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Neun Jahre später...

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Dieser Artikel erschien am 5. Juli 1952. Der Retter von Monte Cassino, der Wiener Oberstleutnant a. D. Julius Schlegel, schildert darin sein erschütterndes Wiedersehen mit der Benediktinerabtei, über deren tollkühne Kunstschätzebergung er ein halbes Jahr zuvor in der „Furche“ eine Artikelserie mit weltweitem Echo geschrieben hatte.

Eine ehrenvolle Einladung durch Bischof Hudal, Rektor der Anima, zwei Vorträge am Collegium Teutonicum in Rom zu halten, brachte mir auch die Erfüllung eines lang ersehnten Wunsches: mein erstes Wiedersehen mit Monte Cassino nach dem Kriege. Ich habe in der „Furche“ vom November des Vorjahres, in den Nummern 45 bis 50, einen genauen Bericht gegeben von „Meinem Wagnis in Monte Cassino“, der ein über Erwarten starkes Echo in fast allen freien Ländern auslöste. Ich schilderte darin, wie es mir gelang, im Verein mit den Mönchen der Abtei und der hingebungsvollen Arbeit meiner Soldaten, die unersetzlichen Kulturgüter des Klosters noch vor dessen Zerstörung in Sicherheit zu bringen.

Nun also stand ich, nach fast neun Jahren, vor der Stätte meines Wirkens, vor dem heiligen Ort, an dem mein Leben seine Erfüllung fand. Vergeblich wäre es, mich nach den Beweggründen meines Handelns zu fragen. Ich könnte nur vermuten, daß sie, mir selbst nicht bewußt, ihre Wurzeln in meiner Zugehörigkeit zum Abendland hatten. Da mit dem Untergang seiner Kultur auch der Mensch, der in ihr lebt, zugrunde geht, mag's eine Reflexbewegung gewesen sein.

Nur bei mildester Beurteilung der Zeitläufte und größtem Optimismus wagt man die Behauptung: die Welt sei bloß schwer krank und liege nicht schon in Agonie. Wer will bestreiten, daß unsere Zeit nicht erschreckende Parallelen aufweist mit der Zeit St. Benedikts und daß sie zu alldem einer Fühirerpersönlichkedt seines Formats entbehrt. Es war damals wie heute eine Zeit der Unruhe und der Auflösung jeder Ordnung; die Welt hatte ihren Schwerpunkt, ihre Kultur verloren. Inmitten der geist- und sinnverwirrenden Völkerwanderung erkannte der große Ordensgründer mit hellseherischer Klarsicht die geistige und körperliche Unruhe sowie die Angst der Menschheit als den Kern des Übels seiner Zeit.

Trotz der schrecklichen Leiden war die Menschheit von damals der heutigen gegenüber mehrfach im Vorteil: man hatte noch keinen Rundfunk und keine Atombombe. Zwar gab es auch damals Lüge und Verleumdung, aber sie konnten sich nicht so rasch verbreiten wie heutzutage; wohl waren Mord, Meuchelmord und Krieg sehr alltägliche Vorkommnisse, aber man hatte dafür im Vergleich mit heute nur ganz simple Werkzeuge und fast gar keine Maschinen: die Menschheit war noch nicht von der Maschine besiegt worden!

Man kann in unserer Zeit nicht genug darauf hinweisen, wie bedeutungsvoll die Grundsteinlegung durch St. Benedikt im Jahre 529, also am Ausgang der antiken Kultur, für das Abendland geworden ist. Dort schuf der große Mann das Gesetz, seine Regula: durchtränkt von seinem erleuchteten Geist, von seiner unfaßbaren Menschenkenntnis, von seiner seherischen Klarsicht Dieses Gesetz bestand all die Jahrhunderte hindurch. Es brauchte nicht modifiziert, ak-kommodiert oder novelliert zu werden, es paßte überall und immer, und seine Jünger richten sich noch heute danach. Man stelle sich vor, nur die halbe Welt hielte sich an seine Lebensvorschrdften, sie gewänne dadurch mit apodiktischer Sicherheit zu den ewigen Werten das höchste Gut auf Erden: die ausgeglichene Heiterkeit, weil dann — unter anderem — Kriege völlig unmöglich wären.

Ich halte diese Erinnerungen an historische Begebenheiten und Entwicklungen für nötig zum besseren Verständnis der Kulturkatastrophe vom 15. Februar 1944. Ich sage das nicht retrospektiv, ich sah das voraus und sagte schon am 8. Dezember 1943, daß sich am Felsen von Monte Cassino die Geister scheiden! Man braucht sich nur die Mühe zu nehmen und die Abdrucke meiner Rede von damals in den italienischen und deutschen Zeitungen nachzulesen. Für Beweise habe ich vorgesorgt! Mir noch einige zu holen, war nicht der letzte Grund meiner Pilgerfahrt nach Monte Cassino.

Was wird man aber von mir halten, wenn ich nunmehr, der Wahrheit zur Ehre, zu wichtigen Berichtigungen gezwungen bin? Ich meine nicht jene zwei Namensverwechslungen, die mir unterliefen, da ich, aller meiner Aufzeichnungen beraubt, aus dem Gedächtnis schrieb: Die guten Patres von Monte Cassino haben mir lachend vergeben. Viel bedeutendere Richtigstellungen meines Berichtes vom November muß ich vornehmen: Es ist unwahr, daß ich 1200 Pergamente in Sicherheit brachte. Wahr ist vielmehr, daß es mehr als 2000 waren. Es ist unwahr, daß ich zwei Bilder Raffaels vor Vernichtung bewahrte. Wahr ist vielmehr, daß es vier waren. Ich könnte fortsetzen...

Eine aus Rom tönende englische Stimme bezichtigte mich zu Ende des Vorjahres der absichtlichen Auslassung. Zu Unrecht! Und wie sehr, das habe ich ihr jetzt in Rom, der größeren Nähe wegen, deutlich gesagt. Dennoch habe ich mich der Auslassung, wenngleich nicht absichtlich, schuldig gemacht: Ich habe nämlich einen Correggio nicht angeführt. Aber dieses Kunstwerk teilt das Schicksal des Verschweigens mit manchem anderen. Man möge mir das nicht übelnehmen — es würde sich kaum eine Zeitung finden, dde mir einen ganzen umfangreichen Katalog abdrucken würde, den ich derzeit noch gar nicht liefern könnte. Nur wenige Bedspdele meiner Auslassung seien mir noch gestattet:

Eine vielhundert Seiten starke, handgeschriebene lateinische Bibel aus der Zeit um 980; so fein und gleichmäßig geschrieben, daß man genau hinsehen mußte, um nicht zu meinen, sie sei gedruckt. Edne zweite, noch ältere, in griechischer Sprache, in ähnlich sauberer Arbeit. Das Rationale ddvdnorum officiorum, gedruckt in Mainz im Jahre 1459. Wer beschreibt meine Freude als Musikenthusiast, als ich in einer Vitrine die Ordgi-nalpartitur des „Stabat Mater“ von Pergolesi fand, jenes genialen Komponisten, der als Jüngldng von 25 Jahren starb und dessen Oeuvre demgemäß nur von geringem Umfang war. Als letzte Auffüllung noch immer bestehender Auslassungen sei mir gestattet darauf hinzuweisen, daß sich unter den geretteten Pergamenten die drei ältesten Sprachdenkmäler altitaliendscher Sprache befanden!

Als mich die Patres zum neuen Erzabt Don Udefonso Rea führten, sah ich die bedeutenden Gemälde, die ich aus dem Jahre 1943 kannte, und aus einer Ecke lächelte „meine“ Madonna mit dem Kinde in ihrer herben Schönheit; auch sie ist völlig unversehrt geblieben, was nur durch ihre „Verschleppung“ möglich war.

Monte Cassino ist zu etwa zwei Drittel wieder aufgebaut, in genau den gleichen Maßen wie ehedem. Ich sagte in meinem Bericht vom November, daß ich dde alten Baupläne ebenfalls nach Rom bringen ließ und sah sie nun in einer Vitrine liegen. Die Basilika steht, daneben der Campandle, und auch die Torretta, die den ältesten Teil umschließt, ist fertig. In ihr ruht der hochverehrte frühere Erzabt Gregorio Diamare, der im September 1945 heimgegangen ist. Dies sind einfache, sachliche und vor allem wahrheitsgemäße Feststellungen. Ich konnte unbeschwert im Gewissen, wenngleich nicht im Gemüt, an sein Mauergrab treten und seine Seele grüßen, denn ich gehörte nicht jenen zu, die seine letzten Jahre so sehr verbitterten, nicht unsere Waffen klopften so unfreundlich an sein Dach, daß es einstürzte.

Der Sottopriore Don Mariano Jaccarino, der meinen Vorsatz, am gleichen Tage wieder abzureisen, mit freundlicher Bitte zunichte machte, führte mich durch den gesamten Bau. Er ist ein großer stattlicher Herr und trotz seiner 71 Jahre so rüstig, daß es mir mit meinem einzigen, aus dem Krieg geretteten Bein schwer fiel, ihm zu folgen. Durch viele Räume gingen wir, durch breite Korridore, über Stiegen und Höfe, in denen das Baumaterial lag, aber auch noch Trümmer aus der Zerstörung, die beim Bau wieder Verwendung finden sollen. Im „Hof der Wohltäter“, vor der Basilika, stehen Skulpturen, die aus dem Bombenschutt ausgegraben wurden und nun wieder restauriert werden sollen. Auch liegen viele gebrochene Marmorplatten dort zuhauf, die zum größten Teil von den herrlichen Intarsienarbeiten der Kirche stammen.

Die Basilika ist, von außen gesehen, fertig. Von den drei Türen tragen die beiden seitlichen schöne neue Bronzearbeiten, wie sie sie auch vor der Zerstörung seit vielen hundert Jahren trugen. Dieses neue Kunstwerk Ist auf jeder Tür in sechs Felder eingeteilt, von denen die vier oberen Darstellungen aus dem Leben St. Benedikts zeigen. Die beiden unteren, links und rechts, halten die vier Zerstörungen Monte Cassinos in symbolischer Weise fest: die Zerstörung durch die Langobarden im Jahre 581, durch die Sarazenen 883, durch ein Erdbeben 1349 und die Zerstörung am 15. Februar 1944. Die Symbolik dieses Kunstwerkes läßt nur eine Auslegung zu, sowohl was die Errettung der Bibliothek betrifft als auch hinsichtlich der technischen Purohführung der Zerstörung und deren Urheber. Damit ist diese Frage, die nie eine war und erst zu einer gemacht wurde, klar und eindeutig auf eherner Tafel gelöst

Für die künstlerische Innenausgestaltung der Kirche konnte noch nicht viel getan werden: wer die alte kannte, findet die neue doppelt kahl und traurig. Immerhin sind die Ziersäulen an den Pfeilern schon angebracht, wobei eine Anzahl der früheren nach Ausbesserung verwendet werden konnte; auch mit der Marmorverkleidung der Pfeiler ist begonnen worden. Die einzige bauliche Veränderung der neuen Basilika besteht in einem Zugang zu dem neu aufgefundenen Grab St. Benedikts. Über diese epochemachende Entdeckung berichtete die „Furche“ vom “ 22. März in ihrer Nr. 12, und die Cassinenser gaben eine ausführliche archäologische und präzis-wissenschaftliche Abhandlung mit vielen Bildbeilagen heraus.

Auch die unter der Basdlika befindliche Krypta, die ebenfalls durchschlagen war, ist wieder zugemauert; ihre schönen Reliefs aber sowie die besonders stark beschädigten Mosaiken der Beuroner Meister P. Desiderius Lenz und P. Gabriel Wüger sind nur vor weiterem Verfall geschützt und noch nicht restauriert. Die künstlerische Ausgestaltung beider Kirchen wird noch lange Jahre in Anspruch nehmen.

Neben der Basilika haben die Mönche ein kleines Museum eingerichtet und in Vitrinen eine Anzahl besonderer Kostbarkeiten ihrer geretteten Bibliothek ausgelegt. Auch einige wertvolle Torsi von Skulpturen und Reliefs des früheren Kunstgutes sowie etliche neue Widmungen sind ausgestellt. Insbesondere sah Ich dort zwei noch gut erhaltene Stühle des holzgeschnitzten Chors, die traurig an die alte Pracht erinnerten, und eine wundervolle Arbeit des in den Tagen der Zerstörung verschiedenen Malermönchs Don Eusebio.

Mein Cicerone, Don Mariano, zeigte mir aber nicht nur die Räume, die dem geistlichen Leben gewidmet waren, er führte mich auch in die wirtschaftliche Domäne, in die Küche zumal, die ganz modern und zweckmäßig eingerichtet und mit allen nötigen Maschinen ausgestattet ist. Gleich daneben befindet sich ein Eishaus, dessen sich ein gutes Hotel nicht zu schämen brauchte.

Als wir dann, nach Besichtigung des Neubaues, zurückschritten zu dem etwa 200 Meter entfernt liegenden Haus, das auch eine Kirche und Kapelle enthält und das den Patres bis zur Fertigstellung der Abtei als Unterkunft und zum Offizium dient, sah ich auf einem Korridor in langer Reihe etwa 200 von den vielen hundert Kisten stehen, die ich im Jahre 1943 anfertigen, mit Büchern füllen und nach Rom bringen ließ. So belassen, wie sie waren, kamen sie zurück; viele harren noch in der Ewigen Stadt des Rücktransports. Ich las die Aufschrift, die meine Soldaten angebracht hatten: „M. C. Bibl.“, und ich befühlte das Holz...

In dem Zimmer, das mir für die Nacht diente, das schönste, das verfügbar war, nur für besondere Gäste bestimmt, löschte ich nach einiger Zeit das Licht und sah hinaus in die Sternenpracht. Meine Gedanken waren erfüllt vom Erleben des Tages. Der heilige Ort, die Erinnerung, die Freude, das Leid, die Genugtuung, alles wirkte zugleich auf mich ein. Keinen klaren Gedanken konnte ich fassen, und die Bilder formten sich zur Schau. Ich sah den heiligen Berg in Flammen stehen, sah die Frau mit den abgerissenen Beinen nach letzter Wegzehrung lechzen, hörte die drei Waisen um Hüfe schreien. Ihre Not linderte des Abtes Trost. Doch dort, der große Raum, in dem sich eine Menschentraube drängt, er wird zur Weinpresse, in der das Blut bis zum Rande steigt. Stürzende Trümmer bedecken auch dies Und dann sog ein Riesenschlund alles auf. Ein großes, lastendes Grau lagerte sich überallhin.

Am nächsten Tag schien die Sonne, und ich bat Don Mariano, mir den Raum zu zeigen, in dem die 400 italienischen Flüchtlinge vom Einsturz erdrückt wurden. Er war neben der noch nicht fertiggestellten Bibliothek. Mir aber graute erst, als mir Don Mariano sagte: „Nach der Besetzung der Abted durch die Alliierten kam eine Gruppe von Soldaten mit Krampen und Schaufeln, um nicht auf, sondern unter den Trümmern nach deutschen Soldatenleichen zu suchen. Sie verstehen, ein solcher Fund wäre der Beweis gewesen, daß die Deutschen das Kloster vor dessen Bombardierung zum Stützpunkt gemacht hätten. Sie suchten, obwohl der Abt das Gegenteil bezeugte. Nun, sie fanden keine; als sie aber auf die 400 zerschmetterten Zivilisten stießen, legten sie ihr Werkzeug hin und überließen die Abräumarbeit den Italienern.“

Vor meiner Abfahrt mußte ich mich noch in die Chronik von Monte Cassino eintragen, in der ich schon seit 1943 stehe; auch Bilder mit Szenen aus der Rettungsaktion brachte man, die ich mit Widmung und Signum versehen mußte. Dann zeigten mir die Patres eine große Mappe mit einer Sammlung von Zeitungsausschnitten aus aller Herren Ländern. Ich sichtete sie flüchtig und hatte bald genug. Es mag jedoch sein, daß ich ihnen einmal einen eigenen Aufsatz widmen werde, wenn ich dazu Zeit und Uberwindung aufbringe. Eigentlich brauchte ich nichts anderes zu tun, als sie jetzt, nachdem ich gesprochen habe, mit genauer Quellenangabe abzudrucken.

Dann kam der Abschied. Alle Patres gaben mir das Geleit, auch der 84jährige ehrwürdige Prior. Mir war's, als sei ich einer der ihren, und ich fühlte die tiefinnerliche Verbundenheit.

Nach Rom zurückgekehrt, drängte es mich, noch einmal den Ort zu sehen, wo ich am 8. Dezember 1943 das unschätzbare „Arohiv“ vor der Engelsburg ablieferte. Schlag 12 Uhr war damals alles bereit: 14 schwere Lastwagen voll Unikaten, 'eine große Menschenmenge, militärische, kirchliche und staatliche Würdenträger waren versammelt. Mit dem Glockenschlag fuhr mein Wagen vom andern Tiberufer über die senkrecht zur Engelsburg führende Brücke. Genau hatte ich das Bild in Erinnerung. Einbeinig humple ich jetzt zu den Brückenpfeilern, die meinem Weg, den ich damals zu nehmen hatte, die Richtung gaben. Da lese ich die Inschriften, die ich ehedem nicht gewahrte. Welch ein Omen! Ich kann nichts dafür, ich hab sie nicht hingeschrieben; sie stehen seit vielen Jahren dort; ich hab sie bloß voraus gewußt! Sie lauten:

Hinc retributio superbis.

Hinc humilibus venia.

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