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Digital In Arbeit

Das totale Wochenende

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Die Reduktion der Arbeitszeiten führt nicht allein zu einer Verringerung der täglichen Arbeitszeit, sondern ist von einer sukzessiven Ausdehnung des erwerbsarbeitsfreien Wochenendes auf fast alle Berufsgruppen begleitet. Das Weekend-Haben ist heute nicht Privileg einer „Elite“ von Freizeitreichen, sondern im nichtbäuerlichen Bereich zur allgemeinen Chance der meisten Dienstnehmergruppen geworden.

So erfreulich die Aufhebung des klassischen Arbeits-Freizeit-Verhält- nisses von 6:1 ist, so wenig darf man die Folgen einer allmählichen Verabsolutierung des erwerbsarbeitsfreien Wochenendes übersehen. Zu allem kommt noch, daß auch bereits gesetzliche Feiertage, die mitten in den Wochenablauf fallen, das Ansetzen zusätzlicher arbeitsfreier Tage geradezu provozieren. Nicht selten wird nach einem Feiertag, der auf einen Donnerstag fällt, auch der nachfolgende Freitag spontan als arbeitsfrei deklariert. Die Folge: die Arbeitswoche umfaßt in diesem Fall nur noch drei Tage, das „Wochenende“ jedoch vier.

Anderseits sind aber bestimmte Gruppen von Dienstnehmern wie von Selbständigen verhalten, sich weiterhin mit einer Arbeitswoche von sechs Tagen zu begnügen oder gar gerade zum Wochenende erwerbstätig und auf diese Weise unterprivilegiert zu sein.

Zu jenen, welche die Freizeitchancen zum Wochenende nicht voll oder überhaupt nicht wahrnehmen können, gehören

• die Dienstnehmer in kontinuierlich arbeitenden Betrieben (Hochofenwerk), die eine gleitende Arbeitswoche haben und nur in einem bestimmten Rhythmus ein arbeitsfreies Wochenende zugesprochen erhalten,

• die Dienstnehmer in den Versorgungsbetrieben, die Angestellten der Verkehrsbetriebe, die deswegen dienstbereit zu sein haben, weil es ihnen aufgegeben ist einen kontinuierlichen und nicht einen periodischen Bedarf zu decken, sib

• Ebenso müssen die Lehrer (manche meinen „vorläufig“) und mit ihnen die „Konsumenten“ ihrer pädagogischen „Dienstleistungen“, die Schüler, mit der traditionellen Wochenendruhezeit von nur etwa 42 bis 44 Stunden vorliebnehmen. Die Produktionszeit von wirtschaftlich verwertbaren Gütern kann in einem erheblichen Umfang gekürzt und dementsprechend auch die Erwerbsarbeitszeit je Arbeitsperiode reduziert werden. Gleiches geht aber eben nicht bei der „Produktion“ von Wissen, es sei denn, man erhöht die Anzahl der Schuljahre. Aus diesem Grund muß man vermuten, daß zumindest in den berufsbildenden Mittelschulen die Studierenden weiterhin relativ viel Zeit in der Schule zubringen müssen (um später relativ kurze Erwerbsarbeitszeiten zu haben).

• Schließlich sind es noch die Dienstnehmer in den Vergnügungsbetrieben — im weitesten Sinn —, die gerade deshalb, weil andere Freizeit haben, den Freizeiteigentümern ihre Freizeitdienste zur Verfügung stellen müssen.

Die Mehrheit der Erwerbstätigen sieht jedenfalls das arbeitsfreie Wochenende als eine Freizeit von etwas für etwas an, insbesondere für den Konsum von Freizeitvergnügungen.

Wer bedient uns?

Die vermehrte Freizeit an sich und ihre Konzentration zum Wochenende hin hat zu einem Anstieg der Nachfrage nach jenen Gütern geführt, die vor allem bei längerer Freizeit konsumiert werden: nach Dienstleistungen. Man will in der Freizeit des Wochenendes „bedient“ sein. Dienstleistungen können aber im allgemeinen nicht gespeichert, das heißt während der Arbeitswoche erworben werden. Je mehr nun Menschen ein Wochenende haben, das oft bereits am Freitag in den frühen Nachmittagsstunden beginnt und am Montag endet, um so weniger sind Menschen bereit, in dieser Freizeit Dienstleistungen für andere zu bieten. Es kommt daher zu einem gegenläufigen Prozeß, der sich in eigenartigen Verknappungserscheinungen niederschlägt. Weil die erwerbsfreie Zeit immer mehr Menschen geboten wird, verringern sich die Chancen, in dieser erwerbsarbeitsfreien Zeit Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können.

Man muß vermuten, daß die Zahl jener Gruppen, die zum Wochenende keiner Erwerbsarbeit nachgehen müssen, wächst. Trotzdem aber ist sicher, daß anderseits eine Gruppe in der Bevölkerung (von Hausfrauen und in der Landwirtschaft Beschäftigten abgesehen) durchweg oder verhältnismäßig oft zum Wochenende in einer Art „Dienstverpflichtung“ stehen wird, weil es die Eigenart ihres Berufes verlangt, auch zum Wochenende dienstbereit zu sein (Beispiel: Ärzte, Zugpersonal bei den Verkehrsbetrieben). So entstehen die „Freizeitarmen“.

• Der Mensch, bisher gewohnt, in der Freizeit bedient zu werden und oft darin allein den Sinn einer freien Zeit erfüllt zu sehen, ist vielfach bereits auf sich selbst verwiesen. Wer mit seiner Familie an einem Sonntag in ein Gasthaus essen gehen will, muß mit einer langwierigen Herbergssuche rechnen oder wird in einer oft entwürdigenden Weise von gehetzten Kellnern abgefertigt.

• Sind aber Menschen bereit, zum Wochenende Dienste zu leisten, verlangen sie meist, und mit Recht, eine Abgeltung für das „Arbeitsleid“, das besonders dann spürbar ist, wenn die Mehrheit der Bevölkerung nicht arbeiten muß. Man dürfte sich nicht wundern, wenn Unternehmungen für Leistungen zum Weekend für sich wie für ihre Dienstnehmer höhere Preise ansetzen, wie dies etwa die Verkehrsbetriebe in Wien bei Nachtautobussen machen.

Lebensmittel ausgenommen) auch an Samstagen — mangels Personal — zusperren muß. Der Rückzug des Einzelhandels auf die 13-Uhr-Sperre an Samstagen ist die zweite Etappe einer Entwicklung, die zur völligen Samstagsperre vieler Branchen führen kann. Das Aufstellen von Automaten entspricht nicht allein der technischen Dynamik oder ist die voreilige Antizipation einer Verkaufstechnik von übermorgen, sondern stellt bereits die Andeutung eines echten Bedarfes von morgen dar. Heute sind die zwei Wiener Automatenstraßen noch ein Kuriosum. Ob sie es auch dann sein werden, wenn die Hausfrau ab Freitagabend kein offenes Einzelhandelsgeschäft mehr findet, mag dahingestellt bleiben. Wir können annehmen, daß die Verkaufsautomaten bei gewissen Gütern jene Verkaufsdienste leisten werden, welche die Menschen den Menschen verweigern, so daß diese gezwungen sind, die in den

EINE KLARSTELLUNG DURCH DEN BUNDESKANZLER. In einem Vortrag, den der Bundeskanzler am letzten Donnerstag vor der Vereinigung österreichischer Industrieller gehalten hat, fielen, Worte, welche die weitere Haltung Österreichs in der Frage der europäischen Integration wesentlich genauer, als dies bisher meistens geschah, umschreiben. Dr. Gorbach sagte, die österreichische Regierung folge nicht Großbritannien und anderen NATO-Ländern unter den EFTA- Mitgliedern und werde nicht die Vollmilgliedschatt bei der EWG anstreben. Sie begnüge sich mit einer Assoziierung Österreichs, unter Bedingungen, die nur die wirtschaftlichen Klauseln des Verfragswerkes von Rom — mit gewissen Einschränkungen und Ausnahmen — umfassen sollen, nicht aber die politischen Bestimmungen desselben Vertrages. Die politischen Zielsetzungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft könne sich Österreich nicht zu eigen machen. Auch müsse Österreich auf Bedingungen bestehen, die eine Fortsetzung, ja den Ausbau der Handelsbeziehungen mit den Oststaafen ermöglichen und auch in anderer Weise der besonderen Lage Österreichs Rechnung tragen. Die Freiheit jedoch, sich an wirtschaftlichen Zusammenschlüssen zu beteiligen, nimmt das neutrale Österreich, nach den Worten des Bundeskanzlers, durchaus in Anspruch. Wie man indessen weiß, wurden die Kontakt- qespräche zwischen der Schweiz, Schweden und Österreich in der Frage der juristischen Auslegung des EWG-Vertrages in bezug auf die Möglichkeit von Assoziierungen erst begonnen. Es muß verlangt werden, daß die Experten auch österreichi- scherseits mit der größten Sorgfalt ihre Aufgabe erfüllen. Der sichere Boden, die Voraussetzung jeder Verhandlung, muß erst gefunden werden.

DER NEUE PAPSTGESANDTE. Sehr schnell, rascher fast, als es den routinierten Kennern der diplomatischen Gepflogenheiten wahrscheinlich erschien, hat Papst Johannes XXIII. dem in Österreich unvergessenen Nuntius Dellepiane einen Nachfolger bestellt. Erzbischof Opilio Rossi wurde, wie so mancher Italiener, in New York geboren. Schon mit 44 Jahren erhielt er 1953 im kurialen Dienst die Bischofsweihe und das Titularbistum Ancira. Belgien, Holland, Deutschland (dessen Sprache er übrigens auch beherrscht) lernte er im Dienst des Heiligen Stuhles kennen, den er in den letzten acht Jahren als Nuntius in Ekuador und Chile vertrat. Wien erwartet den neuen Botschafter des Papsfes um die Jahreswende herum. Aber schon in diesen Tagen nahm der Papst Gelegenheit, beim Antritt des neuen österreichischen Vatikanbotschafters in seiner spontan-herzlichen Art über unser Land zu sprechen. Wien ist ihm seif den Tagen des Eucharistischen Kongresses von 1912 unvergeßlich geblieben. Von der tiefen Frömmigkeit der Österreicher sprach er mit einer freundlichen Begeisterung, die uns, die wir im Lande so manches auch von der anderen Seite her kennen, fast beschämte. Nichts war von einem Vorbehalt gegen das heutige Österreich zu spüren, auch wenn es nicht mehr das von 1912 ist. Und wir glauben annehmen zu dürfen, daß auch Nuntius Rossi im gleichen Geist zur uns kommen wird.

KENNEDYS ERSTE UNO-REDE. Die erste Rede Kennedys vor der UNO- Vollversammlung wurde mit Spannung erwartet und etwas eilfertig kommentiert. Die recht zahlreichen Gegner Kennedys werfen ihm ,,Kapitulation" in Berlin und vor „Ulbricht’’ vor, andere meinen, alles das, was der Präsident da gesagt habe, sei bereits bekannt gewesen. Beide irren. Kennedy hat sehr behutsam in einem weltgeschichtlichen Augenblick, in dem, wie er sagte, vielleicht über 10.000 Jahre entschieden werde, Amerikas Entschlossenheit, für den Frieden zu kämpfen, kundgetan. Kennedy nennt die Berlin-Krise eine „unnötige Krise". Ein Friedensvertrag der Sowjetunion mit der DDR ist seiner Ansicht nach weder ein Kriegsgrund, noch eine Entpflichtung Amerikas von seinen Verpflichtungen in Europa. Kennedy läßt sich durch die Berlin-Krise nicht den Blick auf das Ganze nehmen. Das hysterische Gerede etlicher Gegner des amerikanischen Präsidenten, ein „neues München", eine Kapitulation des Westens stehe vor der Tür, ist einfach falsch, da Kennedy schlicht und klar gesagt hat, in wie vielen Punkten und Positionen der Westen nicht nachgeben kann. Kennedy läßt Freund und Feind nicht im unklaren über seine Prinzipien, über seine Pläne für morgen: „Die Menschheit muß dem Krieg ein Ende berei len oder der Krieg wird der Menschheit ein Ende bereiten." Die USA schlägt vor, alle Mitgliedstaaten der UNO sollen einen Teil ihrer Streitkräfte für das Friedenskorps der UNO zur Verfügung stellen. Für Afrika, Asien, Südamerika soll ein Großprogramm zur Beseitigung der Hunger- und Armutsgebiete möglichst schnell realisiert werden. Und Berlin? Und die Bundesrepublik Deutschland? Mit beiden und über beide wird demnächst zu verhandeln sein. Beider Zukunft ist nicht von Ulbricht abhängig, sondern davon, ob es gelingt, Südamerika, Afrika und das nichtkommunistische Asien von der Überschwemmung durch den Kommunismus zu bewahren. Das ist nicht zuletzt der „deutsche" Sinn von Kennedys erster UNO- Rede.

GLANZ UND SCHRECKEN: BERLIN.

Siebzig- bis Achtzigjährige springen ins Tuch der Westfeuerwehr, aus ihrer Wohnung in Ost-Berlin. Wieviel Tränen und Trauer von Getrennten, Flüchtlingen, Kindern, Brautpaaren aus Ost-Berlin hat in den letzten Wochen eine eilfertige Photoschau dem Westen vermittelt? Bei der Eröffnungs- premiere der neuen Deutschen Oper in Berlin glänzten Nerz und Zobel, Frack und Uniform und die Orden der westlichen Welt. Bundespräsident Lübke mit Gattin, Willy Brandt nehmen an dieser glanzvollen Veranstaltung teil. Auftakt der Berliner Festwochen 1961. Der Senat hat einen „Berlin-Plan" ausgearbeitef. Viertausend neue Wohnungen sollen gebaut werden. Junge Ehepaare sollen besondere Begünstigungen erhalten, da die Überalterung von Wesf-Berlin besorgniserregende Ausmaße angenommen hat. Es fehlt die Jugend auf den Strafen … Eine Sfiftung „Hauptstadt Berlin" soll dazu die Universitäten, Hochschulen und Theater beleben. Die Bundesregierung, die Länder und der Deutsche Städtetag sollen diese großangelegte Kylturoffensive finanzieren. Hübsche, sehr hübsche Mannequins sitzen in den offenen Cafes am Kurfürstendamm. Elegante Welt… Dennoch macht sich aber seit dem 13. August, lange vor General Clays beunruhigenden Worten, eine Fluchtbewegung bemerkbar. Eine große süddeutsche Zeitung meldet: „Niemand in Berlin will es wahrhaben, daß eine kalte Fluchtbewegung eingesetzt hat — aber die Terminnot der Berliner Speditionsfirmen spricht eine allzu deutliche Sprache." Im vergangenen Jahr besuchten 560.000 Zonenbewohner die West-Berliner Theater. 250.000 Bücher wurden von Zonenbewohnern in der Amerika-Ge- denkbibliothek und in anderen Instituten ausgeliehen. Das ist zu Ende, über der großen Stadt Berlin scheren die Flugzeuge aus dem Westen ein. Sie fliegen über einen Kerker, und landen in einem lichterhellen Ghetto.

EINE GESTE DES GENERALS. Die Ankündigung des Präsidenten de Gaulle, auf seine Sondervollmachten, die er seit dem algerischen Putschversuch vom vergangenen April auf Grund des Paragraphen 16 der Verfassung in Anspruch genommen hat, nunmehr zu verzichten, wurde allgemein als eine Geste der Versöhnung gedeutet, freilich nur als eine Geste, die an den Tatsachen der französischen Innenpolitik kaum etwas ändern wird. Denn der autoritäre Charakter der Staatsführung wird durch diese Mahnahmen nicht berührt, und die Regierung Debrė bleibt, was sie war, ein ausführendes Gremium in der Hand des Präsidenten. De Gaulle sah sich wahrscheinlich zu diesem Schritt gezwungen, nachdem ihm die Oppositionspartei de facto ihr Miß- trauen ausgesprochen haben. Nun hat er sich in beengter Lage auf zweifache Weise einen gewissen freien Raum geschaffen. Er kündigte vertrauliche Aussprachen mit den grollenden Oppositionsführern an, in deren Verlauf wahrscheinlich vor allem die Fraqe vorzeitiger Neuwahlen aufgeworfen werden wird. Der Verzicht auf die Vollmachten erscheint dadurch in neuem Licht. Sie haben nämlich den Staafschef nur zu einer Maßnahme nicht ermächtigt: zur Auflösung des Parlaments. Nunmehr kann es, im Falle eines Mißtrauensvotums im Parlament, durchaus soweit kommen: der Präsident könnte seine bewährte Karte ausspielen und das französische Volk zur Wahl auf- rufen. Gegenwärtig bereist de Gaulle Südfrankreich und fährt mit einer Autokolonne von Dorf zu Dorf, überall, selbst in kleinen, kaum bewohnten Nestern, hält er. Reden. Das Volk empfängt ihn warmherzig und scheint ihn im Glauben zu bestärken, daß es nach wie vor hinter ihm steht. Der verstärkte Terror der Geisterarmee OAS, die alarmierenden Nachrichten aus Algerien, können diesem Glauben nichts anhaben.

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