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Auf den Frühling folgt der Sommer

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Während meines jüngsten Aufenthaltes in Wien nieselte es; ein feiner Regen tauchte die Stadt in einen bläulichen Dunst, der die Perspektiven der Donaumetropole verzerrte. Dennoch schien mir diese Stadt merkwürdig nahe, die ich nach neun Jahren zum ersten Male wieder betrat. Denn das heutige Wien vereinigt in sich die Atmosphäre zweier polnischer Städte, die der alten königlichen Residenz Krakau mit ihren zahlreichen historischen Denkmälern, des Sitzes der ältesten Alma mater Polens — der jagelloni- schen Universität —, und die des von der Kriegsfurie grausam gezeichneten und dennoch so lebensvollen Warschau. Zwar sind bei uns die Kraftfahrzeuge und die Neonlichter weniger zahlreich, die dem Antlitz einer modernen Stadt ein so charakteristisches Gepräge verleihen, doch übt Warschau gleich Wien einen beherrschenden Einfluß auf die politische und kulturelle Eigenart des gesamten Landes aus.

Verschiedene Wege ging in den letzten Jahren die Entwicklung unserer beiden Länder. Oesterreich war zehn Jahre lang von den Truppen der vier Mächte besetzt, die das Dritte Reich bezwungen hatten. Dank der Initiative der Sowjetunion — es lohnt sich, heute auf diesen Umstand hinzuweisen — kam es am 15. Mai 1955 zur Unterzeichnung des Staatsvertrages, der es Oesterreich gestattete, in das neue, hoffnungsvolle Dasein eines souveränen, seine Politik auf die Grundsätze der Neutralitätserklärung stützenden Staatswesens einzutreten.

Eine andere Richtung schlug das polnische Volk ein, das sich nach der Befreiung von der nazistischen Besetzung entschloß, mit der in ihren Folgen tragischen Vergangenheit zu brechen und das entschieden den Pfad des sozialistischen Aufbaues beschritt. Obzwar jedoch die Entwicklung unserer beiden Länder einen verschiedenen Lauf nahm, obzwar ihre Regierungsformen voneinander abweichen, sind doch die Aufgaben, vor denen unsere Völker stehen, ähnlich. Diese Aufgaben lassen sich zurückführen auf einen unablässigen, hartnäckigen Kampf um die Erhaltung des Friedens, auf ein Wirken zugunsten des Nachlassens der internationalen Spannungen, zugunsten der Normalisierung des Verhältnisses zwischen Ost und West, im Interesse der Bewohner nicht nur Mitteleuropas, nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt.

Welche Schritte dienen am besten der Erreichung dieses Zieles? Vor allem heißt es, einander näher kennenzulernen, einander besser zu verstehen. In dieser Hinsicht hat Polen vieles getan, und zwar auf politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet, ebenso wie auf denen des Fremdenverkehrs und der Erleichterungen für Einzelauslandsreisen. Im Laufe der letzten Monate sind Tausende von Menschen nach Polen gefahren oder aus Polen ausgereist, sei es als Touristen, sei es, um ihre Angehörigen zu besuchen. Wobei die polnische Regierung — entgegen den Behauptungen einzelner westlicher Publizisten — keinerlei Diskriminierung kennt und keinerlei politischen Schlüssel an wendet; das einzige Hindernis auf dem Wege zu einer noch weiter gehenden Verwirklichung dieser Politik bilden die Devisenschwierigkeiten (für die Ausländer besserte sich die Lage durch die Aen- derung der Devisenkurse). Ja noch mehr; die polnische Regierung stellte wiedtrholt fest, daß sie bereit sei, sämtliche auf eine Lockerung der Visumvorschriften hinzielenden konkreten Vorschläge zu prüfen; im Verhältnis zu einigen Staaten erreichte man bereits eine Milderung dieser Vorschriften, und im Verkehr mit den sozialistischen Ländern wurden Visa und Reisepässe überhaupt abgeschafft.

Hier möchte ich einen für die Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen äußerst wichtigen Umstand erwähnen: die Frage des Güteraustausches. Die derzeit bestehenden und in der Praxis von den Ländern des Westens angewandten Vorschriften und Einschränkungen im Warenverkehr bilden ein beredtes Beispiel für einseitige Benachteiligung einer bestimmten Gruppe von Staaten durch eine andere Staatengruppe. Gerade das völlige Fortfallen der Handelsbeschränkungen, eine allseitige Entfaltung des Güteraustausches trügen in starkem Maße zur Entspannung im politischen Verhältnis zwischen Ost und West bei.

Die Aufhebung der Hindernisse und Einschränkungen im zwischenstaatlichen Handel; ausgedehnte kulturelle Wechselbeziehungen; freier Austausch von Gedanken und Meinungen; ernsthafte, doch jeder Aggressivität bare Gespräche von Vertretern unterschiedlicher Schulen und Richtungen; Maßnahmen, um der gesamten Menschheit wissenschaftliche und technische Leistungen zugänglich zu machen, die heute vielfach wohlbehütete Staatsgeheimnisse bilden; möglichst weitgehende Kontakte zwischen Menschen verschiedener Länder und Lebenskreise: das also führt zur internationalen Entspannung, zur Ueberwindung des bestehenden und nur allzu häufig ganz unbegründeten Mißtrauens, der Mißgunst, ja der Feindschaft zwischen den Völkern.

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß wir im vergangenen Zeitabschnitt allzu oft gemäß einem vereinfachten Schema vorgingen und die eine Hälfte der Welt nur in schwarzen, die andere hingegen nur in rosigen Farben malten. Leider müssen wir, wenn- wir mit den alten Schemata brechen, die peinliche Feststellung machen, daß sich dieser Vorgang im Westen; allgemein gesprochen, unvergleichlich langsamer und schwieriger vollzieht als im Osten. Dennoch gewinnt die Ueberzeugung immer mehr an Klarheit, wonach der von einigen als Vorspiel zum heißen betrachtete kalte Krieg den Auftakt zur totalen Vernichtung deT Menschheit bilden würde. Beim heutigen Stand der Kriegstechnik und wenn man von der Annahme des Gleichgewichts der Kräfte beider Weltmächte — der UdSSR und der USA — ausgeht, brächte ein neuer Krieg ein Hiroshima globalen Ausmaßes. Deshalb müssen wir einander verstehen, müssen wir die Liquidierung der derzeit bestehenden internationalen Spannung herbeiführen.

Nach der Genfer Konferenz der Großen Vier wurde die Welt von einer Welle des Optimismus erfaßt. Millionen Menschen atmeten erleichtert auf. Es schien, als hätten die Grundsätze der friedlichen Koexistenz gesiegt, als sollte es gelingen, das Gleichgewicht zwischen beiden Teilen der Welt ohne Millionenheere und Massenerzeugung nuklearer Waffen zu erhalten. Damals entstand der Gedanke einer neutralen Zone beziehungsweise einer Zone beschränkter Rüstungen, um die Fronten der beiden bestehenden militärischen Blöcke voneinander zu trennen. Da im gegenwärtigen Augenblick keine reale Möglichkeit zur Schaffung eines Gürtels neutraler Staaten im Herzen Europas besteht, würde die Errichtung einer Zone beschränkter Rüstungen den ersten Schritt auf dem Wege zur Abschwächung der internationalen Spannungen bedeuten, wobei durch die Schaffung einer derartigen Zone die Möglichkeit einer praktischen Erprobung des Systems gemeinsamer Kontrolle geboten würde und dies einen ersten Baustein zur Errichtung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems bildete.

Der vom österreichischen Bundeskanzler Raab aufgestellte Vorschlag einer Neutralisierung Ungarns erscheint uns nicht verwirklichbar. Eine Neutralisierung Ungarns und die Zurückziehung der sowjetischen Streitkräfte aus diesem Lande wäre nur im Rahmen eines ausgedehnteren Konzeots möglich, das eine größere Anzahl ost-, mittel- und westeuropäischer Staaten umfaßte. Im Interesse des ungarischen wie des polnischen Volkes liegt nicht der Austritt aus dem Warschauer Paktsvstem, sondern die völlige Abschaffung dieses Abkommens. Die Bedingungen hierfür sind völlig real und wurden bereits mehrmals näher umschrieben. Es hängt dies von der Liquidierung der NATO ab und vom Abschluß eines gesamteuropäischen Sicherheitspaktes. Solange dies jedoch nicht erfolgt, solange die Truppen der Westmächte auf dem Gebiete Deutschlands verharren und in Westeuropa amerikanische Stützpunkte bestehen, ist die Stationierung sowjetischer Heereseinheiten auf polnischem Gebiet als zweckmäßig anzuerkennen. So will es die Sicherheit Europas, so will es vor allem die polnische Staatsräson. Der Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt hätte aber eine objektive Schwächung sämtlicher Positionen aller zu diesem Abkommen gehörenden Staaten zur Folge.

Indem es den Plan zur Errichtung einer Zone beschränkter Rüstungen unterstützt, gehorcht Polen dem eigenen nationalen Interesse. Denn die Einschränkung der Rüstungen würde es uns gestatten, beträchtliche finanzielle Aufwendungen für mit dem Ausbau der Wirtschaft unseres Landes verbundene Zwecke freizumachen und die Rüstungsindustrie in steigendem Maße auf Produktion für friedliche Zwecke umzustellen. Im Interesse Polens liegt ebenfalls die Zurückziehung sämtlicher fremder Heere aus Deutschland, bei gleichzeitiger Garantie der polnischen Westgrenze. Dies würde nicht nur zur Aufhebung der fremden militärischen Stützpunkte in ganz Deutschland führen, sondern auch Grundlage dafür sein, der Teilung Deutschlands ein Ende zu setzen.

Es gilt, die derzeitige Teilung Deutschlands als eine Quelle ernster Sorgen für Europa festzustellen. Die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands obliegt in erster Linie den vier Großmächten, doch ist es absolut unmöglich, die von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland vorgebrachte und von vielen westlichen Publizisten unterstützte These von der „Nichtanerkennung” der Regierung der DDR zu akzeptieren. Die beharrliche Verneinung des Bestehens der DDR, die Nichtanerkennung der Regierung der DDR durch Bonn als eines Verhandlungspartners, stellt einen Beweis für das Bestreben dar, reale Tatsachen durch fromme Wünsche zu ersetzen. Die Existenz der DDR bildet eine reale Tatsache, mit der die politischen Gegner ebenfalls zu rechnen haben.

Zuletzt die Frage der deutsch-polnischen Grenze. Zwar wiederholen viele Vertreter Bonner amtlicher Kreise das Schlagwort von der Nichtanwendung der Gewalt bei der Revision der Oder-Neiße-Grenze, doch die Tatsache allein, daß diese Forderungen weiterhin erhoben werden, zwingt das polnische Volk dazu, gegenüber der Aufrichtigkeit von derlei Versicherungen Zurückhaltung zu üben. Allzu frisch lebt noch im Bewußtsein der Polen die Erinnerung an den Nichtangriffspakt aus dem Jahre 1935 fort — der sich so rasch in einen Fetzen Papier verwandelte —, als daß leere Beteuerungen imstande wären, die polnische öffentliche Meinung zu beruhigen.

Poleffbesitzt keine gemeinsame Grenze mit der Bundesrepublik, und die Grenze zwischen Polen und der DDR wurde auf Grund eines Vertrages entlang der Oder-Neiße-Linie festgesetzt. Solange in Westdeutschland die Gefahr der Wiedergeburt des deutschen Militarismus und Revisionismus bestehen bleibt, solange die aggressiven, revanchelustigen Kräfte in der Bundesrepublik einen Einfluß auf die Politik der Bonner Regierung ausüben, wird die einzige Garantie der polnischen Westgrenzen in den Abkommen liegen, die uns mit der DDR und mit der Sowjetunion verbinden, mit der einzigen Großmacht, die uneingeschränkt unsere Westgrenzen anerkennt und garantiert.

Es scheint, daß trotz der Frostwelle des kalten Krieges, von der die Welt in den letzten Monaten des vergangenen Jahres — nach dem Angriff auf Aegypten und den ungarischen Ereignissen — erfaßt wurde, die Hoffnungen auf eine positive Entwicklung, auf einen vielleicht langsamen, dennoch aber unvermeidlichen Prozeß der internationalen Entspannung nicht nur ihre Aktualität bewahren, sondern in letzter Zeit sogar an Kraft und an festen Grundlagen gewonnen haben. Daher können wir auch mit froher Erwartung und Zuversicht in die Zukunft blicken. Denn auf den Frühling folgt der Sommer. Wir wollen darauf vertrauen, daß es nicht nur ein Sommer der Meteorologen wird, sondern auch ein Sommer der real denkenden Staatsmänner.

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