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24 Stunden gegen die Sonne

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Dr. Otto Kaspar hält an der vorletzten Station leiner Weltreise: in Japan, dem Land der 375 Religionen. Die Begegnung mit dem Kaiserkult und vor allem mit dem diesseitsgerichteten Tenri-Bekenntnis mutet wie eine Vorbereitung auf den amerikanischen Materialismus an, dessen Verfemung von Leid und Krankheit schon groteske Auswüchse zeitigt. Kann aber eine Religion, die nichts von der Größe des Leids weiß, für eine Auseinandersetzung mit dem Kommunismus gerüstet sein? — In diesem Zusammenhang weisen wir wieder darauf hin, daß Doktor Kaspar seinen Flug „gegen die Sonne“ gemeinsam mit Pater Johannes Leppich SJ. unternahm. Die Reiseeindrücke des bekannten Predigers erschienen soeben im Bastion-Verlag, Düsseldorf, unter dem Titel: „Gott zwischen Götzen und Genossen“. „Die Furche“

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Dr. Otto Kaspar hält an der vorletzten Station leiner Weltreise: in Japan, dem Land der 375 Religionen. Die Begegnung mit dem Kaiserkult und vor allem mit dem diesseitsgerichteten Tenri-Bekenntnis mutet wie eine Vorbereitung auf den amerikanischen Materialismus an, dessen Verfemung von Leid und Krankheit schon groteske Auswüchse zeitigt. Kann aber eine Religion, die nichts von der Größe des Leids weiß, für eine Auseinandersetzung mit dem Kommunismus gerüstet sein? — In diesem Zusammenhang weisen wir wieder darauf hin, daß Doktor Kaspar seinen Flug „gegen die Sonne“ gemeinsam mit Pater Johannes Leppich SJ. unternahm. Die Reiseeindrücke des bekannten Predigers erschienen soeben im Bastion-Verlag, Düsseldorf, unter dem Titel: „Gott zwischen Götzen und Genossen“. „Die Furche“

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V. Japans „neue Religionen“

„Nur wer weniger als vierzehn Tage in Japan war, schreibt über Japan ein Buch.“ Das hörte ich einmal in Tokio. Nun war ich nur dreizehn Tage im Lande der aufgehenden Sonne. Somit könnte ich ein Buch schreiben. Aber mir genügten schon diese dreizehn Tage, um zu spüren, wie ganz anders dieses Land ist, von dem wir entweder ein verkitschtes Butterfly-bild mit Kimono, Kirschenbjüte, Geisha und Lampions haben oder das männliche Gegenstück des Kamikatse-Selbstmordfliegers mit Samuraihintergrund, Harakiri und technischem Imitationsgenie.

Will man aber wissen, wie ein Volk denkt und fühlt, so wird man nicht umhin können, die Gretchenfrage zu stellen. Auf europäisch lautet die Antwort — pickfein bezogen aus den diversen Lexika: Hauptreligion ist der Shinto — ehemals, also bis 1945, Staatsreligion der Sonnengöttin und ihres jeweiligen kaiserlichen göttlichen Nachfahren —, daneben gibt es noch den Buddhismus, der sich oft unter Anlehnung an den Shinto in verschiedene Sekten aufgliedert, und schließlich — gleichsam als allseits verbindlichen Knigge — den von China stammenden Konfutsianismus.

Mit dieser Weisheit ausgerüstet, suchte ich die Bestätigung meiner Kenntnisse, indem ich bekannte Shintoschreine aufsuchte. Da ging es aber eher wie bei Volks- bzw. Kriegerdenkmalfeiern zu als in einem Gotteshaus. Würdiger erwiesen sich schon Buddhistentempel, die jedoch nur kleine aktive Gemeinden haben. Aber einen religiösen Trennungsstrich wie zwischen Christen, Moslems oder Juden gibt es in Japan nicht. In jäpäniscfieh Häusern ist deshalb ohne die geringste„ Schwierigkeit ...auch ein Shinto-. neben einem Buddhaaltar. Denn man regelt sozusagen im Shinto mittels der Ahnen das Diesseits und durch den Buddhismus das Jenseits. Und zu alledem kommt in die Praxis die Ethik des Konfutse. -

Gewiß gibt es Strömungen, die auf eine geistige und geistliche Vertiefung ausgehen. Ihre Wirkungen — zum Beispiel des Zen-Buddhis-mus — reichen aber nach Europa ungleich stärker, als sie in Japan selbst sichtbar sind.

So viel wußte ich bereits, als ich, vergraben in einem modernen, rückklappbaren Schlafsessel der zweiten Klasse des schmalspurigen Tokio-Hiroshima-Nachtexpreß, nach dem Süden unterwegs war. Mit der üblichen Dreiteilung der japanischen Religionen, wobei die Lehre Kon-futses ja -nur eine Ethik ist, wird man der japanischen Situation jedenfalls nicht gerecht. In Wirklichkeit gibt es nämlich derzeit 375 Religionsgemeinschaften, die die Regierung anerkannt hat, von denen rund 120 erst nach dem zweiten Weltkrieg entstanden sind! 56 davon zählt man zur Shintogruppe, 27 stehen dem Buddhismus nahe, ein paar geben sich christlich und der Rest hat keine Beziehung zu einer der Hochreligionen.

Gewöhnlich ist aber jede von ihnen ein Gemisch von monotheistischen, polytheistischen und pantheistischen Vorstellungen, wobei es niemanden stört, wenn Verstand und Wissenschaft zum religiösen Inhalt der „Offenbarung“ des Gründers in Widerspruch stehen.

Uebrigens scheinen die „Gründer“ in nicht wenigen Fällen hysterisch gewesen zu sein. Aber auch recht obskure Gestalten bedienen beziehungsweise bedienten sich (weil man sie inzwischen kaltgestellt hat) des Schutzmantels der Religion. So gab es eine Religion, die die Elektrizität als höchste Gottheit und Thomas Edison als einen Gott zweiter Klasse verehrte.

Solche verbogenen „Religions“-Muster können aber nicht verdecken, daß es sich bei dem Phänomen der neuen japanischen Religionen um ein elementares Bedürfnis der Menschen handelt, für eine innere seelische Not eine Erlösung zu finden. . '

Ich sollte dies bald selbst erleben. Ein Missions,pater, dessen Aufgabe u. a. die Beobachtung dieser neuen P.eloionen ist, hatte mir eine gastliche Einladung des Patriarchen der Tenri-Religion verschafft. Sie gehört zwar nicht zu den ganz „neuen“ der Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. Aber die Welle der neuen Religionen reicht eigentlich schon bis in das 19. Jahrhundert zurück. Tenri-kyo, so ist der volle Name, existiert bereits seit 1838 und ist eine der stärksten Religionsgemeinschaften, von denen — im Gegensatz zu den „klassischen“ — eine enorme Vitalität ausgeht.

In Nara, einem alten Wallfahrtsort, vor mehr als tausend Jahren auch Kaisersitz, verließ ich den Expreß und stand bald ziemlich ratlos auf dem Bahnhofsplatz. Mit reichlichem Glück konnte ich endlich den richtigen Autobus auskundschaften, der mich die sechs Meilen nach Tenri bringen sollte. Fast mit den letzten Häusern Irörte die Straße auf, und ein staubiger Karrenweg rumpelte unseren Provinzbus nach allen Regeln einer japanischen Landstraße durch.

Die Fahrt erschien trotz der kurzen Distanz endlos. Doch plötzlich schwebten' wir fast — so kam es mir wenigstens vor — auf einer Betonstraße weiter. Mit dem Beton begann — „Tenri“. So heißt die Stadt, so heißt die Religion. Es roch nach Ordnung, und bald sah ich sie auch. Denn Tenri schien ein Treffpunkt von uniformierten Schwarzhemden zu sein. Fast alle Leute trugen schwarze Blusen, auf deren Revers — so erklärte man mir nachher — der Name Tenri-kyo weiß aufgedruckt ist.

Ein Taxi hupte mich durch die schmalen Hauptstraßen zum Holzpalast des Patriarchen (das japanische Haus besteht grundsätzlich aus Holz und Papier). Ehe ich mich noch zurecht-geftmdeF'hafeiatenu frfiir ber WKufe sprechend effifageklÄePftelfr1. fessor Yimaguchi von der Tenri-Universität, entgegen. Er ließ mich meine Schuhe beim Eingang ausziehen und geleitete mich in den „Kapitelsaal“. Süße Speisen und der grüne japanische Tee wurden gebracht.

Da saß ich denn. Gottlob nicht auf den Knien, sondern in einem tiefen Fauteuil, hatte neben mir zwei Hibachis, zwei tönerne Gefäße mit glühender Holzkohle. Für alle Fälle war aber ein elektrischer Ofen im Betrieb. Ein Blick in die linke Ecke zeigte mir eine Vitrine mit — Sporttrophäen. Und in der Mitte des großen, nüchternen Saales stand ein gewaltiger Konferenztisch für das „Kardinalskollegium“, so explizierte mir der inzwischen eingetroffene Erste Sekretär des Patriarchen in Analogie zur katholischen Kirche. Er trug schwarze Kultkleidung, mit einer Kopfbedeckung, die vom Shinto stammt. Während ich mich noch durch die für mich völlig neue Welt des Tenri-kyo durchzufragen suchte, kam der Patriarch selbst.

„Manager mit Zeit“ — notierte ich etwas später. Zivil gekleidet, in Anzug und Krawatte, gar nicht patriarchalisch. Neben dem ihn begleitenden Missionsoberpriester, der wie der Priestersekretär ein dicht besticktes Kultgewand trug, nahm er sich wie ein Konzernchef aus. Daß er einer der besten Judomeister Japans ist, ist für ein japanisches Religionsoberhaupt kein Gegensatz.

Höflich wechselte der Patriarch einige Worte in deutsch — er versteht wohl deutsch, spricht aber kaum — und skizzierte dann freimütig den Umfang seiner Religionsgemeinschaft: rund zwei Millionen Gläubige, 80.000 Priester und 10.000 Tempel.

Als Gast wurde mir gezeigt und erklärt, so viel ich sehen wollte. Gottesdienst: Alle sitzen kniend. Die Priester treten in den großen, blitzsauberen Tempel. Dreimaliges Händeklatschen. Dann schlägt ein tiefer und ein heller Gong rhythmisch zu dem Gesang von Psalmen. Die monotone Melodie ist schön. Ebenso die exakten tänzerischen Handbewegungen.

Monatlich einmal ist in Tenri ein religiöses Fest. Wer aufgenommen werden will, geht im Durchschnitt drei Monate nach Tenri, zahlt pro Tag 100 Yen und wird dort in der religiösen Lehre unterwiesen. Samt Tanzschritten und rituellem Gesang.

Und was ist der Inhalt der Tenri-Lehre?

„Gott der Urheber“ offenbarte sich durch die Stifterin Miki Nakayama. Er will die Menschheit gesund machen und ihr ein glückliches Leben auf Erden schaffen. Er ließ durch Miki, seinen lebenden göttlichen Tempel auf Erden — darum ist sie auch nicht gestorben, sie hat sich nur ihres Leibes entledigt und nimmt täglich im Tempel zu Tenri Nahrung zu sich und ein Bad —, heilige Bücher niederschreiben. Darin steht u. a., daß sich „Gott der Urheber“ in der Welt in zehn verschiedene Funktionen gliedert. Herr Nakayama, der Patriarch und Enkel der Stifterin, erklärte mir, dies sei — wie bei den Katholiken die „Dreifaltigkeit“ — eine „Zehnfaltigkeit“, Leid und Krankheit wären nichts anderes als „Staub“, der sich eben ansammelt, wenn man in sich nicht Ordnung macht. Gott gibt aber Leid und Krankheit nicht als Strafe, sondern als gnadenvolle Warnung, sich für ihn wieder frei zu machen. Wenn dann einmal alle in der göttlichen Liebe eins sind, dann ist der wahre Friede in der Welt eingezogen. Dann gibt es kein Leid mehr und keine Krankheit.

In dieses recht irdische Heilsziel paßt, daß in den heiligen Schriften der Tenri-kyo außerdem steht, daß der Mensch in glücklichem Dankgefühl gerne Arbeitsdienst macht, indem er — wörtlich — in Strohkörben Erde transportiert usw. Darum ist in Tenri auch während der normalen dreimonatigen Ausbildung ein religiöser Arbeitsdienst aufgezogen, durch den — weil das die höchste Form des „täglichen Arbeitsgeschenkes“ ist — die heiligen Bauten der Tenri-Religion errichtet werden.

Wer aber nodh höher steigen, also Missionär (aus Dank für seine eigene Beglückung) beziehungsweise Priester werden will, der macht einen einmonatigen „Besseki“-Kurs (Spezial-missionsschulung) mit. Nach neunmaligem Unterricht ist dann der „Staub“ so weit aus Seele und Geist beseitigt, daß man die göttliche Gabe der Heilkraft (durch Anhauchen oder Handauflegen) erhält. Mit ihr wird dann immer weiter die- Menschheit von Krankheit geheilt und befreit, bis die Epoche des ewigen Glückes auf Erden (das Paradies) beginnt.

Während ich durch Tenri wanderte, die Sporthochschule (mit einem herrlichen Schwimmstadion), die große Bibliothek der „High-School“ mit zahllosen Lexika und einer imposanten religionswissenschaftlichen Abteilung, in der sogar eine Bibelexegese in Blindenschrift stand, visitierte und mich vor den Regalen für Germanistik mit x-Goethe-Ausgaben wunderte, weshalb ausgerechnet der Faust-Kommentar von Rudolf Steiner hierher kam, fragte ich meinen Begleiter, wie denn die Wissenschafter, die hier eifrig am Werk waren, mit der Lehre der Tenri-kyo zurecht kämen. Gab es doch neben der fortlebenden, fortbadenden und fortessenden Stifterin noch folgendes handfestes Glaubensgut: Im Tempel ist ein Baumstumpf. Ihn hat Gott als Zeichen dafür gegeben, daß er iiier in Tenri das erste Menschenpaar erschaffen hat. Lieber diesem Stumpf ist das Dach ausgespart, damit man sehen könne, wann auf den Baumstumpf süßer Meltau fällt. Dann beginnt nämlich das glückliche Zeitalter.

Der intelligente Professor fand anscheinend meine Frage unverständlich. Hatte ich es doch als gefährlich bezeichnet, so konkrete Lehren zu proklamieren, die mit der Anthropologie nicht in Einklang zu bringen sind. Aber das störte ihn eigentlich nicht. Wie es überhaupt für den Japaner — und in weiterem Sinne für den Asiaten — nicht schwierig ist, Widersprüche von religiösem Glaubensgut und Erkenntnisse der Wissenschaft zu vereinen.

Was für die Tenri-Religion — die ich hier ausführlicher behandelt habe — gilt, das trifft bei fast allen neuen japanischen Religionen zu: sie finden starken Zulauf, weil in ihnen der Japaner ein Mittel sieht, von den Göttern einen materiellen Vorteil zu erhalten. Wenn es dann doch nicht klappt, dann muß er sich das selbst zuschreiben. Dann war er eben noch nicht innerlich „selbstlos“ genug und offen für die Gottheit. Das hindert aber Millionen andere nicht, für die Hoffnung auf Heil und Gesundheit oft beträchtliche Geldsummen zu opfern. Wieviel sich da ansammeln kann, zeigt ein Bericht aus dem Jahre 195 5: die Religionsgemeinschaft Sekai Meshiya-kyo hatte damals (vor allem durch Erbschaften) bereits ein Vermögen von insgesamt 2,5 Billionen Yen erworben!

Wer glaubt, daß sich diese Religionen untereinander bekämpfen, der irrt. Sie halten sich alle irgendwie für gleichwertig. Darum konnten sie sich 1952 sogar zu einer „Liga der neuen Religionen“ zusammenschließen, um einander in der Propaganda ihrer Lehren zu unterstützen. Als eine dieser neueren Religionen kürzlich ihren zwanzigsten Gründungstag feierte, konnte sie auf einen Mitgliederstand von 1,2 Millionen verweisen.

Diese neuen Religionen haben eine Vitalität, die die „klassischen“ Religionen glatt überrollt. Einige gehen bereits daran, Missionen im Ausland großzügig aufzubauen. Lassen wir jene außer acht, deren Gründer nichts anderes sind als Leute, die rasch ihre Taschen füllen wollen, so bleibt doch die ansehnliche Schar (insgesamt rund 15 Millionen) aktiv religiöser Japaner in diesen neuen Religionen. Manche der neuen Religionsstifter sind überragende Persönlichkeiten, einige verfügen über okkulte Kräfte, die begreiflicherweise die Gläubigen faszinieren. Und nicht wenige haben sogar christliches Gedankengut in ihre Lehren eingebaut.

Ein Missionär, dem ich nachher von meinem Tenri-Aufenthalt berichtete, sagte mir, daß nach seinen Informationen die Stifterin der Tenri-Religion an einem geheimen katholischen Katechumenenunterricht teilgenommen habe. Manches in ihrer „Offenbarung“ läßt zweifellos eine solche Auslegung zu. Aber dennoch kann man aus dieser „Teilverchristlichung“ so mancher der neuen japanischen Religionen nicht einen Vorteil ablesen. Denn, wie P. Prof. Schiffer, ein kompetenter Kenner dieser neuen Religionen, mir sagte: „Trotz aller Freundlichkeit und aller Toleranz den Vertretern des Christentums gegenüber sind diese Religionen die schärfsten Konkurrenten des Christentums in Japan; denn sie sind lebendige Religionen, was man von Buddhismus und Shinto nicht mehr sagen kann. Leben aber sinnt auf Kampf.“ Schluß in der nächsten Nummer: VON WAIKIKI BIS MANHATTAN

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