religiösen, geistigen und wissenschaftlichen Bestrebungen.

Im Zentrum von Madrid, -unweit vam Prado und der Pnerta del So}, der Herzmutte von .Alt-Madrid,, ragt, halb Wolkenkratzer, halb Kathedrale, ein Gebäude auf. Die Madrileffler nennen es ironisch-kritisch: „„Unsere liebe Frau von der Post“; dieser zwieschlachtige Palast beherbergt die Oberpostdireition. Zehn Minuten entfernt von ihm knien — es ist halb elf Uhr abends in der Karwoche — die Menschen in den vollen Kirchen vor dem Allerheiligsten, das in Blüten und Lichtern unterzugehen scheint. — Draußen vor der Stadt schneiden die glasklaren Konturen der Berge den Himmel ab.

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