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RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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REGIERUNG AUF REISEN. Die weltpolitische Spannung hat einen Grad erreicht, der zwar keineswegs die Bemühungen gewisser Nach-richtendeuter und Schlagzeilenbastler um die Erzeugung einer Panik rechtfertigt, jedoch der Regierung eines jeden Staates die Notwendigkeit auferlegt, den Gang der Dinge aufmerksamst zu verfolgen und zu jeder Stunde bereit zu sein, Entschlüsse von entscheidender Bedeutung zu fassen. Diese Notwendigkeit besteht nicht zuletzt für die österreichische Regierung, denn wie leicht selbst unser Land, trotz seiner militärischen Neutralität und seiner Nichtzugehörigkeit zu einer machtpolitischen Konstellation, ganz wider Willen in das Spannungsfeld einbezogen werden könnte, das hat in diesen Tagen die rechtswidrige Duichquerung des österreichischen Luftraumes durch amerikanische Militäriransporte eindringlich genug erwiesen. Angesichts dessen drängt sich die Frage auf, ob es wirklich unvermeidbar war, auch den gegenwärtigen österreichischen Staatsbesuch in Moskau dem „Gesetz“ des Proporzes zu unterstellen. Die Regierungsdelegation, die sich unter Führung des Bundeskanzlers nach der sowjetischen Hauptstadt begab, hatte ja dort über keinerlei parteipolitische Fragen zu verhandeln, sondern ausschließlich die Interessen des österreichischen Staates zu vertreten. Da hätte die Teilnahme eines von der SPOe gestellten Staatssekretärs wohl genügt, um den Regierungschef gegebenenfalls vom sozialistischen Standpunkt aus zu beraten und nach absolvierter Reise die Berichterstattung an die SPOe zu gewährleisten; der Vizekanzler, der lauf Verfassung und wie seine Amtsbezeichnung es schon sagt, zur Stellvertretung des Bundeskanzlers in dessen Abwesenheit berufen ist, hätte aus Gründen der Staatsräson in dieser Zeit Wien nicht verlassen dürfen.

„DIE UNTEILBARE NEUTRALITÄT“ — unter diesem Titel nimmt der Herausgeber einer bekannten Salzburger Zeitung, mit dessen politischen Ansichten die „Furche“ sich des öfteren kritisch auseinandersetzen muhte, im sonntägigen Leitartikel Stellung zur Verletzung der Neutralität Oesterreichs durch amerikanische Flugzeuge. Unter anderem führt er aus:

„Wir haben kein Hehl daraus gemacht, dafj es uns nicht gefallen hat, daß Wien so langsam und so schwach mit Maßnahmen reagierte. Wir verfügen über ein Bundesheer, von dessen ausgezeichnetem Geist und beträchtlicher Equipierung sich nicht nur der Autor überzeugen konnte, sondern auch breite Kreise des Volkes, das auf seine Wehrmacht stolz ist. . A.W.g.snJ? I i c k J Uhi.(gesperrt im Original) f(,.i|hätfni unserer Meinung nach alle verfügbaren Luffeinheilen in das Tiroler Gebiet verlegt werden müssen. Ja, ich stehe als erklärter Freund des nordamerikanischen Volkes und seiner großen, freiheitlichen Konstitution nicht an, zu erklären, daß in diesem flagranten Fall von Rechtsverletzung diese Einheiten hätten schießen müssen! Es wäre dann nicht zu der beschämenden Verhöhnung unserer vermeintlichen Schwäche gekommen, daß ein offizieller Sprecher des amerikanischen Außenamtes als Antwort auf den österreichischen Profest in negligierendem Ton erklären konnte, man würde (Voraussichtlich' in Betracht ziehen, in Hinkunft Oesterreich zu umfliegen, aber für diesmal hafte es das Zeitelement den USA nicht erlaubt, von Oesterreich die formelle Erlaubnis zum Ueberfliegen des Hoheitsgebietes einzuholen. Und darum müssen wir fragen: Ist die österreichische Neutralität weniger wert als die der Schweiz, nur weil sie von den USA mitbekräftigt wurde? Ein Lincoln und ein Jefferson würden im Grabe rotieren, wenn sie, sehen könnten, was bei ihren Epigonen für eine Diskrepanz zwischen dem Sternenbanner und der Freiheit entstanden ist. Einige lumpige Gallonen Benzin sollten nicht die herrlichste aller Konstitutionen beschmutzen.“ Bravo, Dr. Canaval! Für diese Worte können wir ihm nur dankbar sein. Wären sie nämlich in der „Furche“ gestanden, wer weiß, ob nicht eben jener Dr. Canaval sich bemüßigt gefühlt hätte, uns und alle, denen es ernst ist mit der österreichischen Neutralität, wieder einmal als „Ostkatholiken“ und wie die schönen Worte alle lauten, seinen staunenden Lesern vorzustellen.

WIEN—MÜNCHEN. In der weltpolitischen Hitze dieser Hochsommertage, während Angehörige von Nationen, die im Nahen Orient eben sehr heiß engagiert sind, fluchtartig ihre mitteleuropäischen Urlaubsorte verlassen haben, bieten München und Wien das Schaubild von Feststädten. Hunderttausend Turner und Turnerinnen sind in München zum Deutschen Turnfest eingetroffen, mehr als dreißigfausend Sänger und Sängerinnen haben sich in Wien beim österreichischen Sängerbundesfest ein Stelldichein gegeben. Beide Male verbinden viele Familien die Reise mit dem Jahresurlaub. Da fluten nun die Menschen, ein Tag und Nacht nicht abreißender Strom, schauselig durch aie Straßen der beiden großen Städte, die bei aller Verschiedenheit manches gemeinsam haben, vor allem eines: das Leben und Lebenlassen. Nicht nur bei Bier und Wein. In beiden Fällen ist der Anteil des nachbarlichen Zustroms beachtlich. In Wien sieht man in diesen Tagen so viele Deutsche wie lange nicht zuvor. In München nehmen 130 österreichische Vereine an den

Wettkämpfen und Schauvorführungen teil. Massenveranstaltungen haben nicht selten etwas Beunruhigendes, nicht nur in politisch überhitzter Zeit, wie die Fußballweltmeisterschaffen in Stockholm eben zeigten. Hier aber, in München und Wien, geht es friedlich zu. Das sollte gerade heute nicht übersehen werden, wo es auch in Europa nicht wenige innere Spannungsmomente gibt. Es zeigt sich wieder einmal, wie friedlich das „Volk“ sein kann, wenn man es in Ruhe „gehen“ läßt. Wenn es nicht vergiftet, wenn nicht sein Wille und Drang, zu feiern und eben auch zu singen und zu turnen, sich zu regen und bewegen, verpolitisiert wird. Das fiiedsame Schaubild der beiden großen Städte, die doch beide nicht fern von großen Spannungsfeldern liegen, und der sie durchflutenden Ströme von Menschen zeigt so in dieser Stunde eindrucksvoll, wie sehr das Zeitalter der Massen im innersten nicht zu einem „Aufstand der Massen“ angelegt ist, sondern, natürlicher, ungezwungener und gesünder, zu einer völkerverbindenden Kommunikation. Das ist der gute „politische“ Sinn dieser beiden mit Recht sehr „unpolitisch“ angelegten Volksfeier-Tage in München und Wien, im Juli 1958.

DER FALL DR. EISELE. In diesen Tagen erschien in Deutschland eine Neuauflage des in mehrere Sprachen übersetzten ersten Standardwerkes übe das KZ-Regime: „Der SS-Staat“ von Eugen Kogon. Darin ist auch ausführlich genug die Rede von dem KZ-Arzt Dr. Eisele, der tausende Häftlinge willkürlich „abspritzte“, umbrachte. Seine Neuauflage erschien nun gerade zur selben Zeit, in der es Herr Dr. Eisele vorzog, einen Ausflug nach Aegypten, ins Nasser-Reich, zu machen. Er hatte nach seiner Entlassung aus amerikanischer Haft in Deutschland schneller als Tausende andere Zulassung für alle Krankenkassen, seine 3000 DM Entschädigung als Spätheimkehrer und etliche andere Vergünstigungen erhalten; er hatte sich ein Haus gekauft und in München als praktischer Arzt niedergelassen. Durch „Zufall“ wurde die Aufmerksamkeit der Behörden auf seine durch alle Publizität unbe-rührbare Persönlichkeit gelenkt. Aus dem Fall Eisele ist einer der größten Justizskandale Westdeutschlands geworden. Aber die bisher erfreulichste Reaktion zum Fall Eisele kam nun aus ehemaligen SS-Kreisen. Der SS-General Meyer, der „Panzer-Meyer“, erklärte, daß er sich von einem solchen Menschen distanziere: „Wo das Verbrechen anfängt, hört die Kameradschaft auf.“ Dieses klare Wort war lange fällig. Es sollte allseits zur Kenntnis genommen werden.

Dann wird diese Erklärung mit dazu beitragen, endgültig eine Epoche zu liquidieren, von der aus falsch verstandener Kameraderie sich allzu viele noch nicht ganz trennen können.

SCHALE UND KERN. Der französische Botschafter in Tunis, der vor fünf Monaten „zwecks Konsulfationen“ nach Paris berufen worden war, ist auf seinen Posten zurückgekehrt. Damit ist die Erleichterung zum Ausdruck gebracht, mit der man am Quai d'Orsay den Verlauf des eben abgeschlossenen tunesisch-marokkanischen Gesprächs zur Kenntnis nehmen konnte. Zwar waren Verfreier der FNL, der algerischen „Befreiungsarmee“, zu dieser Konferenz zugelassen, aber nicht, wie man befürchte) hafte, als gleichberechtigte Teilnehmer, sondern blol} als Beobachter; und von einer Anerkennung der FLN-Führung als der „legalen algerischen Regierung“, einem Akt, der die nordafrikanische Krise neuerdings gefährlich verschärft haben würde, war offenbar überhaupt nicht die Rede. Dar} es so kam, war die unmittelbare Folge der Aufgabe einer Reihe französischer Stützpunkte im westlichen und südlichen Marokko als Auftakt zur gänzlichen Evakuierung der französischen Streitkräfte sowie des jefzt mit Tunesien getroffenen Uebereinkommens, das den Abzug aller französischen Truppen aus diesem Land, mit Ausnahme der Flotfenbasis Bizerta, vorsieht. Nichts konnte so geeignet sein wie diese Mahnahmen, um die Stellung des tunesischen Staatspräsidenten Bourguiba und des Sultans Mohammed gegenüber den extremen Nationalisten zu stärken und ihnen die Wiederaufnahme ihrer grundsätzlich frankreichfreundlichen Politik zu ermöglichen. Dafj General de Gaulle dies erkannt und die Erkenntnis in eine Tat umgesetzt hat, die jede frühere französische Regierung sofort zu Fall gebracht haben würde, darf als gute Vorarbeit für die Lösung des Algerienproblems gewertel werden. Allerdings, der harte Kern des Problems ist damit noch nicht berührt.

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