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Im Mountain House zu Caux

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Caux, oberhalb Montreux, auf steiler Höhe über dem blauen Spiegel des Genfer Sees gelegen, ringsum ein Kranz von Bergen in schneeleuchtender Pracht, war der Schauplatz der heurigen Weltkonferenz des MRA in der Schweiz vom Mai bis Oktober.

Was ist das — „MRA“? Angeregt von einem aus Schweizer Familie stammenden anglikanischen Geistlichen, Frank Buchmann, entstand bald nach dem ersten Weltkriege in Oxford, der alten englischen Universitätsstadt, die geistig-religiöse E r-neuerungsbewegung der „Oxford group s“, die rasch ihren Siegeszug über die Erde nahm. In allen Ländern, wo die Bewegung Anhänger gewann, bildeten sich „Oxford groups“, so auch insbesondere in der Schweiz und in Nordamerika. Den Gedanken der „sittlichen Wiederaufrüstung“, des „Moral Re-Armement“ (MRA) sprach Buchmann zum ersten Male aus, als er am 29. Mai 1938, da schon schwere Gewitterwolken den politischen Himmel bedeckten und der zweite Weltkrieg sich schon deutlich anzu-künden begann, gelegentlich einer von der Oxford group London in einem Londoner Arbeiterviertel abgehaltenen Versammlung des „Kreuzzuges“ der Oxford group-Bewegung als tiefere Ursache der hereinbrechenden politischen und wirtschaftlichen Weltkrise die „sittliche Krise d?r Menschheit“ bezeichnete. Gegen den sittlichen Verfall aber gäbe es nur eines, die „sittliche Wiederaufrüstung“, die ganze Menschheit, wenigstens die zum Christentum gehörige, versunken in Unglaube, Materialismus und Egoismus, in nationalen Haß und bedenkenlose Raffgier, müsse zum Glauben an Gott, zur Gottes- und Werktätigennächstenliebe, zu einem sittlichen Leben zurückfinden und auch die Völker und Nationen müssen an Stelle von Haß und Streit und grausamer Kriegführung wieder Gerechtigkeit, Frieden und Eintracht zur Norm ihres Handelns machen, wenn anders der drohende Krieg noch verhütet werden solle. Leider ließ sich dieses Ziel nicht mehr erreichen! .

Während sich die Oxford group-Bewegung mehr an den einzelnen Menschen wendet, ist es das MRA, das einen großzügigen Kreuzzug unternimmt, um durch Vorträge, Bücher, Schriften und Zeitungen, Versammlungen und Kongresse und vielleicht am wirkungsvollsten durch stille Arbeit von Mann zu Mann möglichst viele für diese Erneuerungsbewegung zu gewinnen. Anknüpfend an die Grundlehren des Christentums der Gottes- und Nächstenliebe stellt Buchmann für jedes Mitglied vier Hauptforderungen auf: absolute Ehrlichkeit, Reinheit, Selbstlosigkeit und Liebe. Das MRA soll und will keineswegs etwa eine neue Religion oder neue Kirche sein, ebensowenig ein Verein mit Mitgliederlisten und Beiträgen, es will vielmehr die Menschheit, welcher Religion, Sprache und Rasse immer, aufwecken, aufrütteln und an die längst vergessenen religiösen und sozialen Pflichten mahnen: der Katholik soll wieder überzeugungstreuer Katholik, der Protestant, der Angli-kaner ein tätigeres Mitglied seiner Kirche werden und bleiben. An jeden einzelnen, aber auch an jedes Volk ergeht der Ruf, die Eisrinde, die Egoismus und Materialismus um die Herzen gelegt haben, zu durchbrechen und Gerechtigkeit, Liebe und Frieden endlich zur Richtschnur ihres Handelns zu machen.

Das MRA geht von dem im stillen Gebet erflehten, in Betrachtung („quiet tarne“) errungenen persönlichen Gotteserlebnis aus. Zu Beginn jeden Tages und vor jeder wichtigen Entscheidung soll der Mensch einen Fingerzeig Gottes erbitten. Grundsätzlich soll, wie das MRA erstrebt, jede Arbeit, soweit sie einen größeren Kreis von Arbeitenden voraussetzt, in sogenannten „teams“ (Mannschaften) geleistet werden. Hiebei soll jedoch die Arbeit über Aufforderung des jeweils mit der verantwortlichen Führung des Teams betrauten Leiters unterbrochen werden und dem Gebet und einer kurzen stillen Betrachtung Raum geben. Dieses „quiet time“ mitten in der Arbeit spielt eine große Rolle im MRA; es erleichtert die Arbeit der Gruppe, da jeder Mitarbeiter seine Arbeit im Gedanken an seine Pflicht gegen Gott und den Nächsten zu verrichten hat, eine Hinordnung, die ihm helfen soll, die Arbeit planmäßiger und zielstrebiger zu gestalten.

Mit dem sittlichen Erneuerungswerk soll zunächst jeder bei sich selbst anfangen und dann für den Frieden in der eigenen Familie, in der Urzelle menschlicher Gemeinschaft, sorgen; bei jeder Meinungsverschiedenheit hat er sich zu fragen, wie weit er selbst die Schuld daran trägt, er soll nicht den anderen anklagen, doch auch nichts Unausgesprochenes zwischen sich und dem anderen Raum greifen lassen; trägt er selbst die Schuld, soll er sie sofort wieder gutmachen und Frieden und Versöhnung herbeiführen.

Als ich heuer im September Gelegenheit hatte, einer Einladung der Oxford group Schweiz zum Besuch des Kongresses des MRA in Caux zu folgen, konnte ich tiefe Eindrücke gewinnen, mit welch großem sittlichem Ernst diese Erneuerungsbewegung der Verwirklichung ihrer Ideen zustrebt und wie stark sie schon an der Formung ihrer Mitglieder zu wirken vermag. Uns empfingen am Bahnhof nicht Hoteldiener, sondern Mitglieder des MRA. Helfende Hände nahmen unsere Koffer ab und trugen sie in unser Zimmer.

Schon die erste Viertelstunde in dem schönen großen Heim der Schweizer Oxford group wurde zu einem seltsamen Erlebnis. In der großen Empfangshalle fanden wir Menschen vieler Nationen versammelt, die offenbar durch ein unsichtbares' Band zusammengehalten waren, denn, obwohl sich die wenigsten vorher gekannt hatten, herrschte in diesem Kreise eine Herzlichkeit des persönlichen Verhältnisses, die man nur unter seelisch einander Nahestehenden findet. Es brauchte nicht lange, um ganz deutlich gewahr zu werden, daß hier unter diesen Menschen aus dreißig Nationen und oft auch verschiedener Rasse eine brüderliche Gemeinschaft des Denkens und Strebens bestand, die Güte und Frohsinn ausstrahlte. Ich habe dann auch die ganzen zwölf Tage unseres Aufenthaltes in Caux auch nicht ein unwilliges oder verletzendes Wort vernommen.

Das von der Oxford group Schweiz erst kürzlich erworbene prächtige ehemalige „Palace Hotel C a u x“, in dem der Kongreß versammelt war, trägt jetzt den Namen „Mountain House“. Während es früher für ungefähr 200 Gäste und etwa 100 Bedienstete Raum bot, kann es jetzt 800 bis 900 Gäste aufnehmen; die Bediensteten kommen in Wegfall, denn die Gäste selbst sind es, die, in Arbeitsteams eingeteilt, alle -erforderliche Arbeit verrichten, die also selbst einkaufen, selbst kochen und abwaschen, die für den Küdienbetrieb erforderlichen Verrichtungen machen, Zimmer und Gänge sauber halten, das Büro, den Kassen- und Krankendienst und die Auskunftserteilung, den Pressedienst und die Buchhandlung besorgen. Dank der ausgezeichneten Organisation und dem einträchtigen Zusammenwirken aller Gäste arbeitet diese Riesenmaschine staunenswert gut. Dies war der zweite tiefe Eindruck, den wir in uns aufnahmen.

Die Tagesordnung war ungefähr folgende: Sofort nach dem Frühstück begibt sich jeder an den Arbeitsplatz des Teams, dem er zugeteilt wurde; dort wird bis gegen 11 Uhr fleißig gearbeitet, was aber einen auf das MRA sich beziehenden oder die privaten oder öfi entlichen Lebensverhältnisse des einzelnen betreffenden Gedankenaustausch nicht ausschließt. Um 11 Uhr vormittags beginnt das erste „Meeting“, das bis zum Mittagessen dauert. Nachmittags wieder Teamarbeit, bis um 4 Uhr der Tee gemeinsam eingenommen wird. Um 5 Uhr beginnt das zweite Meeting, das bis zum Abendessen dauert Kurz nachher findet fast täglich noch eine Theatervorstellung statt, wobei Stücke aufgeführt werden, die dem Gedankeninhalt des MRA entnommen sind; auch hier sind es ausschließlich die Gäste des Hauses die, nach erstaunlich rascher Vorbereitung, als Darsteller und Sänger auftreten.

Auch bei den anderen Teams konnte man beobachten, mit welcher einträchtiger Hingabe sich jung und alt, Angehörige der verschiedensten Stände, der gemeinsamen Arbeit widmeten. So erinnere ich mich, daß beim Gemüseputzen links von mir das Mitglied des englischen Oberhauses Lord A., rechts von mir ein belgischer Kohlengrubenarbeiter saß, sodann ein schwedischer Bischof, neben ihm die Gattin eines englischen Admirals, sodann ein finnischer Politiker, ein schwedischer Zahnarzt und ein Schweizer Pfarrer mit seiner Schwester.

Die Meetings fanden im großen Saale des Hotels statt, wo sich stets viele hundert Zuhörer versammelten, die den Ausführungen der Redner mit größter Aufmerksamkeit folgten. Das Organisations-Team, das Frank Buchmann ständig zur Seite steht, hatte vorher die Meldungen der einzelnen Redner entgegengenommen und das Sitzungsprogramm und die Rednerliste festgestellt. Eine Reihe ausgezeichneter Dolmetscher stand bereit, die Ausführungen in die englische und französische Sprache sofort, Satz für Satz, zu übersetzen. Der zum Wort gerufene Redner betrat das Podium und sprach stets frei. Den Vorträgen war immer wieder zu entnehmen, welch segensreiche Wirkung das MRA hatte. So kamen von England und Belgien Vertreter von Kohlengruben- und Fabrikarbeitern, die auf der Reise noch sich scharf gegensätzlich gegenüberstanden. Sie waren kaum kurze Zeit in Caux, als sie unter dem Einfluß des Geistes des MRA, also der gegenseitigen Liebe und des Friedens, der Abkehr vom Materialismus und Egoismus, auf der mittleren Linie eines gerechten, die verschiedenen Interessen berücksichtigenden Kollektivvertrages zusammenfanden. Als Redner sprachen Universitätsprofessoren, Politiker, englische Parlamentarier, Verwaltungsbeamte, Admirale und Generale, Männer der Wirtschaft und industrielle Arbeiter, Bischöfe und Priester. Während wir in Caux waren, kamen zwei Dominikaner aus Frankreich; vorher waren der Bischof von Frybourg, der Pariser Jesuitenpater B e r n a rd, Damen des Sacre-coeur Gäste des Hauses. Der katholische Dekanpfarrer M e s s e r s c hm i d t aus Kopenhagen hat sein Augenmerk besonders der Frage zugewendet, ob auch ein überzeugungstreuer Katholik Teilnehmet des MRA sein könne, und gelangte zu einer unbedenklichen Bejahung.

Ich möchte hier Stellung nehmen zu der mir aus katholischen Kreisen wiederholt gestellten Frage, ob wir Katholiken des MRA überhaupt bedürften? Demgegenüber ist zu betonen, daß wir vom Standpunkte der Lehre unserer Kirche und der uns danach obliegenden Verpflichtungen sicherlich des MRA nicht bedürfen; vielmehr sollen und wollen wir uns in aller Ruhe und Festigkeit dessen bewußt bleiben, daß wir Katholiken — nicht als unser Verdienst, sondern nur durch die Gnade Gottes —, uns eines unvergleichlichen Reichtums erfreuen, der uns in der das Erlösungswerk immer wieder erneuernden heiligen Messe, der häufigen Kommunion, dem Bußsakramente (auch das MRA sieht eine gewissenentlastende seelische Eröffnung, also ein Sündenbekenntnis gegenüber einem Freunde vor), in unserer uralten, so hochstehenden Liturgie, in unserer Kirchenmusik, in der Art des' Lesens der Heiligen Schrift als Text der heiligen Messe, ia dem von Christus selbst eingesetzten, die Kirche einheitlich führenden, in Glaube und Sitte — „dum ex cathedra loquitur“ — unfehlbaren Papsttum, in der Märien- “und Heiligen Verehrung geschenkt wurde. Dabei aber denken wir deshalb auch nicht einen Augenblick daran, auf die außerhalb der katholischen Kirche stehenden Brüder und Schwestern in Christo, die dem MRA angehören, wegen dieses unseres Reichtums etwa geringschätzig herabzusehen. Im Gegenteil! Sie alle, die ehrlichen Willens nach der Wahrheit streben und daher zum Königreiche Christi gehören, umfassen wir mit der gleichen herzlichen Liebe, mit der wir Katholiken uns untereinander lieben sollen, wir beten für sie und bewundern ihre oft so tiefe Frömmigkeit, ihren großen, starken Glauben, ihre vertrauensvolle Hingabe an die göttliche Führung, ihren Eifer für die Sache Gottes und, vor allem, ihre oft so staunenswert großzügige, werktätige Nächstenliebe und ihren unbeirrbaren Gerechtigkeitssinn. Aber wir bleiben uns ebenso dessen bewußt, daß das MRA, ganz auf den Grundsätzen des Urchristentums beruhend, nichts enthält, was nicht schon in unserm katholischen Glauben enthalten wäre. Nur sollen und wollen wir uns hie-bei auch dessen bewußt bleiben, daß wir Katholiken in menschlicher Unzulänglichkeit gar oft hinter dem „Soll“ unserer Pflichten, insbesondere der Nächstenliebe, zurückbleiben und daher des Weckrufes des MRA ebenso bedürftigsind wie nichtkatholische Anhänger des MRA.

Einer der wirkungsvollsten Redner war der katholische Abgeordnete der Labourpartei im englischen Unterhause, T e e 1 i n g, der unter anderem erwähnte, daß er vor kurzem an der Spitze eines 700 englische Katholiken zählenden Pilgerzuges nach Rom gekommen und von Papst Pius XII. in Privataudienz empfangen worden sei; als vom MRA die Rede war, sagte ihm der Heilige Vater, er sei über das MRA wohl informiert, beglückwünsche es zu seiner großen Wirksamkeit der sittlichen Erneuerung und Befriedung der Menschheit und bitte Gott, es zu segnen. Sehr interessant waren auch die Vorträge von aus Indien gekommenen Konferenzteilnehmern; Gandhi hatte eine Vertretung Indiens nach Caux entsendet; der indische Redner schilderte packend das schwere Ringen seines Landes um die Unabhängigkeit, gab aber auch die freimütige Erklärung ab, daß, wenn England heute Indien ganz sich selbst überließe, morgen ein furchtbarer Kampf aller Stämme, Völker und Religionen Indiens untereinander entbrennen würde, aus dem nur der Geist des MRA eine Rettung finden könne. Gleichzeitig lud er alle ein, die für das Jahr 1947 in Benares stattfindende Weltkonferenz des MRA zu besuchen.' Ebenso eindrucksvoll war auch die Äußerung des zur Friedenskonferenz in Paris entsendeten Vertreters Chinas, der zum Wochenende nach Caux gekommen war, wonach zwar in Paris vielleicht einige Friedensverträge für einzelne Staaten zustande kommen würden, den wahren, welterlösenden Frieden aber nur der Geist, der in Caux herrsche bewirken könne.

Eines Tages — und dies war der dritte, ganz große Eindruck für uns — trat ein junger belgischer Offizier ans Rednerpult und teilte in militärischer Kurze mit, sein Vater sei im ersten Weltkrieg durch deutsche Waffen getötet worden, sein Bruder im zweiten Weltkrieg dem deutschen Angriff zum Opfer gefallen und kurz darauf seien auch die Kinder seiner Schwester von deutschen Soldaten getötet worden; man werde es verstehen, daß ihn tiefer Haß gegen das deutsche Volk erfüllt habe. Doch unter dem Einfluß des Geistes von Caux habe sich sein Herz gewandelt, und er habe eingesehen, daß der Haß weder eine Lösung noch weniger den Frieden bringen könne, er bitte daher, daß Vertreter des deutschen Volkes, zu ihm lufs Podium kommen möchten; als sich iwei Tübinger Studenten zu hm begaben, reichte er ihnen die Hand “nit den Worten: „Ich bereue meinen Haß and will mich bemühen, in H nkunft das ieutsche Volk zu lieben.“ Hell jubelnde Begeisterung aller Zuhörer begrüßte diese heldenmütige Friedenstat.

Als wir anfangs Oktober wieder nach Österreich und in unser schwergeprüftes Wien zurückkehrten, da hatten wir den lindruck, aus einem Paradies der Liebe, des “riedens, der Reinheit und Schönheit gekommen zu sein. Auch wir haben in Caux lie Überzeugung gewonnen, daß die. Welt lur 'meh.r che Wahl hat' zwischen• AtofrYbombe, Bakterienkrieg und Untergang der Menschheit in Haß und Blut und Tod — oder dem Geiste der Versöhnung, der Liebe, des Friedens und der sittlichen Bes-fcrtlhg.

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