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An den Raud geschrieben

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VERSCHLEPPUNGSTAKTIK. Die gesamte Weltpresse verfolgt mit Aufmerksamkeit die sich immer mehr verschärfende Spannung in der Südtirolfrage zwischen den Regierungen in Wien und Rom. Die jüngsten sachlichen Feststellungen des österreichischen Außenministers zu dieser Entwicklung haben in einem Teil der italienischen Presse die erwartete hochtönende Ablehnung gefunden. Es ist unter diesen Umständen unverständlich, wie die italienische Regierung zur Konsequenz kommt, die Abhaltung einer neuerlichen Außenministerkonferenz zwischen den beiden Staaten zur Erörterung des Südtirolproblems hänge von der vorher notwendigen Wiederherstellung eines günstigen Klimas der Entspannung und des gegenseitigen Vertrauens ab. Gerade das Gegenteil muß an Hand der täglich gemeldeten Indizien als plausibel bezeichnet werden. Durch die Verzögerungstaktik Roms erhalten die Extremisferh im In- und Ausland reichlich Gelegenheit, das Klima tatsächlich zu verschlechtern. Die Szene beherrscht aber nach wie vor die italienische Polizei, wenn sie auch einmal scharf gegen die eigenen randalierenden Elemente vorgeht. Können aber Radauszenen auf der Straße die Politik, die doch vor allem in Konferenzzimmern staftzufinden hat, ersetzen? Die jüngsten Noten der österreichischen Bundesregierung, die Anfang dieser Woche in Rom beziehungsweise dem italienischen Botschafter in Wien, überreicht wurden, müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden. In der ersten Note schlägt Wien vor, das Außenministertreffen, das Rom wieder einmal verschieben wollte, bereits Mitte Oktober abzuhalten, in der zweiten wird das Bedauern der Bundesregierung wegen der Zwischenfälle vor dem italienischen Generalkonsulat in Innsbruck ausgedrückf, gleichzeitig aber der bekannte Vorwurf, wonach sich die österreichischen Sicherheitsbehörden „passiv verhalten hätten, zurückgewiesen. Auch erinnert die Note an die naheliegende Ursache dieser Ausschreitungen, nämlich an das Urteil im Karabinieri-Prozeß von Trient. Die Antwort Roms steht zur Stunde noch aus.

WAU Kt GRAUSAMKEIT! Die sädeü- furig des Wortes Grausamkeitl ihm, dem Angeklagten, erst durch den Untersuchungsrichter erklärt worden, sagte der frühere stellvertretende Kommandant des Gestapolagers in der „kleinen Festung’ von Theresienstadt an der Elbe, Stefan Rojko, dessen in dieser Woche in Graz angelaufener Prozeß gegenwärtig ein Kapitel der Schreckensgeschichte des Dritten Reiches neu aufzurollen hat. Rojko, der wegen 194fachen Mordes vor Gericht steht, hat da zunächst seine Lebensgeschichte erzählt: wie er zunächst 13 Jahre lang als Mesner beschäftigt war, wie er als Angehöriger der Österreichischen Sturmscharen beim Jutiputsch 1934 sogar gegen die Nationalsozialisten kämpfte und dann nur wegen seiner bisherigen schlechten Bezahlung zur deutschen Polizei kam. Hier habe man ihn nur deshalb nach Theresienstadt versetzt, weil er in den Grazer Gefängnissen zu gut zu den Häftlingen gewesen sei — er überreichte ihnen von Zeit zu Zeit sogar Rosen… Der Staatsanwalt weiß es anders: nach dem vorliegenden Beweismaferial habe Rojko die ihm ausgelieferfen Unglücklichen mit Gegenständen, die ihm gerade bequem schienen, buchstäblich erschlagen. In seinem Büro sammelte er die Goldzähne in einem Gurkenglas. Heute will er, wie er in seinem gutsitzenden Steireranzug im Scheinwerferlicht steht, von alldem nichts wissen. Er spricht von seiner „religiösen Überzeugung’ und wirkt auf den Bildern als biederer Kleinbürger vom Scheitel bis zur Sohle. Sein Prozeß wirft ein Licht aut Zusammenhänge, von denen die übrigen biederen Bürger dieses Landes und anderer Länder gewöhnlich nichts wissen wollen, bis es einmal wieder so weit ist.

DER SENAT UND DAS VOLK. Es gibt Stimmen, die unter dem Eindruck der gegenwärtig in Washington laufenden Senafsdebatte über den Moskauer Atomteststoppvertrag befürchten, daß die gute psychologische und dadurch auch politische Wirkung des Vertragsabschlusses durch die Zerbrö- selungsfaktik einer beide Parteien durchziehenden ad-hoc-Opposition allmählich verlorengeht, und gerade diese gute Wirkung im Politischen sei es gewesen, die militärischen Nachteile oder zumindest Risken, nach Ansicht der Verteidiger der Politik Kennedys, aufgewogen hätte. An dieser Kritik könnte manches wahr sein, wenn nicht die Tatsache entscheidend gewesen wäre, daß es in einem demokratischen Staat vollkommen gleichgültig ist, ob ein Außenminister einen Vertrag paraphiert oder nicht, sofern sich nicht die Majorität in seinem Land offen und ohne Vorbehalf zu diesem Akt bekennt. Die Bildung einer solchen echten und auch politisch allein wirksamen Mehrheit in der lebendigen Demokratie Amerikas brauchte immer schon viel, für den Geschmack vieler bedrängter Europäer manchmal zu viel Zeit. Man denke nur an die Durststrecke zu Anfang des zweiten Weltkrieges. Das amerikanische Volk und so auch der Senat ließ sich nie durch Knopfdruck reglementieren. Man spricht heute vielleicht etwas zu viel von den wahrscheinlich bestehenden militärischen Risken und etwas zu wenig von den sicherlich ebenfalls vorhandenen politischen Fragezeichen. Es ist in den USA wieder einmal so weif, daß die Außenpolitik der Regierung in ihrer ganzen Breite und Tiefe zur öffentlichen Diskussion steht. Darin Schwächezeichen für diese Regierung oder gar für den Staat selbst zu sehen, hieße die eigentliche Stärke einer Demokratie verkennen.

NACH BEKANNTEN VORBILDERN.

Wieder einmal hat auf einem Fleck dieser Erde ein „Volk’ zu 98 Prozent seinem durch die Vorsehung bestimmten Führer und Heilbringer die uneingeschränkte Vollmacht erteilt, wieder hat dieser Führer den heißen Wunsch seines Volkes von sich gewiesen, die Sicherheitsmaßnahmen zu seinem persönlichen Schutz zu verstärken. Denn, so meinte er im aufbrausenden Orkan der begeisterten Zustimmung, wenn Gott seinen Tod wolle, so geschähe dies inmitten seines Volkes. Dieses Volk aber, die zwölf Millionen Algerier, gewährleisten seinen, Ben Bellas, persönlicher, Schutz zur Genüge. Was Wunder, wenn hierauf die Abstimmung wie erwartet austiel, obwohl die - bekanntlich'-immer feind-u lieh gesinnte ausländische Presse vom Abstimmungsboykott -ganzer Gebietsstreiten zu berichten weiß. Die einzig zugelassene Staatsparfei wählte dann den Führer zum einzigen Präsidentschaftskandidaten; die Wahl des Präsidenten steht auf dem Programm des kommenden Sonntags. Inzwischen ließ Ben Bella schon verlauten, daß, im Sinne des von ihm verkündeten „sozialistischen Systems’, im kommenden Jahr neue Enteignungen folgen werden. Die erste Aufgabe sei aber, den Staat zu stärken und die letzten Hindernisse der algerischen Revolution zu eliminieren. Er sprach von Komplotten, die im Ausland ausgeheckt würden und die den Kolonialismus neu einführen wollen. Die Widerstandsnester im eigenen Militär seien bereits ausgeschaltet worden … Wo las man das alles schon einmal?

ALLE WASSER DER WOLGA. Die chinesischen Schimpforgien, die alle Moskau (retten sollen, erreichen täglich neue, dem europäischen Leser bereits längst grotesk anmutende Höhepunkte. Chruschtschow wird da einmal als „schamloser Lügner’ bezeichnet, als „Freiwilliger des Imperialismus’, dessen „Gekläffe nicht mehr von dem der amerikanischen Imperialisten zu unterscheiden sei und dessen Lügen durch alle Wasser der Wolga nicht abzuwaschen seien. Abgesehen von der Bereicherung dieser rhetorischen Obungen durch den spezifisch chinesischen Wortschatz ist das alles schon dagewesen. Man erinnere sich nur an die Höhepunkte des sowjetisch-jugoslawischen Zwistes. Der damaligen Schimpfkanonade folgte dann doch nicht die entsprechende Tat. Wird es auch diesmal dabei bleiben? China hat zwar in absehbarer Zeit sicherlich keine Atombomben, es verfügt aber über einige gute Ausgangsbasen in Nordvietnam, Nordkorea und anderswo, und Asien ist groß …

Es vergeht kaum ein Tag, daß nicht einer der Sprecher im chinesischen Lager erklärt, die Kriege werden auch heute nicht durch Waffen, sondern durch die Volksmassen entschieden.

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