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Der Ruf der neuen Grenze

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Wenn der bekannte Kolumnist Walter Lippmann die Kandidatur des Demokraten John F. Kennedy für die Präsidentschaft der USA dahin kommentiert, daß sie „das Abtreten der alten politischen Generation und das Heraufkommen einer neuen“ bedeutet, so muß das indes nicht einfach als eine Frage des Konflikts zwischen „Jung“ und „Alt“ verstanden werden.

Der ehemalige Präsident Harry Truman, der ihm vor der Convention die provokative „Frage auf Ehre und Gewissen“ stellte, ob er sich selbst nicht doch noch als zu jung und unerfahren für die Bürde der Präsidentschaft halten müßte, hat zwar sicherlich der Skepsis eines nicht ganz kleinen Teils der „Alten Garde“ der Partei gegenüber dem ungeduldigen Drängen der demokratischen „Jungtürken“ nach einer Führung durch „neue Männer“ Ausdruck gegeben, aber damit in Wirklichkeit bedeutend mehr gemeint als jugendliche Unerfahrenheit.

Es hat schon etwas auch mit Jugend, mit — relativem — Jungsein an sich zu tun — das nimmermüde, ehrgeizige, einfallsreiche, zugleich taktisch-realistisch und strategisch weitschauend operierende Planen für die „Machtübernahme“ in der Partei, die das Kennedy t e a m von Erfolg zu Erfolg in den psychologisch die Parteitagung vorbereitenden Vorwahlen in den Einzelstaaten führte —, aber dahinter steckt mehr.

MÄNNER DES 20. JAHRHUNDERTS

Wie James Reston, ein an Breitenwirkung kaum hinter Lippmann zurückstehender anderer Leitartikler, es nannte, „eine Machtverschiebung hat (in der Demokratischen Partei) stattgefunden, von Männern, die im 19. Jahrhundert geboren wurden, zur neuen Generation, die im 20. Jahrhundert geboren wurde, und von wenigen allmächtigen politischen, b o s s e s' hin zu einer viel größeren Gruppe von jüngeren und intelligenteren politischen Persönlichkeiten,

viele von ihnen verhältnismäßige Neulinge . . .“.

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Die Wachablösung in der amerikanischen Oppositionspartei bedeutet — wahrscheinlich selbst im Fall einer Wahlniederlage —, daß in Zukunft in ihr nicht nur eine biologisch verjüngte Führergarnitur an Einfluß zunehmen, sondern ein modernerer Typ des Politikers den neuen Fragen gegenüberstehen wird, die das Tempo der Entwicklung unbelasteten, undogmatischen, in gewisser Hinsicht „wendigeren“ Männern zur Beantwortung aufzwingen kann.

Kennedy hat in seiner ersten Rede nach der Nomination im Schlagwort von den „neuen Grenzen“ („T he New F r o n t i e r“) mit großem Einfühlungsvermögen in die Situation der Ungewißheit, des Unberechenbaren und des Experimenthaften, in der sich vielleicht morgen schon die amerikanische Politik sehen kann, an den forschenden, wagenden „Pioniergeist“ der ersten USA-Perioden anknüpfend, bei aller taktischen Zweckmäßigkeit von Wahlkampfüberlegungen nicht zufällig bestimmte visionäre Töne angeschlagen: Er stellte fest, daß in dieser Losung von den „neuen Grenzen“ alles andere als Wahlversprechen verborgen seien; im Gegenteil — Aufgaben, Schwierigkeiten, wahrscheinlich Opfer ...

JUNGDEMOKRATEN: EIN NEUER TON

„Sie bringt zum Ausdruck, nicht was ich dem amerikanischen Volk zu bieten habe, sondern was ich von ihm erwarte ... sie enthält die Voraussage von mehr Opfern anstatt von mehr Sicherheit ... Jenseits der .neuen Grenzen' sind unvermessene Gebiete der Wissenschaft und des Weltenraums“, formulierte er, „ungelöste Probleme von Krieg und Frieden, uneroberte Räume von Unwissenheit und Vorurteilen, unbeantwortete Fragen von Armut und Überfluß ...“

Auch wenn man nicht vergessen darf, daß solche Formulierungen im Rahmen eines Wahlkampfes — übrigens zumeist entworfen von der Journalisten- und Professorengruppe der vom Rooseveltschen „Nerv Deal“ beeinflußten Parteiintelligenz — nicht unbedingt im politischen Alltag später ihre praktischen Konsequenzen haben, ist offensichtlich, daß hier ein neuer Ton in der politischen Terminologie angeschlagen wird.

Was vorher Adlai Stevenson als einsamer Rufer in der Wüste als Einsicht aussprach, brachte ihm nur das Hohnwort des „E g g-head“ ein: Kennedy hat es zu einer zuendenden (?) Wahlparole umstilisiert.

Ob die Jungdemokraten bei den Wählern „ankommen“ werden, steht noch dahin. Daß die Südstaatler über die sehr scharf liberale Platt-

Karikatur: Candea form, die der Parteitagung vorgelegt worden

Von dem ausgesprochen „lieft ^“jorn (center“i argumentierenden Chester Bowles auf ausdrück-' liehen Wunsch von Kennedy fast allein zusammengehämmert, verlangt sie recht weit gehende Garantien für die Durchsetzung der Zivilrechte (nicht nur in der Negerfrage), der Verbesserung der Krankenversicherung für die Altrentner, der Erhöhung des Mindestlohnes im Arbeiterschutz u. a. Wenngleich in der VorConvention-Periode teilweise mehr zu Syming-ton oder Humphrey neigend, dürften jetzt sowohl die Gewerkschaftsführer ebenso wie die Repräsentanten der NAACP („National Association for the Advancement of coloured people“) und die Intellektuellen der ADA („Americans for Democratic Action“) sich mehr oder minder nachdrücklich für Programm und Kandidaten der Demokraten einsetzen.

Entscheidend aber sind wie bei jeder amerikanischen Wahl die sogenannten „unabhängigen Wähler“, das heißt die, die bis zum Vortag der Wahl unentschieden sind, soweit man sie nicht im Laufe des Wahlkampfes mit Erfolg anzusprechen verstanden hat.

Zu ihnen gehören nicht zuletzt die Jungwähler. Jedes Jahr erreichen zirka sechs Millionen Amerikaner das wahlfähige Alter. An sie wendet sich bewußt und mit großer Intensität die Kennedy-,.Maschine“, indem sie zuerst einmal mit einer auf das großzügigste bereits am Tage nach der Kandidatenaufstellung begonnenen Kampagne, sich als Wähler eintragenzulassen, an die Jugend als Träger kommender Verantwortung appelliert. (Wahlberechtigt ist in den USA nur, wer sich ausdrücklich in Wahllisten einträgt; NichtWähler dazu zu veranlassen, ist seit langem die von Organisationen, wie den Gewerkschaften, den Verbänden von Minderheitengruppen usw., unternommene erste Maßnahme zur Verbreiterung der Wahlbeteiligung.)

REALISMUS UND NEUE IDEEN

Nicht nur hier hat das Kennedy t e a m einen guten Blick für Realitäten. Auch darin, daß Kennedy mit dem Vorschlag, den einflußreichsten Gegenkandidaten innerhalb der Parteiführung, den demokratischen Mehrheitsführer im Senat, Lyndon H. Johnson aus Texas, für das Amt des Vizepräsidenten zu nominieren (über ihn wird an anderer Stelle noch ausführlicher zu sprechen seinl), soweit das möglich ist, den antiliberalen Süden bis zu einem gewissen Grad an dem- Rennen um die Macht beteiligt hat, zeigt sich der Realismus der „Jungtürken“.

Da die Demokratische Partei nun einmal aus recht unterschiedlichen Gruppen besteht, ist es zweckmäßig, ja notwendig, sowohl in Fragen der Persönlichkeiten als auch in denen der verbindlichen Parteiprogrammatik bestimmte Kompromisse einzugehen: dem katholischen Präsidentschaftskandidaten einen protestantischen Anwärter auf die Vizepräsidentenschaft, dem — mit mehr oder minder Recht — als „Liberalen“ geltenden Nordstaatler den zumindest dem Süden nicht völlig unannehmbaren Texaner an die Seite zu stellen . .. Auch die Plattform mußte, zumindest in der Form, auch der „Alten Garde“ noch annehmbar gestaltet werden. Dennoch bestimmt als Typ der 43jährige Kennedy das Bild der „neuen“ Demokratischen Partei.

Und obwohl von Details der Außenpolitik verhältnismäßig wenig die Rede ist bei seinem Appell an den amerikanischen Wähler, hat vielleicht gerade, mit Bezug auf die Weltpolitik, die Betrachtung des Londoner „E c o n o m i s t“ vom 9. Juli Gewicht, die unter der Überschrift „Die neuen Männer“ feststellt: „Es muß nicht notwendigerweise ein Anlaß für Besorgnis bei Amerikas Allierten sein, wenn tatsächlich die Wahl (der Nation) auf einen jungen Mann fallen sollte ... Viele seiner bedeutendsten Handlungen dürften von Anfang an iFühner neuer Staaten betreffen, deren Unerfahrenheit augenfällig ein mag,.-aber. deren ■ jugendlicher Enthusiasmus in Rechnung gestellt und verstanden werden muß ... Nötig ist ein Präsident, der neuen Ideen ermöglicht, an die Oberfläche zu kommen und erfolgreich bei denen zu sein, die die Politik machen ...“

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