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Gespenster

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Wahrlich, es muß, soll die Menschheitskultur nicht in eine rückläufige. Bewegung geraten, auch solche Staaten geben, die die Brücke bilden von einer Nation zur andern.

Ignaz Seipel: Nation und Staat, 1916

21. November — o ihr Schauen, die ihr aufsteigt aus der Erinnerung an jenen düstern Novemberabend vor nunmehr dreißig Jahren, da vor den Gittern des Schön-brunner Schloßhofes eine Menge Volkes im kalten Nebel schweigend des Zeichens einer großen Wendung harrte! . .. Von Zeit zu Zeit wich sie widerwillig einem Auto aus, das aus der Stadt nach dem Schlosse hastete. Irgendwo schlug eine Kirchturmuhr die neunte Stunde. Die Wachen vor dem Schloß wurden eingezogen. Das Schloß schien in Schlaf zu sinken. Unschlüssig wogte die wartende Menge hin und her. . . Würde die Nacht so gleichmäßig dah'iiehen?.'.. Sollte man noch auf das Unbest mmte, das Gefürchtete in der frostigen Novembernacht warten?

... Da! Im ganze Schlosse flammen mit einem Mal die Kronleuchter auf! Was bedeutet es?

Es bedeutet, daß der hinge Kaiser sein ersten Audienzen erteilte, nachdem sein 86jähr'ger Großoheim, Träger der Krone seit 68 Jahren, seinen letzten Seufzer ausgehaucht hatte.

Nun war es also geschehen. Nur langsam zerstreuten sich die Menschen, ihren Heimen zustrebend, ihre Meinungen über das Ereignis austauschend, gedrückt, sorgenvoll. Ein schwerer Krieg lastete das dritte Jahr auf dem Volke. Not, Hunger und Sorge ““'hagten' an seinem Mark.' Wie “softte das Ende kommen? Man kämpfe um das Reich. Das Reich? Er war noch das Reich. Er, der jetzt auf dem Totenbett lag.Sind es wirklich erst 30 Jahre her? Und in dieser kurzen Zeitspanne hat es noch einen zweiten und furchtbareren Krieg gegeben, verloren Tschechen und Ungarn noch einmal ihre Selbständigkeit, wurden Rumänien und Jugoslawien vergewaltigt, wurde Österreich auf der politischen Landkarte ausgelöscht, haben die Heerhaufen des Hakenkreuzes die blühenden Täler Mittel-und Sü iosteuror\s zerstampft und ausge-plün : rt, wurde in diesem Räume, wo einst das Hibshurgerre'ch elf Nationen unter seinem Dach vereint hatte, eine neue S.iat des nationa'en Hasses ausgestreut, verfiel noch einmal jede wirtschaftliche Ordnung einer Zerrüttung von Grund auf, sind noch einmal alle Dämonen der Gewalt, Empörung und Rache entfesselt worden.

Wir wissen wohl, daß wir inmitten einer ungeheuren Revolution stehen, deren Bedeutung wir nur erahnen, und noch nicht in ihrer dunklen .Schwere zu erfassen imstande sind. Es lag auch nicht innerhalb menschlichen Vermögens, dieses Schicksal, das uns nun mit Sturmgewalt dahintreibt, aufzuhalten oder abzuwenden, soweit es die mitteleuropäische Ordnung zerstört hat. Und kein ernster Politiker wird sich heute mit dem Gedanken beschäftigen, ob das Rad der Geschichte hier nicht zurückgedreht werden könnte. Dennoch wagen wir zu behaupten, daß in der sieben Jahren von 1938 bis 1945 unter allen Völkern, die ehemals zui Donaumonarchie gehört hatten, manche Vergleiche zwisdien Gegenwart und Vergangenheit gezogen worden sind, die zugunsten jenes vordem oft umsTittenen Reiches mit seinen viel verlästerten Zuständen ausfie'en. Freilich, während der zweiten Hälfte der Reg'erung des Ka.sers Franz Joseph hatten s:ch die zentrifugalen Kräfte im Reiche unaufhörlich in solchem Maße in den Vordergrund gedrängt, daß es um die Jahrhundertwende selbst in der hohen Beamtenschaft geradezu als Beweis kühlen Tatsachensinnes galt, der Zusammenhalt des Reiches mit der Leben; dauer des alten Herrschers zu idenrifizierer Zwar haben sich dann noch einmal, als sie! die Dinge sdion ?u überstürzen begannen entschlossene atmänner — ein lueger ein Aehrenthal — gegen diesen Skeptizismusaufgelehnt, der den kunstvollen Bau von innen her zerfraß und haben noch einmal einen guten Teil des Staatsvolkes mit Hoffnung und Vertrauen beseelt. Aber mit dem Tode dieser Paladine Österreichs gewann die Destruktion neue Gewalt. Es wurde schließlich zur öffentlichen Meinung, daß nur der greise Herr in Schönbrunn noch das alte Reich durch sein persönliches Ansehen zusammenhalte. Er war gleichsam das Symbol der überlieferten und durch die Oberlieferung legitimieren Ordnung geblieben.

Deshalb geschieht es nur, daß wir uns heute des 21. Novembers 1916 erinnern. Und dann zerfiel die alte Ordnung. Es erhoben sich eindringliche, warnende Stimmen, mit dem Sturze der Habsburger und der Beseitigung übera'teter Zustände nicht auch die Grundlagen einer natürlichen Ordnung zu zerstören. Sie vermochten in dem damaligen Freiheitsrausche ebensowenig Gehör zu finden, wie nachhinkende matte Ratschläge der Pariser Friedenskonferenz. Auch als der Reif der w'r-xhaftlichen Kalamitäten auf die Blüte der iungen nationalen Unabhängigkeiten gefallen war und der Streit um die Mindrheitenrechte die Glorie des Freiheitsprinzips da und dort zu trüben beginn, hielt zwischen den Nachfolgestaaten die Scheu vor jeder Annäherung, die auch nur entfernt nach einer Rekonstruktion des Vergangenen hätte auwhen können* ai Ansaat zu einer vernünftigen Verständigung weiterhin nieder. Es war das Gespenst der „Restauration“, das- diesen psychopathischen Terror ausübte. Ja selbst als die durch die blutige Vesper Hitlers vom 30. Juni 1934 und den bald darauffolgenden Wiener Juliputsch offenkundig gewordene Gewalttätigkeit des Nazismus schon ihre drohenden Schatten über das ganze Donaubecken vorauswarf, wurde noch von eminenter tschechischer Seite proklamiert, zwischen Restauration und Anschluß ziehe man den Anschluß vor.

Wie nahe läge doch damals der Gedanke eines SchutzbiinHn sses zwischen den Donaustaaten gegen die Angriffspläne des Hitlerismus! Was hatte ein solcher Gedanke mit monarchistischer Restauration zu tun! Doch selbst Palackvs Erkenntnis der Intcressen-geme'nschaft der Völker in dem früher Österreich benannten Räume mußte aus doktrinärer Verfemung d~s Namens und Begriffes Österreich unter allen Umständen in den Wind geschlagen werden. Allerdings stand auch das „nem, nem, soha“ der Magyaren jeder Vernunft im Wege.

Seither ist das Gespenst der Restauration aus den geängstigten Traumgebilden junger Republiken geschwunden. Aber an seiner Stelle sind zwei andere Schemen erschienen. Die Furcht vor dem Bolschewismus und ihr Reflex: die Angst, in den Verdacht moskaufein dl eher Haltung zu kommen. Niemand wird bestreuen wollen, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse die Donaustaaten einchhißhch der “I*schschos!owakei heute mit noch weitaui stärkeren Argumenten als in Jer Epoche 1919 bis 1938 auf Verständigung md Zusammenarbeit hindrängen. Aber es ;chieht nidus, was dieser Notwendigkeit Rechnung trüge. Es ist wieder so, als würde der Basiliskenblick eines unabwendbaren chidsals die Reg:erungen lähmen. Die einen irchten, ein Zusammenschluß würde der ussischer Hegemonie Vorschuh leisten, die mderen besorgen, er könnte als Versuch ?ines Sdiutzwalles gegen den Bolschewismus den Unwillen Moskaus erregen. Wie halten beides — wie das von anderer Feder an dieser Stelle schon dargelegt wurde — für Gespensterangst.

Dieser Ansicht scheint nun auch der ungarische stellvertretende Ministerpräsident Ar-pad Szakasits zu sein, der als Teilnehmer an der internationalen Sozialistenkonferenz in Bournemouth in einer Unterredung mit einem Vertreter von United Preß mitgeteilt hat, die sozialdemokratische Partei Ungarns habe die sozialistischen Parteien aller Staaten des Donauraumes nach Budapest zu einer Konferenz eingeladen, deren erstes Ziel eine gemeinsame sozialistische Politik dieser Staaten sei. Nach der Erklärung Szakasits' soll diese Konferenz den Weg ebnen für eine offizielle Besprechung von Repräsentanten der Regierungen, damit durch eine eingehende Erörterung der Handels- und Zollprobleme ein gemeinsamer Produktionsplan ins Leben gerufen und jede unnötige Konkurrenz zwischen den Ländern des Donauraumes ausgeschaltet werde. „Es ist meine feste Hoffnung“, fügte der ungarische Staatslenker hinzu, „daß eine enge politische Zusammenarbeit, die für die Donaustaaten lebensnotwendig ist, der wirtschaftlichen auf dem Fuße folgen wird.“

Das ist einmal ein weißer Rabe seiner Nation, ein Ungar, der aus der Geschichte gelernt hat. Er sei auf das herzlichste begrüßt. Möge ihm Erfolg beschieden sein! Es ist wahrlich nicht die Stunde, in der man einen mutigen Mann, der über seinen nationalen Köhlgarten hinausblickt und in einem größeren Interesse etwas Vernünftiges unternehmen will, erst argwöhnisch nach seinem politischen Paß fragen müßte. Da trete ihm niemand in den Weg mit dem kleinmütigen Einwand: ..Herr, wollen Sie uns vielleicht mit irgend einer gewissen Doktrin anstecken?“ Ansteckend ist heute nur das Elend. Und das Elend ist das letzte, das die soziale Umwälzung aufhalten wird. Man nehme doch die Weltkarte her: da sind die großen Reiche, die die verschiedensten Völker beherbergen, das russische, das britische, das amerikanische, und hier zwischen Riesen-gebirg und Donaumündung ein Haufe ineinander verschlungener kleinerer Völker, von denen doch jedermann, der unvorein-' genommen zum erstenmal sich diese Karte besähe, annehmen müßte, daß sie irgendeine Gemeinschaft bildeten, um neben den großen Reichen in der Welt, halbwegs bestehen zu können. Doch nein! Das wäre ja nach der Auffassung mancher Wortführer aus der Mitte dieser Völklein Hochverrat! Da ruft ein jedes stolz: „Seht nur, zu soldier Freiheit bin ich aufgestiegen, zu solcher Selbständigkeit und souveräner Tugend, ich, hoch auf dem Schwengel, das goldene Zünglein der Weltwaage, o sehet mich!“ Ja, und wenn es drauf und dran kommt, müssen doch die großen Mächte jahrelang einen mörderischen Krieg führen, um diese Zünglein der Weltwaage wieder aus einer bösen Melange herauszufischen!

Leider sind wir durchaus nicht sicher, daß die. kleinen politischen Buchhalter Mitteleuropas, die bei jedem Unionsvorschlag einige Prozente Vorteil für den verhaßten Nachbar heraustüfteln und dann gleich die Phalanx hrer nationalen Presse gegen die Verständigung aufmarschieren lassen, dieses letzte Strafgericht nicht . doch überlebt haben. Übrigens sind sie vielleicht heute nach all den Erfahrungen der letzten Jahre schon etwas weniger gefährlich als gewisse Intellektuelle, die nun voll von allerlei Ismen stecken und uns einreden wollen, das künftige Gesicht der Welt werde sich zwischen Kagran und Komorn entscheiden. Wovon unser aller Zukunft wirklich abh'ingt. Oic Zukunft dieser und der nächsten Generation im nähern Umkreis und im weitern Europas, das ist die Einkehr von Ordnung und Arbeit, Vernunfr und Menschlichkeit in den Don'auraum Daran sind alle hier lebenden Völker in gleicher Weise, ihrer wahren Freiheit halber, interessiert, und dieses gemeinsame Interesse ringt nach einem sichtbaren Ausdruck.

Wir haben jüngst an dieser Stelle, an läßlich eines Vorschlages des Generalsekretär? der Vereinten Nationen, die Einigung dei mitteleuropäischen Regierungen auf eine gemeinsame Charta der Menschenrechte angeregt. Nun tritt der ungarische stellvertretende Ministerpräsident mit einem ähnlichen Gedanken hervor. Es ist gleichgültig, womit die Verständigung begonnen wird. Es muß nur endlich mit ihr ein Anfang gemacht werden. Es ist höchste Zeit.

„Hintei Österreich liegt eine Vergangenheit voll Ruhm und voll eines reinen Ruhmes; denn Österreich hat gekämpft, um Völker zu verteidigen und zu befreien, nicht aber um sie an den blutbesprengten Siegeswagen der Eroberung zu ketten. Zugleich mit diesen Erinnerungen wird die Hoffnung auf die Zukunft und Gottes Hilfe mächtig gestärkt, und so oft das Herrenhaus die Gelegenheit ergreift, um sterreichs Vergangenheit zu ehren, läßt es den belebenden Ruf ergehen: Mut, Österreich! Mut, noch ist dein Wahlspruch nicht ausgelöscht1.“

Jose* Ofhmar Kardinal Rauscher,' Rede im österr. Herrenhaus am 7. Jänner 1864

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