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Zuletzt: Parteiegoismus

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Wenn einmal eine Geschichte über die Auflösung unserer westlichen Welt geschrieben werden wird, dann muß ein Hauptkapitel dem Versagen des Parlamentarismus vorbehalten bleiben. Hier ist nicht der Ort, um über das Fiasko der Demokraten in Portugal und Italien zu schreiben oder das Erstarren von wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen, die von sozialistischen Regierungen geschaffen wurden, zu analysieren. Denn selbst die klassischeste aller Demokratien, die Republik der Vereinigten Staaten von Amerika, scheint momentan unfähig zu sein, mit den Tagesproblemen fertig zu werden, geschweige denn, einen Trend für die Entwicklung der nächsten Jahre auszulösen.

Nicht einmal in der Administration seiner eigenen technischen Belange ist der amerikanische Parlamentarismus fähig, Ordnung zu schaffen. Seit den Kongreßwahlen im November 1974 sind immerhin acht Monate ins Land gegangen — aber der Bundesstaat New Hampshire hat immer noch eine erst halbe Vertretung im Senat. So knapp war der Ausgang dieser Senatswahl — nach letzten Zählungen handelt es sich um zehn Stimmen zugunsten des Republikaners Wyman —, daß man den Gerichten des Staates New Hampshire, die lokal eine Lösung herbeiführen wollten, diese Entscheidung abnahm und sie dem Senatsplenum in Washington überantwortete. Dort konnte man sich aber bis heute nicht darüber einigen, ob es Neuwahlen geben soll oder eine Neuzählung der Stimmen. Parteipolitisches Gehader verhindert die Vollvertretung eines Bundesstaates im Senat. Tausende Seiten von Protokollen und mehrere hundert „verdebattierter“ Stunden schufen eine ausweglose Situation, während die parlamentarischen Körperschaften wertvolle Arbeitszeit vergeudeten.

Daß so ein „Offenbarungseid“ dem Parlamentarismus bei den Massen nicht nützt, ist durchaus begreiflich. Nun könnte man dahingehend argumentieren, daß die Unfähigkeit des Kongresses, die Senatswahl von New Hampshire zu entscheiden, ein Sonderfall sei, weil nur ganz selten Wah len durch so kleine Minderheite entschieden werden.

Es ist daher vielleicht angebracht, etwas weiter auszuholen und einen Uberblick über die Arbeit des 94. Kongresses der amerikanischen parlamentarischen Geschichte zu skizzieren.

Er wurde im November 1974, -am Tiefpunkt des Ansehens der Präsidentschaft gewählt, wobei die Demokraten Watergate, die Unerfahren-heit des von Nixon vorgeschlagenen Präsidenten und die sich vertiefende Wirtschaftskrise weidlich ausnützten Während Präsident Ford in der Wahlkampagne vor einer demokratischen Mehrheit warnte, die jedes seiner Vetos zu überstimmen in der Lage wäre, plädierten die demokratischen Wahlmanager für eine überwältigende Mehrheit, weil nun die

Periode der „Regierung durch den Kongreß“ angebrochen sei. Das Wahlvolk gab den Demokraten auch diese Majorität: 61:38 im Senat, und 298:145 im Abgeordnetenhaus. Das waren Ergebnisse, die «-.umindest theoretisch den Kongreß „vetoproof“ machten. (Eine Zweidrittel-Mehrheit ist erforderlich, um ein Veto des Präsidenten zu überstimmen oder um ein Gesetz, gegen das der Präsident Einspruch erhoben hat, wirksam werden zu lassen.)

Der 94. Kongreß hat sich jedoch sehr bald als unfähig erwiesen. Es begann mit einem Ansturm der jungen, unerfahrenen Neugewählten, die drei der älteren Ausschußpräsidenten aus den eigenen Reihen zu Fall brachten. Kein Wunder, daß viele von diesen Bilderstürmern in Schrecken versetzte Demokraten sich den Republikanern näherten und damit die vom Präsidenten gefürchtete radikale Majorität in Frage stellten. Jene neugewählten Ausschußvorsitzenden verfügten weder über Autorität, noch über Erfahrung, so daß Gesetzesvorschläge entweder zerredet, oder zu einem „Fleckerlteppich“ partikularistischer Interessen wurden, die jegliche Sachlichkeit vermissen ließen. Daß diese legislativen Mißgeburten nur selten überhaupt zu Gesetzesvorschlägen wurden, erweckte nicht bloß in der Öffentlichkeit den Eindruck parlamentarischer Impotenz, sondern löste auch in den eigenen Reihen Äußerungen bitterer Selbstkitik aus. So jene des bekannten demokratischen Abgeordneten von Missouri, Bölling: „Wir sehen aus wie eine Horde von Idioten.“ Es ist dabei für den amerikanischen Parlamentarismus noch wohltätig, daß die amerikanische Presse traditionsgemäß über die parlamentarische Arbeit sehr wenig berichtet, sonst könnte das amerikanische Wahlvolk von seinen Mandataren Vorstellungen halten, die der Demokratie mehr als abträglich wären.

Was jedoch im Brennpunkt der Aufmerksamkeit stand, waren die Versuche, vier Vetos, also Einsprüche des Präsidenten, zu überstimmen. In allen Fällen handelte es sich um Vorschläge, bestehende Sozialleistungen zu erhöhen oder neue zu schaffen, also um Maßnahmen, die an sich populär sein müßten, hält man sich vor Augen, daß die Arbeitslosenrate in den USA noch bei etwa 9 Prozent liegt. Es ist dem 94. Kongreß jedoch in keinem dieser Fälle gelungen, die notwendigen Stimmen zu mobilisieren.

Zu sehr ist jetzt die demokratische Majorität zersplittert, zu stark der Ruf aus dem Weißen Haus nach Sparsamkeit und Einschränkung. Die Stimmung, im Lande,, schrieb kürzlich der linksstehende Leitartikler A. Lewis, ist konservativ und “ che Abgeordneten fühlen diesen Pulsschlag. Waren aber schon die Versuche, sich gegen die Einsprüche Präsident Fords durchzusetzen, erfolglos, so waren die Ansätze einer meritori-schen Politik völlige Fehlschläge. Das wurde in der Energiepolitik offenkundig. Präsident Ford ist hier bestrebt, durch künstliches Hochhalten der ölpreise (Einfuhrzölle und Liberalisierung der Inlands-Rohöl-preise) eine Konsumeinschränkung zu erreichen und zugleich einen finanziellen Anreiz zur Erschließung neuer Energiequellen zu schaffen. Man mag dieses Projekt meritorisch ablehnen, und der Kongreß überschlug sich denn auch in Kritik. Aber alle Versuche der Demokraten, sich auf ein Gegenkonzept zu einigen, schlugen in sechs Monaten selbstzerfleischender Debatten fehl, so daß bis zu den Sommerferien keinerlei Alternative vorgelegt werden konnte. Für Präsident Ford war es daher ein leichtes, seine positive Konzeption der Untätigkeit des Kongresses gegenüberzustellen.

Zwar nicht aus Verschulden des 94. Kongresses, sondern seines Vorgängers, ist die amerikanische Außenpolitik in verschiedenen Bereichen in Schwierigkeiten geraten. Als emotionelle Reaktion auf die türkische Invasion Zyperns, sperrte der von griechischen Interessen dominierte Kongreß die militärischen Lieferungen an den NATO-Partner Türkei und schuf so internationale Spannungen, die jetzt die NATO-Flanke Südost bedrohen. Es gibt eben mehr griechische als türkische Wähler in den, USA. Obwohl die Majorität der Parlamentarier schließlich ihren eigenen Kurzschluß erkannte, ist es jetzt schwierig, ohne Gesichtsverlust das Embargo gegenüber Ankara wieder aufzuheben, ohne zumindest optische Konzessionen einzuhandeln.

Nach all dem Gesagten wird es nicht wundernehmen, daß der amerikanische Kongreß zur Zeit im Ansehen der Bevölkerung auf sehr tiefer Stufe rangiert. Man kann auch nicht sagen, daß Präsident Fords Popularitätskurve auf Kosten des kennungsziffern für den Kongreß waren schon auf dem Tiefpunkt, als Fords Popularität nach der Pardo-nierung Nixons absackte. Diese Geringschätzung geht so weit, daß man im Wahlkampf 1976 einem Parlamentarier als Kandidaten weniger Chancen einräumt als einem Administrator, einem Gouverneur etwa, der Verwaltungserfahrungen für sich ins Treffen führen kann. Die Bevölkerung wünscht Entscheidungen und nicht Debatten.

Während aber in anderen Demokratien ein Versagen des Parlamentarismus-gewöhnlich zu, außerparlamentarischen, autökratischeh ' Regie-rungsformen führt, ist die'amerikanische Verfassung so flexibel, diesen antiparlamentarischen Stimmungsfluß aufzufangen und der Administration, der Präsidentschaft, wieder mehr Befugnisse, mehr Vitalität, zuströmen zu lassen. Was sich als totaler Fehlschlag erwiesen hat, ist ein Politik machender, das Land führender Kongreß. Was bleiben wird, ist ein Kongreß, der kontrolliert und bremst und dem Weißen Haus als Korrektiv gegenübersteht. Was die Präsidentschaft im Gefolge Watergates verloren hat, ist sie im Begriffe, zurückzugewinnen. Mit Ausnahme vielleicht der sich selbst zuerkannten Vollmachten zur Kriegsführung und zum Einsatz von Truppen auf längere Sicht, ohne Vollmacht des Kongresses (die sogenannte Tonking-Resolution war ja eine schwache Krük-ke, mittels derer sich der Präsident völlige militärische Handlungsfreiheit arrogierte). Aber selbst diese Handlungsfreiheit könnte ein geschickterer Präsident, als es Nixon war, zurückgewinnen, wenn er eine zwingende außenpolitische Konstellation vorfindet.

So scheint im Augenblick wieder eine Stärkung der Zentralgewalt in den USA einzutreten und das, obwohl der heutige Präsident alles andere als qualifizierende Voraussetzungen mitbringt. Er ist nicht gewählt, er hat wenig Erfahrung als Regierungsvollstrecker und seine allgemeinen Talente sin'd sicher nicht überdurchschnittlich. Aber er scheut nicht vor Entscheidungen zurück, sein Charakter ist lauter und man hat keine Befürchtungen, daß er aus Ehrgeiz Macht im Weißen Haus konzentrieren könnte.

Der Kongreß dagegen muß erst staatspolitische Einsicht beweisen, er muß reines Partei- und Wiederwahldenken zurückstellen und sachliche Arbeit leisten. Es reicht nicht mehr aus, personelle Änderungen zu erzwingen, oder durch Anprangerung gewisser Uberbegriffe des CIA-Geheimdienstes den Bürgerschreck des Polizeistaates heraufzubeschwören. Die Bevölkerung hat erkannt, daß die Gefahr in der Unfähigkeit der Parlamentarier liegt, parteipolitische Egoismen zurückzustellen.

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