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An der Klippe Europas

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Der südafrikanische Premierminister Smuts ist sicherlich einer der klügsten Köpfe des britischen Empires, ein Staatsmann ' mit unleugbarem Weitblick und bemerkenswerter Unvoreingenommenheit, aber das Wort „Westblock“, das er in einer sonst erkenntnisreichen Rede im Herbst 1943 zum ersten Mai- gebrauchte, hat sich seither als eine hödist i unglückliche politische Formel erwiesen. Da sie im Zusammenhang mit vorausblickenden Ausführungen über die künftige Machtstellung Rußlands vorkam, wurde sie in Moskau vom ersten Augenblick an in antirussischem Sinne verstanden. Das dadurch geweckte Mißtrauen ist bis auf den heutigen Tag nicht mehr geschwunden, wenn es auch englische und amerikanische Staatsmänner an gelegentlichen Bemühungen, es zu zerstreuen, inzwischen nicht haben fehlen lassen. Der verhängnisvolle Eindruck, den jene Smuts'sche Äußerung in den politischen Kreisen Rußlands hervorrief, wurde noch durch den ungefähr um die gleiche Zeit viel beachteten Vorschlag einer „Atlantic Community“, einer Gemeinschaft aller Küstenstaaten des Atlantischen Ozeans, verstärkt, der sich in dem Buche „U. S. Foreign Policy: Shield of the Republic“ des bekannten amerikanischen Publizisten Walter Lippmann vorfand. Nach solchen rednerischen und publizistisdien Auspizien ging der Krieg mit dem Wettlauf zwischen den russischen und britisch-amerikanischen Heeressäulen nach den mitteleuropäischen Schlüsselpositionen' zu Ende. Das Ergebnis dieses Wettlaufs war die Aufteilung Deutschlands und Österreichs in Besatzungszonen. Das war eine schwerwiegende Entscheidung. Eine gemeinsame gemischte Besetzung hätte wohl mancherlei Sdiwierigkeiten mit sich gebracht, jedoch vom europäischen Standpunkt ein wertvolles politisches Prinzip gewahrt. Von der Besatzungszone zur Einflußsphäre ist nicht einmal ein Schritt, so lange machtpolitische Überlegungen die einvernehmliche Planung eines nach Osten und Westen gleich unabhängigen Europas nicht aufkommen lassen.

Den viel berufenen Beschlüssen der Potsdamer Konferenz (17. Juli bis 2. August 1945) kann man, wenigstens was Deutschland betrifft, einige Ansätze zu einem solchen Plane nicht ganz absprechen. In dem „Deutschland“ überschriebenen Abschnitt des Potsdamer Protokolls heißt es im Punkt 14: „Während der Dauer der Besetzung wird Deutschland als ein einheitliches wirtschaftliches Ganzes behandelt werden.“ Anschließend daran werden sieben Gebiete aufgezählt, auf denen „zur Erreichung dieses Zieles eine einheitliche Politik eingeschlagen werden wird.“ Der amerikanische StaatsSekretär Byrnes Kat kürzlich' 3ie praktische Durchführung dieser Bestimmung der Potsdamer Beschlüsse durch Vereinigung aller Besatzungszonen zu einer wirtschaftlichen Einheit vorgeschlagen. Das Londoner Außenaalt gab am 29. Juli bekannt, Großbritannien sei grundsätzlich' bereit, diesen Vorschlag anzunehmen. Die russische „Prawda“ widersprach gleichzeitig dem amerikanischen Plan. Der Beitritt Großbritanniens zu dem amerikanischen Vorschlag ist jedoch ein Ereignis, das die Pariser Konferenz in Schatten stellt. Diese — vielleicht nicht hinreichend vorbereitete — Konferenz, welcher der englische Außenminister Bevin in seiner letzten Unterhausrede vor seiner plötzlichen Erkrankung den Charakter einer Friedenskonferenz abgesprochen hat und die sicherlich bestenfalls eine Vorfriedenskonferenz genannt werden kann, hat also ihre Arbeiten unter Umständen begonnen, die einige Skepsis hinsichtlich ihres weiteren Verlaufes berechtigt erscheinen lassen.

In den fünfzehn Monaten, die zwischen der Einstellung der Feindseligkeiten in Europa und dem Zusammentritt der Pariser Konferenz liegen, ist nicht nur jeder Versuch eines organischen Wiederaufbaues Europas unterlassen worden, sondern man forderte geradezu eine Entwicklung, an. deren Ende der vollständige Zerfall des Festlandes als eines aktiven politischen Subjektes stehen müßte. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Alliierten von irgendeinem klaren Konzept einer Lösung des deutschen Problems, geschweige denn von einem Einvernehmen darüber, weiter denn je entfernt sind.

Ohne eine einvernehmliche Lösung des deutschen Problems gibt es aber überhaupt keine Möglichkeit einer dauernden Befriedung Europas.

Was der gegenwärtigen tragischen Situation Europas einen herben Zug gibt, ist die Tatsache, daß heute auf dem Festlande kein Staat die hinlängliche innere Stärke besitzt, eine selbständige, nach Westen wie nach Osten gleich unabhängige, rein europäische Politik zu machen, daß das, was bis in die Anfänge unseres Jahrhunderts das große Europa, das Herz der Welt war, zum Objekt der Politik herabgesunken., ist und daß jede Form einer europäischen Rekonstruktion ausschließlich oder fast ausschließlich von dem guten Willen der führenden Weltmächte abhängt. Wir erwarten nichts von einer Ehrfurcht vor dem geistigen Erbe, das der Begriff Europa umfaßt, nichts von jener Ergriffenheit, mit der sich Iwan Karamasoff bei Antritt einer europäischen Reise von seinem Bruder Aljoscha verabschiedete: „Ich weiß es ja, daß ich auf einen Friedhof fahre, aber auf den teuersten, allerteuersten Friedhof, das weiß ich auch. Teuere Tote liegen dort begraben, jeder Stein über ihnen redet von einem so heißen vergangenen Leben, von so leidenschaftlichem Glauben an die vollbrachten eigenen Taten, an die eigene Wahrheit, an den eigenen Kampf und die eigene Erkenntnis, daß ich, ich weiß es im voraus, zur Erde niederfallen, diese Steine küssen und über ihnen weinen werde.“ Die Nachfahren Iwan Karamasoffs lernten Europa am Ende eines langen und harten Krieges kennen, in dessen Verlauf ihre eigene Heimat von einer Armee, die sich anmaßte, die europäische Kultur zu verteidigen, die barbarischesten aller Grausamkeiten erlitten hatte. Auch müssen wir uns freimütig fragen, ob sich denn die soziale und geistige Entwicklung der großen Nationen, die heute die Welt beherrschen, in einem genügend bedeutsamen Zusammenhang mit dem befindet, was wir europäische Kultur nennen. Ein deutscher Geschichtsphilosoph hat ja schon bald nach dem ersten Weltkrieg dieser ganzen abendländischen Kultur eine lange Grabrede geschrieben, und heute sind die Völker dieses hartgeprüften Festlandes so müde aller Politik, wie es in der Geschichte nur die Griechen nach der Schlacht von Pydna waren.

Aber es gibt trotz alledem noch ein Argument ganz realpolitischer Art, das noch in letzter Stunde zugunsten einer Rückkehr zu einer in sich geschlossenen europäischen Ordnung wirken könnte, vorausgesetzt allerdings, daß die herrschenden machtpolitischen Tendenzen irgendwo an dem Wunsche, den Frieden zu sichern und einem neuen, in seinen letzten Folgen unabsehbaren Krieg auszuweichen, ihre Grenzen finden. In dieser Voraussetzung ist vor allem auch derrest-lose Verzicht af den sogenannten „Westblock“ oder auf die Idee einer „Atlantic Community“ eingeschlossen. Der Plan eines „Westblocks“ bildete 3en ersten Anstoß zu der nun schon gefährlich weit vorgeschrittenen Aufspaltung Europas in zwei große Einflußsphären, die früher oder später zu einem Konflikt führen müßte. Noch in der letzten Phase des Krieges hat sich die öffentliche Meinung Großbritanniens mit Entschiedenheit gegen eine solche Politik ausgesprochen. Wir erinnern uns insbesondere einiger Artikel der „Times“, die sich nachdrücklich für die Erhaltung Europas als einer in sich geschlossenen Machtsphäre einsetzten. So schrieb dieses Organ am 29. Februar 1944 in einem Leitaufsatz unter dem Titel: „Policies for Europe“:

„Auf längere Zeit hinaus und auf der Waagschäle eines größeren Verständnisses ist die Einigung Europas, bei der Großbritannien sowohl wie Rußland unmittelbar beteiligt sind, ebenso ein russisches wie ein britisches oder ein amerikanisches Interesse. Weder Großbritannien noch Rußland kann es sich leisten, diesen heilsamen und unvermeidlichen Prozeß zu hindern oder sich einer Beteiligung an ihm zu enthalten, denn er ist die einzige Garantie der Sicherheit und die einzige Hoffnung für die Zukunft Europas, mit der auch die Wohlfahrt Großbritanniens und Rußlands auf gleiche Weise verknüpft ist. Eingewurzelte Interessen an dem alten exklusiven und wechselseitlg destruktiven Nationalismus der Vergangenheit bleiben, das ist kein Zweifel, erst zu überwinden. Aber es gibt in Europa Kräfte, die begierig einer vernunftigeren und weitsichtigeren Führung entgegenkommen werden, wenn und sobald das Zeichen gegeben wird.“ Der Aufbau einer europäischen Gemeinschaft begegnet heute bei dem neu aufgepeitschten Nationalismus, bei der tiefgehenden Zerstörung des politischen Kräftegleichgewichtes und bei der Forderung nach einer langjährigen Kofitrolle der deutschen Zustände gewiß den größten Schwierigkeiten. Dennoch müßte keine unüberwindlich sein, wenn die Bedeutung einer solchen Gemeinschaft als eines ausgleichenden Fak'tors zwischen den Weltmächten in Moskau und in London voll ermessen würde. Die Not in einem großen Teile des europäischen Festlandes ist so ungeheuer, die Gefahr der Stunde so erschreckend, die der Besinnung noch verbleibende Frist so fragwürdig, daß nur ein kühner Entschluß, der auf dem unerschütterlichen Glauben selbst an das scheinbar Aussichtslose beruht, ein Unheil von unabsehbarem Ausmaß noch abzuwenden vermag. Zwar ist der einst so stolze europäische Geist bis in den Staub herabgedrückt, zwar schafft die soziale Unrast einen Zustano* allgemeiner Garung, der einem großen konstruktiven Werte mit den notwendigen Angleichungen nicht günstig erscheint, zwar hat der politische Niedergang dieses zu Tode gemarterten Erdteiles nicht nur viele seiner Staatsmänner entmutigt, sondern auch die junge, aus dem Grauen der Schlachten heimkehrende Generation mit Skepsis erfüllt — dennoch würde wohl, wenn auf der Pariser Konferenz etwa ein französischer, ein tschechischer oder ein italienischer Staatsmann das magische Wort fände, an dem sich das europäische Gemeinschaftsbewußtsein entzünden könnte, der tote Lazarus Europa wieder dem Grabe entsteigen mögen. Das Einvernehmen und die tätige Mitwirkung Rußlands und Englands bleiben selbstverständlich dabei die unentbehrliche Voraussetzung. In der Hand dieser beiden Regierungen liegt heute die Möglichkeit, ein großes Werk des Friedens und der Gesittung zu schaffen, wenn sie unter Verzicht auf alles, was Machtpolitik ihnen ab augenblicklichen Vorteil erscheinen läßt, ihre Bemühungen zur Verwirklichung eines unabhängigen europäischen Festlandes vereinigen. Kann es übrigens aufgeklärten Staatsmännern zweifelhaft sein, daß jene beiden Mächte selbst in weiterer Zukunft von dem Bestände eines solchen Europa nur den größten Nutzen ziehen würden?

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