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Die schiefen Türme

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Daß Schönheit etwas Außergewöhnliches ist, war natürlich seit jeher auch Mißverständnissen ausgesetzt. Das reine Dasein einer großen Form, der augenfällige Ausdruck eines in sich abgerundeten Bewußtseins, genügte plötzlich dem unruhig gewordenen Sinn einer Zeit nicht mehr, sie suchte sich förmlich zu überbieten und mit Nochnichtdagewe-senem das bisherige Maß zu übertrumpfen. Einmal aus dem Gleichgewicht gekommen, verlor sie ihren gesunden Halt und konnte sogar in das Gebiet des Unvernünftigen ausschweifen. Das Außergewöhnliche wurde dann nicht mehr in der inneren Gefühlsstärke, die Form geworden war, gesehen, sondern in ganz äußerlichen Momenten des Inerscheinung-tretens. Da es sich nun um Angelegenheiten der Oberfläche handelte, wirkten die Gebärden verkrampft und die eingenommene Haltung gesucht. Man kennt solche Erscheinungen auf allen Gebieten des menschlichen Schaffens und Handelns, in der Politik sowohl wie in der Strategie, und vermag sie vor allem in den Künsten während mancher Epochen zu verfolgen. Die Menschen konnten in solchen Zeitläuften das Außerordentliche in einem kühnen, scheinbar in die Zukunft weisenden Griff erblicken, der die Dinge auf den Kopf stellte und dabei die Entwicklung mit einem Sprung vorwegzunehmen schien, aber letzten Endes doch nur etwas künstlich Gewolltes und notwendig Unverständliches hervorbrachte. Oder sie erblickten auch ihr Heil in einer gewollten Primitivität, die über das Wissen und Können einer Zeit hinweg in längst überwundenes Unvermögen flüchtete. Die Unschuld ihres Gefühls konnten sie aber auch dadurch nicht mehr erlangen.

Am sinnfälligsten wirken solche Fehltritte einer Zeit in der Baukunst. Sie bewahrt dem unmittelbaren Anschauen alle guten und schlimmen Zeichen oft überraschend lange, und gar in unserem Falle hat es sich deutlich erwiesen, daß bloße Kuriosität einer drohenden Zerstörung manchmal stärkere Widerstandskraft ent- gegensetzt und.sich als zäher behauptet als einfache und daher auch stillere Schönheit. Es gibt bedeutende Bauwerke, bei denen sich der Künstler schließlich noch einen Architekturwitz gestattet hat, als könnte er damit die Neugier der blinden Menge fesseln und die von ihr vielleicht weniger beachteten Schönheiten des Raumes dadurch einem ferneren Wohlwollen empfehlen. Ein besonderes Kapitel bilden in dieser Hinsicht die schiefen Türme, wie sie namentlich in Italien den Stolz mancher Stadt ausmachen. Welcher Turm erfreut sich auf der Welt auch einer größeren Berühmt' heit als der „Torre pendente“ von Pisa, der Tag für Tag gut doppelt so viele Besucher anzieht als nebenan die bezaubernden Fresken des Benozzo Gozzoli am Campo Santo? Er steht aber nun einmal an erster Stelle im Abnormitätenkabinett der Kunst, und sein Katalog ist anscheinend der Menschheit geläufiger als jedes Handbuch der hier vorhandenen Schönheiten.

Pabei hätte es der schiefe Turm in Pisa gar nicht einmal nötig gehabt, sich unter den Schutz seiner Exzentrizität zu stellen, er wäre auch in aufrechter Verfassung jederzeit ein Denkmal von Rang geblieben. Die in sechs Stockwerken ringsum laufenden freien Galerien geben mit ihren schlanken, hohen Säulen, den anmutig harmonischen Bögen dem Bau einen Reichtum von schönen Merkmalen, der auf jeden Fall bestaunt worden wäre. Es ist an ihm zugleich charakteristisch, daß der Italiener massive Kompaktheit ebensowenig verträgt wie die unbelebte Fläche. Er muß sie auflösen, die Säule, das alte Mittelmeererbe, tritt aus ihr hervor, es ist nicht mehr die stolze Trägerin der Tempel, in eher schon lieblicher Bescheidenheit dient sie schmalen Bögen, die ohne rechte Funktion mehr als angenehme Schmuckleiste das Auge erfreuen und hier einen Turm wie sonst in der Nachbarschaft viele Fassaden beleben. Man schreibt die Anregung zu ihm dem Leuchtturm der Ptolomäer in Alexandria zu, also ein hellenistisches Saatkorn, das vielfältig am Arno aufgegangen, übrigens unweit seiner breiten Mündung, an der schon manches phöni-kische und griechische Fahrzeug angelegt und später der heilige Petrus zuerst den italienischen Boden betreten haben soll.

Ob weichendes Erdreich bei Beginn des Turmbaues die schiefe Richtung verursacht hat oder die Baumeister schon im vorhinein eine solche Gestalt beabsichtigt haben, das bleibt ziemlich gleichgültig gegenüber der offenkundigen Tatsache, daß die guten Pisaner jedenfalls die Gelegenheit eines solchen noch nicht dagewesenen Campanile fix ergriffen und bald um keinen Preis mehr von ihm gelassen hätten. Restlos entschieden konnte die Frage ja bis heute nicht werden, und sie dürfte allem Anschein nach auch kaum je mehr eine authentische Aufklärung finden. Aber läßt nicht allein schon dieser Umstand darauf schließen, daß man alle diesbezüglichen zeitgenössischen Berichte hat verschwinden lassen, um die Menschheit betreffs eines ihrer Weltwunder nicht der Desillusio-nierung auszusetzen? Denn es ist kaum zu glauben, daß eine Naturkatastrophe, die ein so gewaltiges Unternehmen betroffen, fn den Stadtchroniken oder auf irgendwelchen gleichzeitigen Dokumenten nicht verzeichnet worden wäre. Wenn es sich also ursprünglich auch nur um eine Widerwärtigkeit des Baugrundes gehandelt hat, was gewiß als das Wahrscheinliche angesehen werden kann, so hat man in Pisa später sichtlich alles dazugetan, um eine solche Zufälligkeit zu verwischen und den Turm für eine besondere Willensäußerung in Anspruch zu nehmen.

Die Verfechter einer schon im voraus festgestandenen Absicht könnten nun wohl eines zu ihren Gunsten noch anführen. Niccolö Pisano, der Meister der Kanzel im Baptisterium von Pisa wie jener nicht minder bewundernswerten im Dom von Siena, hat für die Benediktinerabtei von S. Niecola in Pisa, noch während der große Campanile im Bau war, mit e/staunlicher Kunst einen zweifellos absichtlich schief konstruierten Glockenturm entworfen, der ebenfalls heute noch steht und ein merkwürdiges Gegenstück zu dem berühmten Wahrzeichen der Stadt bildet. Gewiß, hier handelt es sich um ein wesentlich bescheideneres Unternehmen, das einen Baukünstler viel eher dazu verlocken konnte, seine Geschicklichkeit einmal an einem schwierigen Scherz zu erproben, und der Turm war schließlich bis zur Dachgleiche vom dazugehörenden Gebäude umschlossen, so daß die Säulengänge nach innen verlegt werden mußten. Aber welche Inbrunst liegt gerade hier im Aufstieg der Säulen, wenn man von unten .zur Spitze sieht, denn die Galerien laufen nicht mehr eben ringsum, sondern folgen den Treppen nach aufwärts, wodurch die Säulen ihre Steile betonen können und zusammen mit der deutlich schiefen Lage der Mauern ein eigenartig in die Höhe drängender Raum entstand. Das sieht gar nicht danach aus, als wäre dem Baumeister nur an einem Witz gelegen gewesen, und der brave Niccolö, unvergleichlich in seiner geheimnisreichen Gesichte formenden Bildhauerkunst, hatte im rein Konstruktiven immer seine schwache Seite, so daß ihm Übermut in dieser Hinsicht wohl eher hätte fernliegen müssen. Darf man überhaupt annehmen, daß ein bloßes Bauunglück eine architektonische Mode kreiert hat, wo doch sichtlich auch andere Veranlassungen dazu in der Zeit gelegen waren?

Was ist nun um die Wende des 12. zum 13. Jahrhundert in Italien vor sich gegangen, das ein solches absonderliches Abschweifen und Ausladen möglich machte? War es eine bloße Verirrung, die solche Bauten entstehen ließ, aber auch sie mußte einen Grund haben, und sei es nur der einer plötzlichen entstandenen Unsicherheit. Oder darf man gar weitergehen und von einer Art Lästerung sprechen, die hier vielleicht einerseits aus einer Ubersättigung, andererseits etwa aus einem verzweifelten Unvermögen versucht worden war? Schauen wir uns in Europa um und auf die Bauwerke, die jenseits der Alpen entstanden, so werden wir bald darauf aufmerksam, daß es das gleiche Jahrhundert ist, in dem die Kathedrale von Reims, der Kölner Dom und das Straßburger Münster aus längst bereitetem Erdreich emporwuchsen. Die Gotik war auf ihrem Siegeszug durch das Abendland begriffen, und das war nur möglich, weil die Zeit sie als den ihr gemäßen Ausdruck empfand. Wie verhielt sich aber nun Italien zu ihr, dessen Städte ja stets eifernd bestrebt waren, einander durch Größe und Neuartigkeit der Bauten zu übertrumpfen? Die gotische Baukunst machte wohl am Mittelmeer nidit Halt, unzählige Profanbauten und Kirchen lehren uns, wie sie auch hier aufgenommen und reichlich verwertet worden ist, sie ist aber gleichwohl unter der Sonne des Südens eine andere geworden. Der grandiosen Vorherrschaft des Senkrechten, dem Schwung der aus den menschlichen Disharmonien emporgerissenen Seele gesellt sich gleichsam berichtigend — und dadurch auch beschwichtigend — die Waagrechte zu, kämpft sich struktiv bis zur Ebenbürtigkeit durch und führt den vor seiner Hingerissenheit fast schon erblindeten Sinn zurück zur ausgeglichenen Harmonie eines beruhigten Anblicks, wie es der Kunst dieses Landes seit jeher entsprach. Das Lebenselement der Gotik war aber damit gebrochen, und ihr Formwille siechte oft nur in bloßem Schmuck so dahin. Man mußte sich wohl in Italien dieses Versagens der Gotik gegenüber bewußt geworden sein, konnte es aber aus eigenem Vermögen nicht ändern, worüber namentlich in der Baukunst mancherlei Unsicherheit entstand, man war mit sich plötzlich nicht mehr zufrieden, trotz alles scheinbaren Sieges der heimischen Bauvorstellungen. Und die Ohnmacht vor den andersgearteten neuen Ausdrucksformen flüchtete schließlich zu so verzweifelten Gesten, wie es die schiefen Türme waren?

In Pisa ist der Turm in geradezu erschreckender Weise der Stadt zum Fluche geworden. Vor seinem Baubeginn im Jahre 1174 war sie eine der mächtigsten Handelsstädte des Mittelmeers, hatte immer wieder den Halbmond entscheidend aufs Haupt geschlagen, vor Palermo seine Flotte zerstört und die. Herrschaft über Sardinien, ja sogar bis über die Balearen hinaus an sich gerissen. Und wie sah es mit Pisa aus im denkwürdigen Jahr 1350, in dem der Turm beendet war? Von Genua besiegt, der Handel vernichtet, Korsika abgetreten, Sardinien verloren, die Stadt dem Condot-tiere Faggiuola verfallen und bald auch noch an Florenz verkauft. Ein furchtbarer Sturz hatte Pisa heimgesucht... Der Fluch des schiefen Turmes fraß aber innerhalb seiner Mauern noch weiter. Der Ort, wo Dom, Turm, Baptisterium und Campo Santo stehen, blieb abseits in einem Winkel der Stadtmauer liegen, ate wäre diese Stätte geflohen worden, die Häuser zogen sich von ihr zurück, statt wie überall anders sich um sie zu sammeln und zu gestalten. Sie fanden aber kaum anderswo einen Halt, krochen wie Verirrte ziemlich wahllos zusammen, es bildeten sich keine Plätze, um die sie Ruhe gefunden hätten, und wo einer sogar entstand, fiel er windschief aus, als geschähe es nur auf einer Flucht — exzentrisch wie ihr Turm blieb die ganze Stadt. Nur am Arno entstand so etwas wie eine Zeile, der schön geschwungene Bogen des Flusses zwang den Bauten eine Haltung ab. Gerade dieser Zwang aber ließ sie erkalten, und steif begleiten sie den Fluß, die Fensterläden sind fast immer verschlossen, und hinter ihnen sitzt ein erstarrtes Geschlecht, das sich wie zur Strafe vom Leben zurückgezogen hat.

So tragisch überschatten wohl nicht alle schiefen Türme die Stadt, die sich zu ihnen hat hinreißen lassen. Gar die beiden zueinandergeneigten Wächter von Bologna wirken eher wie zwei ulkige, gutmütige Räuber, die das Bramarbasieren nicht lassen können. Pat und Pata-chon in der Architekturgeschichte. Stumpf und klobig der eine, hoch und schlank der andere, torkeln sie in die Stadt hinein, nachdem sie sich sichtlich erst einen genehmigt haben, und der schmächtige Riese fällt davon schon bedenklich nach vorne. Stimmen da wirklich die stolzen Bezeichnungen Torre Asinelli und Gari-senda zu ihnen, erlauchte Namen von Geschleditern, die hier ihre Familienburgen stehen hatten? Einige Jahrzehnte vor dem Campanile von Pisa entstanden, haben diese Adelstürme auch keine andere Verwandtschaft mit ihm als allein den ihrer nun einmal schiefen Statur. Sie scheinen gleichwohl mit ihrem Los zufrieden und auch sonst recht harmloser Natur, hatten es ihre Väter doch wohlweislich unterlassen, den Unfug ihrer Entstehung mit heiligen Formen zu treiben.

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