6671768-1961_02_06.jpg
Digital In Arbeit

Jung-Amerika in Washington

Werbung
Werbung
Werbung

Zwei Dinge fallen bei einem ersten Blick auf die Liste des Kabinetts Kennedy, das sich zur Amtsübernahme rüstet, sofort auf: der katholische Präsident hat außer seinem Bruder keine weiteren Mitglieder der eigenen Kirche in sein Kabinett berufen — neben zwei Männern jüdischer Religion umfaßt es Angehörige der verschiedensten protestantischen Kirchen, darunter einen Mormonen —, und es ist altersmäßig wohl das „jüngste“ Kabinett, das es in den Vereinigten Staaten gegeben hat. Zwischen dem 62jährigen Handelsminister und dem 35jährigen Generalstaatsanwalt und den anderen kommt man auf ein Durchschnittsalter von 47 Jahren.

Wenn das auch zeitweise während der Wahlkampagne infolge der außenpolitischen Fangfragen der Journalisten — besonders während der vier Fernsehdebatten zwischen Nixon und Kennedy — nicht so deutlich zum Ausdruck kam: der Durchschnittswähler, der den neuen Präsidenten wählte, erwartet von ihm zuerst einmal soziale Aktivität.

Innenpolitik hat Vorrang

Und es bieten sich genug Probleme als brennend an. Sozialversicherung, Altersversicherung — ihr Ausbau und die Einfügung einer Krankenversicherung für alte Leute in das Sozialversicherungssystem —, im Wahlkampf ebenso wie die Bereitstellung von Fonds für Schulbauten, ein großzügiges Bauprogramm für niedere Einkommensgruppen, Erhöhung der Lehrergehälter und anderes ganz konkret versprochen, stehen auf der Tagesordnung der neuen Administration.

Der Dollarabfluß muß gesteuert, die zu einer seltenen Höhe gestiegene Arbeitslosigkeit muß gestoppt werden, die Verwendung der landwirtschaftlichen, durch Subventionen an die Farmer entstandenen Überproduktion im Rahmen einer internationalen Nahrungsmittelausgleichsaktion harrt einer konstruktiven Lösung.

Kennedy hat in den Wochen der Vorbereitung auf die Amtsübernahme für alle Sparten zukünftigen Einsatzes mit der gleichen Zielstrebigkeit und inneren Sicherheit, mit der er seinen Wahlkampf führte, sich eigenhändig Experten zusammengesucht, oft junge, enthusiastische Akademiker, manchmal erfahrene Praktiker aufgeschlossener Art, die dem Kabinett für Sonderaufgaben zur Verfügung stehen werden. Und bereits bevor er „die Macht übernimmt“, hat er sich Berichte anfertigen lassen — von unideologischen, unabhängigen Fachleuten — über Einzelfragen, die, seit langem der Kritik ausgesetzt, nach neuer Initiative zu rufen scheinen. Dazu gehört unter anderem die Vereinheitlichung der drei Armeeteile, vor allem in ihren militärwissenschaftlichen Forschungen, aber auch in der Koordinierung befehlstechnischer Verantwortlichkeit. Raumforschung, Konzentrierung der wissenschaftlichen Arbeit, Hebung und Ausweitung des Bildungsweges auf Schule und Hochschule, Einbau des sich ständig verbreitenden Automatismus in die Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Betriebsleitung: in alle Gebiete des nationalen Lebens reichen die Probleme hinein, mit denen sich Kennedys T e a m auseinanderzusetzen haben wird.

Es sind keineswegs neue Probleme, in keiner Weise etwa Lieblingsprojekte einer radikalen Reformbewegung. Die Eisenhower-Administration hat mit ihnen allen sich bereits abgeben müssen. Aber während sie die Fragen gewissermaßen hat auf sich zukommen lassen, abwartend, defensiv, dürfte die junge Mannschaft Kennedys — hat man den Eindruck — auf sie zugehen, aggressiv, unbeschwert von Bindungen und Vorurteilen.

Außenpolitik: Chancen für Stevenson

So wichtig indes die Aufgaben der eigentlichen Innenpolitik sind, von möglicherweise aktuelleren Konsequenzen sind die beiden außenpoli-

tischen Ernennungen: Außenminister und Vertreter der USA bei den Vereinten Nationen.

Obwohl es durchaus den Anschein hat, daß Kennedy beabsichtigt, in der Formulierung der amerikanischen Außenpolitik unmißverständlich sich die letzte Entscheidung vorzubehalten, wird auch in der neuen Administration die Funktion des Department of State eine gewichtige sein.

Daneben aber dürfte in den nächsten Jahren die Rolle des Botschafters bei den Vereinten Nationen entscheidend an Gewicht und Bedeutung zunehmen. Die Vereinigten Staaten haben mehr als einmal eindeutig ihren Willen zum Ausdruck gebracht, das System der partnerschaftlichen Verträge zwischen Einzelnationen durch immer mehr ausgebaute Kollektivverantwortlichkeiten im Rahmen der Weltorganisation zu ersetzen.

Es ist vorauszusehen, daß die USA dabei das Hauptgewicht ihrer internationalen Aktivität — was die Aufrechterhaltung oder auch die „Wiederherstellung“ ihres Prestiges bei Alliierten und neutralen Nationen mit einbeschließt — automatisch immer mehr in deren Plenum bzw. ihre Arbeitskomitees verlegen muß. Was ebenso automatisch dazu führen wird, daß die Aufgabe des Botschafters zu den Vereinten Nationen eine mehr oder minder autonome werden muß. Kennedy hat bei seinem Angebot an Adlai Stevenson, das Amt des Botschafters bei den UN zu übernehmen, ausdrücklich betont „als Kabinettsmitglied“.

Und Europa?

Die Tatsache, daß Kennedy bis zu einem gewissen Grade auch außerhalb der UN eine Außenpolitik, die nicht ganz die Kopie der heutigen sein dürfte, steuern wird, wirft bereits in Europa ihre Schatten voraus.

Die französische Delegation bei den Vereinten Nationen verläßt zwar noch immer den Saal, wenn die Frage Algerien aufgeworfen wird. Aber General de Gaulle ist sich offensichtlich dessen bewußt, daß Jack Kennedy Folgerungen aus der feierlichen — damals von dem Republikaner Foster Dulles ebenso wie von dem Demo- kraten Dean Acheson scharf kritisierten —, während seiner Senatorenzeit abgegebenen Erklärung für die Unabhängigkeit Algeriens ziehen wird. Es ist zu erwarten, daß er jeden Versuch, sie zu ermöglichen, mit dem Gewicht der USA unterstützen wird: für den französischen Staatschef eine nicht zu unterschätzende Rückendeckung bei der dramatisch umstrittenen Befriedungspolitik.

Und Bonns Kanzler, obwohl man dort — vor allem, nachdem das taktlose Warnmemorandum aus dem Strauß-Ministerium bekanntgeworden ist, in dem Adlai Stevenson erbittert kritisiert wurde — nur schlecht die Enttäuschung über Nixons Niederlage verbergen konnte, hat keine Zeit verloren, noch bevor der nicht minder emsige Kandidat der Oppositionspartei dem gleichen Wunsch Ausdruck gab, sich — uneingeladen — zu einem Ghef-zu-Chef-Gespräch mit dem „jungen Mann“ im Weißen Haus anzumelden. Die kühle Aufnahme der Besuchsankündigungen hat zwar zu einer etwas betretenen Vertagung geführt, aber in keiner Weise das bundesdeutsche Interesse an der Koordinierung künftiger bundesdeutscher Außenpolitik mit der „neuen Welle" in Washington, vermindert.

Man geht kaum fehl, wenn man die letztlich zu verzeichnende Zurückhaltung im Ton der Bundesrepublik im Verkehr mit Ostzone und UdSSR darauf zurückführt, daß man sich dessen bewußt ist: Kennedy wird sowenig, wie er eine Kapitulation des Westens zulassen wird, ebensowenig provokative Verschärfungen des Ost- West-Konflikts decken.

„Asiatisches“ Dreigestirn

Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß neben der Überholung der bisherigen Nachbarschaftspolitik im Verhältnis zu den lateinamerikanischen Staaten im Sinne einer ausgesprochen sozialreformerischen, antidiktatori- alen Haltung die afrikanisch-asiatischen Probleme weitgehend im Mittelpunkt der neuen Außenpolitik stehen werden. Die Wahl des ehemaligen Botschafters in Indien, Chester Bowles, zum Unterstaatssekretär im Außenamt, die Ernennung eines besonderen Zweiten Sekretärs für Afrikanische Angelegenheiten — des ehemaligen Gouverneurs von Michigan, G. Mennen Williams — deuten darauf ebenso hin wie die Bestallung des bekannten Harvard-Professors Kenneth Galbraith als Botschafter für Indien, und der Nachdruck, mit dem Sowohl Außenminister Rusk wie Adlai Stevenson bei der Annahme ihrer Ernennungen darauf hinwiesen, daß die im Rahmen der Vereinten Nationen sich zeigende Gewichtsverteilung durch die Blockbildung der sogenannten neutralen Staaten eine aktive und der Zeit angepaßte internationale Politik verlange.

Hier überall wird die Weltpolitik der „neuen Ufer“ in aller Sachlichkeit der Problematik des 20. Jahrhunderts Rechnung zu tragen haben, in dem letzten Endes — wenngleich heute noch durch das zu mancher Kritik Anlaß gebende Instrument der Vereinten Nationen repräsentiert — die Kooperation der Kontinente (selbst in der täglich an Bedeutung zunehmenden Erschließung der „Raumwelt") an Stelle der Paktsysteme von Nationen treten muß, um gemeinsam Krieg und Hunger, Krankheiten und Naturkatastrophen immer nachdrücklicher von der Menschheit fernzuhalten.

Die Mannschaft, die sich der neue Präsident für die Arena der Außenpolitik ausgesucht hat, besteht, so scheint es, aus Männern, die sich der realitätszugewandten Notwendigkeiten der Zeit bewußt sind: jeder einzelne eine Figur von Profil, wie Kennedy selbst undoktrinär, fortschrittlich, bereit zu-wägender initiative. Niemand kann voraussehen, ob nicht ihren Plänen mancher Dämpfer aufgesetzt werden wird.

Elastischer als bisher

Es ist keineswegs sicher, daß der neue Präsident für alle seine sozialen Ambitionen die notwendige Mehrheit des Kongresses in der Tasche hat. Es ist ebenso unmöglich, vorauszusehen, ob die neuen Männer der Außenpolitik so ohne weiteres auf die Bereitschaft der anderen stoßen werden, um gemeinsam die Starrheit bisheriger Positionen — vor allem zum Beispiel erst einmal in der Abrüstungsfrage und bei den Verhandlungen über die A- und H-Bomben-Versuche — zu brechen. Prophezeiungen sind müßig — und unerlaubt.

Aber eines ist sicher: Amerikas Außenpolitik wird elastischer sein als bisher, sie wird auch konsequenter sein in der Koordinierung mit einer Innenpolitik, die wirkliche Voraussetzungen für nationale Einheit und damit übernationale Machtstellung dadurch schafft, daß sie zum Beispiel der Jugend des Landes die besten Er ziehungsmöglichkeiten gibt, die möglich sind, und den Alten die ihnen zukommende Alters- und Krankenversicherung sicherstellt und die Gleichberechtigung aller Amerikaner in den Bürgerschaftsrechten endgültig garantiert, das heißt die Nation „in Bewegung" bringt in diesen und anderen Sparten des öffentlichen Lebens.

Der Probleme sind viele. Nur einige konnten hier umrißhaft bei einer — sehr vorläufigen — Bestandsaufnahme in den Umrissen aufgezeigt werden. Ob die Regierung der „Jungtürken“ sie meistern kann, steht dahin. Sie wird sie in Angriff nehmen, und zwar mit um so mehr Sicherheit und Bereitschaft, dem rasenden Tempo der Entwicklung Rechnung zu tragen, das möglicherweise in dem einen oder anderen Fall unkonventionelles Handeln, „revolutionäres“ Umdenken nötig macht — wenn sie sich die Forderung von Alexis de Tocqueville zu eigen macht, „darauf zu achten, daß man den Zustand der Gesellschaft, der sich herauszubilden beginnt, nicht nach Vorstellungen beurteilt, die aus einem gesellschaftlichen Zustand stammen, den es nicht mehr gibt". Der Satz steht in dem Buch über — „Demokratie in Amerika“.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung