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Markstein: Staatsvertrag

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Wenn Bundeskanzler Ingenieur Julius Raab am 11. April aus seinem Amte scheidet, sind gerade sechs Jahre seit dem historischen Tag vergangen, da die große Regierungsdelegation mit einem russischen Flugzeug nach Moskau gereist ist, um die entscheidenden Verhandlungen über den Staatsvertrag zu führen. Nicht der Raab-Kamitz- Kurs, mit dessen Hilfe nur eine sozialistische Offensive abgewehrt werden sollte, sondern der Staatsvertrag wird als die große Leistung des Bundeskanzlers in die Geschichte eingehen. Ebenso bedeutungsvoll erscheint heute auch das Moskauer Memorandum vom 15. April 1955, das den Staatsvertrag noch vor seiner offiziellen Unterzeichnung einer kräftigen Revision unterzogen hatte. Die Vereinbarungen von Ende Juli 1958 bewirkten dann eine wesentliche Herabsetzung der Erdöllieferungen, doch hielt sich die im Sommer des Vorjahres erreichte dritte Revision in einem bescheideneren Rahmen, brachte aber. iipmerhin einq wichtige Abkürzung der Reparationsfristen. Außerdem werden Schon in vier Monaten die Ablöselieferungen in Gesamthöhe von 150 Millionen Dollar getilgt sein, die für die Rückgabe der Betriebe des russischen Industriekonzerns USIA gezahlt werden mußten. Ursprünglich haben weite Kreise ernste Zweifel gehegt, ob diese schwere Last der doppelten Reparationen überhaupt getragen werden könne. Ihr Pessimismus wurde durch den Aufstieg der Wirtschaft widerlegt, die, endlich vom Besetzungsregime und seinen lästigen Beschränkungen befreit, eine rasche Expansion erlebte. Der Staatsvertrag, um den Regierung, Parteien und Bevölkerung konsequent gekämpft haben, wird immer als eine große außenpolitische Leistung anerkannt werden. Aber die Zeit vergeht schnell, und in den vergangenen Jahren einer Hochkonjunktur sind schon viele historische Tatsachen in Vergessenheit geraten. Heute scheint es notwendig, die damaligen Ereignisse ohne Eigenlob, Selbstkritik und Legendenbildung in die Geschichte einzureihen und der jungen Generation ein wahrheitsgetreues Bild der „heroischen Epoche 1945 bis 1955“ zu vermitteln. An der lebendigen Erinnerung positiver Leistungen haftet das Staatsbewußtsein, dessen Pflege zu den unabdingbaren Pflichten des Unterrichtsressorts gehört.

Jedermann weiß, daß die weltpolitische Situation ernst und überaus kompliziert ist, weil ohne Unterlaß neue Probleme auftauchen und überraschende Tendenzen ans Tageslicht treten. Angesichts der „Einheit der Welt“, die durch die Fortschritte von Technik und Verkehr entstanden ist, kann die künftige Entwicklung weder beurteilt noch berechnet werden. Das düstere Bild, dessen Rahmen vor kurzem nur um die deutsche Frage und das Schicksal Berlins sowie die Spannung zwischen Ost und West gezogen war, erfuhr seither eine Ausweitung auf alle Kontinente. Heute handelt es sich in Asien um Laos und die eigenwillige . Haltung aller Entwicklungsländer, in Amerika um Kuba und die Stellung einiger labilen zentralamerikanischen Republiken, in Afrika um Kongo und Algerien, Angola, Mauretanien und die Emanzipation des Schwarzen Erdteils, wo sich kommunistische Einflußsphären entfalten. Zugleich ist eine Krise der Vereinten Nationen ausgebrochen, deren Ansehen durch die Vorfälle während der Herbstsession gelitten hat, indem die Zahl der neuen Staaten, die alle Vorteile ihrer jungen Souveränität hemmungslos in Anspruch nehmen, gewaltig gestiegen ist. Der Umfang der diplomatischen und politischen, wirtschaftlichen und teilweise militärischen Kriegsschauplätze hat sich bedenklich erweitert. An allen Fronten regiert das „weltpolitische Junktim“, die Verknüpfung und gegenseitige Abhängigkeit akuter Probleme, die, oft durch den halben Erdrund getrennt, sachlich nichts miteinander zu tun haben. Und im Hintergrund lauert die große Auseinandersetzung zwischen dem Kommunismus und der freien Welt.

Die Neutralität der Bevölkerung nahebringen

Angesichts dieser unsicheren weltpolitischen Lage hat sich die Neutralitätsakte vom 26. Oktober 1955 als wertvoller und glücklicher Staatsakt bewährt, der Schutz gegen Verwicklungen bietet. Die Rechte und Pflichten eines neutralen Staates sind in den beiden Haager Konventionen vom 18. Oktober 1907 völkerrechtlich als „Status der Nichtkriegführung“ gegenüber den kriegführenden Ländern niedergelegt. In Friedenszeiten gibt es allerdings keine Neutralität im juristischen Sinne, sondern nur eine Neutralitätspolitik, die alle Handlungen zu vermeiden trachtet, die den Staat in eine bewaffnete Handlung verwickeln könnten. Natürlich verpflichtet die Neutralität nur den Staat und niemals die Bürger, doch muß die Verwaltung eines neutralen Staates in zahlreichen Fällen ein Verfahren wählen, das Reibungen und Komplikationen vermeidet, aber die Prinzipien trotzdem durchsetzt. Diese Technik beginnt beim Protokoll, führt zum Asylrecht und endet bei Behandlung von Grenzzwischenfällen. Jedenfalls bieten die Prinzipien der Neutralität, wie es die Erfahrungen Schwedens und der Schweiz in zwei Weltkriegen bewiesen haben, einen ausgezeichneten Rückhalt und erleichtern die Zurückweisung jeder ausländischen Einmischung und Infiltration. Es war kein Zufall, daß der ehemalige Botschafter in Moskau, Norbert Bischoff, kurz nach Inkrafttreten des Staatsvertrages die Meinung vertreten hatte, die Verhältnisse würden früher oder später zu einer geistigen und diplomatischen Annäherung zwischen Österreich, Schweden und der Schweiz führen, weil infolge der Zweiteilung Europas und der anhaltenden russisch-amerikanischen Spannung alle drei Staaten vor den gleichen Problemen stünden, die sie in irgendeiner Form bewältigen müßten.

Die österreichischen Regierungsparteien haben nach Annahme der Neutralitätsakte, die bekanntlich ein Verfassungsgesetz ist, einen sehr deutlichen Trennungsstrich zwischen Neutralität und Neutralismus gezogen,

ferner gegenüber Rußland, den Satelliten und allen kommunistischen Parteiführern zu wiederholten Malen mit Nachdruck auf die Pressefreiheit und das Recht jedes Staatsbürgers zur freien Meinungsäußerung hingewiesen. Dabei ist es aber auch geblieben. Mit anderen Fragen beschäftigt, hat es die Regierungskoalition bisher leider verabsäumt, die Praxis der Neutralität an

Hand der bestehenden Vorbilder zu studieren und den Gedanken der Neutralität in allen Bundesländern zu verankern. Für die Bevölkerung ist es nämlich nicht einfach, die Tragweite der Neutralität zu erfassen. Österreich hat als Großmacht während Jahrhunderten eine aktive Außenpolitik geführt. Nach 1918 verursachte der Zerfall der Donaumonarchie, der Vertrag von St. Germain und der Übergang zum Kleinstaat erhebliche psychologische Schwierigkeiten, und nach 1955 ist plötzlich die Pflicht zur „immerwährenden Neutralität“ aufgetaucht. Es ist schwer verständlich, warum das Unterrichtsministerium nicht einmal einen bekannten Schweizer Völkerrechtler einladet, Vorlesungen an der Wiener Universität über die Neutralität zu halten, ein Thema, das nicht nur Studenten, sondern auch Richter, Beamte und Diplomaten brennend interessieren würde. Denn die künftigen Aufgaben liegen in der Erhaltung des Status quo und in der Verteidigung der Neutralität, die selbstverständlich mit einer bestimmten Vertretung der ureigensten Rechte verbunden bleibt, wie im Streit um das Südtiroler Abkommen vom 5. September 1946, das in Paris zwischen dem verstorbenen italienischen Ministerpräsidenten Alcide De Gasperi und dem damaligen Außenminister Doktor Karl Gruber abgeschlossen worden ist.

Aktive Außenpolitik: Möglichkeiten und Grenzen

Auf diese Weise ist der Kreis einer aktiven Außenpolitik, zu der auch die wirtschaftliche Integration des freien Europa sowie der Brückenschlag zwischen der Freihandelszone und der Wirtschaftsgemeinschaft der Sechs gehören, klar und streng begrenzt. Der

Glaube, daß die Weltmächte die Wünsche, Anliegen und Erfahrungen mittlerer und kleinerer Staaten stets im Auge behalfen, ruht auf einem Irrtum. Auch die Großmächte sind mehr denn je mit eigenen Sorgen überlastet. Bei den österreichischen Besuchen im Ausland haben sich nur der Kaiser von Japan, der König von Schweden, der Präsident von Finnland.

der ehemalige Bundespräsident Petitpierre und Bundeskanzler Adenauer eingehend nach den Erfahrungen erkundigt, die Wien in reichem Maße während den ständigen Verhandlungen mit Moskau sammeln konnte. Anläßlich der Behandlung der akuten inneren Streitfragen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sieht man gegenwärtig, daß sogar Belgien und Holland die größte Mühe aufwenden müssen, um als Verbündete von Frankreich und Westdeutschland überhaupt angehört zu werden. Österreich — das mit dem bevorstehenden Kabinettswechsel in eine neue Phase eintritt, obliegt daher in erster Linie die Pflicht, unter Vermeidung aller Abenteuer, Experimente und Extravaganzen den erreichten außenpolitischen Status mit Bedacht und Systematik zu erhalten, zu verteidigen und zu festigen. Es ist erstaunlich, daß eiti richtiger Kurs, von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung getragen — wie es bei der Neutralität und Unabhängigkeit der Fall ist —, oft reife Früchte erntet und im weiteren Verlauf selbst Wirkungen er zielt, die ursprünglich niemand zu erhoffen wagte. Die erste Hälfte des Jahrhunderts war durch Fehler und Irrtümer, Tragödien und Katastrophen belastet. Heute sind dagegen im eigenen, bescheidenen Wirkungskreis alle Voraussetzungen geschaffen, das begonnene Werk der Konsolidierung in den nächsten Jahren mit Erfolg fortzusetzen.

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