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Es gibt keine Zauberformel

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Nach den soeben entschiedenen amerikanischen „Halbzeitwahlen“ scheint es wichtig, eine Bestandsaufnahme der politischen, wirtschaftlichen und inneren Lage der westlichen Führungsmacht durchzuführen, weil ja von hier die Impulse für die übrige freie Welt ihren Ausgang nehmen.

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Nach den soeben entschiedenen amerikanischen „Halbzeitwahlen“ scheint es wichtig, eine Bestandsaufnahme der politischen, wirtschaftlichen und inneren Lage der westlichen Führungsmacht durchzuführen, weil ja von hier die Impulse für die übrige freie Welt ihren Ausgang nehmen.

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Uns interessiert zunächst vornehmlich, wo Amerika heute innenpolitisch steht und wie gewisse Axiome, die man immer anzuwenden pflegt, einzuordnen sind. Eines dieser Axiome lautet, daß in den Vereinigten Staaten mit einer gewissen Regelmäßigkeit „fortschrittliche“ Perioden mit „konservativen“ abwechseln. Unter „fortschrittlich“ und „konservativ“ sind hier nicht unbedingt parteipolitische Begriffe zu verstehen. Vielmehr muß man unter „fortschrittlich“ Initiativen in Richtung auf eine Einschränkung individueller Freiheiten zugunsten des sogenannten „Gemeinwohles“ verstehen, ob es sich nun um Reformen auf dem Gebiete der Sozialgesetzgebung, Um dirigistische Eingrif-

fe in die Marktwirtschaft, um manche Reglementierung und Verwaltung, oder um andere geplante Eingriffe handelt. Schon oft in der amerikanischen Geschichte hat das Pendel zu stark in die Richtung von Reformen geschlagen, so daß dann prompt Korrekturen erfolgten, die mit einem Verdünnungsprozeß verglichen wurden, der die Extreme entschärfte. Ganz zu eliminieren sind die Ergebnisse solcher Reformen niemals.

Als fortschrittlich-reformatorisch wird vor allem die auf die große Depression folgende Periode Roose- velt-Truman gewertet, während die beiden Amtsperioden Eisenhowers zweifellos statisch-konservativ waren. Die reformatorischen Ansätze der Regierungen Kennedy und Johnson wurden durch äußere Einwirkung unterbunden, wobei vor allem der Vietnamkrieg von den internen Reformbestrebungen ablenkte. Daß dann Nixon den Reformer Humphrey knapp aus dem Felde schlug und den für die amerikanische Szene zu extremen McGovem ausschaltete, bewies, daß die reformatorischen Bestrebungen in der Bevölkerung ein bloß geringes Echo fanden und daß Festhalten am Status quo, ja sogar eine stärkere politische Verankerung des stationären Zustandes erwünscht war. Watergate war daher gewissermaßen auch eine Abrechnung der reformatorischen Kräfte mit den Konservativen um Nixon und vielleicht sogar ein verzweifelter Akt der Selbsterhaltung dieser progressiven Kreise, denen unter Nixon und Agnew ein sicherlich nicht den Spielregeln konformer Ausschluß drohte.

Es erhebt sich nun die Frage, wo das politische Amerika unter Ford irn jetzigen Zeitpunkt steht und welche Antwort die soeben abgeführten Halbzeitwahlen auf diese Frage geben.

Wenn man die Resultate von der Parteipolitik her analysiert und Demokraten mit „progressiv“, Republikaner mit „konservativ“ beschildert, so hat es zweifellos einen progressiven Sieg gegeben. Denn Demokraten haben vor allem im Abgeordnetenhaus — weniger im Senat —, aber noch viel stärker auf lokaler Ebene gesiegt. Statistisch geht der Sieg zwar nicht über die üblichen Verluste einer das Weiße Haus regierenden Partei hinaus (diese verliert in den Halbzeitwahlen immer). Da aber selbst Nixons großer Sieg über McGovern Hand in Hand ging mit einer „demokratischen“ Stärkung in den parlamentarischen Körperschaften, ist das Resultat dieser aufeinanderfolgenden „demokratischen“ Siege bemerkenswert. Weiters ist zu vermerken, daß auch innerhalb der Parteien junge, vermutlich progressivere Kräfte in die parlamentarischen Körperschaften einziehen und, wie viele erwarten, die konservativen Führungskräfte beider Parteien herausfordern werden. Mithin also ein Ruck nach links und ein Anknüpfen an die reformatorischen Bestrebungen der Kennedy-Johnson- Zeit, als Vorboten „demokratischen“ Sieges 1976, womit dann Weißes Haus und Kongreß in der Hand reformatorischer Kräfte wären? Der Papierform nach ist dieser Trend kaum aufzuhalten; und doch gibt es genügend Symptome dafür, daß diese Entwicklung nicht unbedingt eintreten muß.

Da sticht zunächst einmal heraus, daß das Vokabularium und die Visionen, die die siegreichen „Progressiven“ den Wählern präsentierten,

keineswegs progressiv waren. Wer McGoverns Kampagne oder die seines ehemaligen radikalen Wahlmanagers Hart verfolgte, hätte darin gegenüber dem Konzept gemäßigter Republikaner fast keinen Unterschied entdeckt. Nun haben zwar McGovern und Hart in South-Dakota und Colorado ein eher ländlich konservatives Elektorat angesprochen und komfortabel gesiegt, aber auch der große Sieger von New York, Gouverneur Carey, ließ jegliche revolutionäre Rhetorik vermissen.

Wenn es in diesen Einzelwahlen einen gemeinsamen propagandistischen Nenner bei den Demokraten gab, so hieß dieser: Ihr Republikaner habt die wirtschaftliche Notlage verschuldet, ihr seid die Partei der politischen Korruption (Watergate) und euer Präsident Ford hat nicht vermocht, eine wesentliche Änderung herbeizuführen.

Momentan befindet sich das Land in einer wenig erfreulichen Pattstellung. Präsident Fords Möglichkeiten sind geringer geworden. Sie waren eigentlich nie wirklich entwicklungsfähig. Gleich nach einer kurzen, bloß einige Wochen währenden Euphorie begann sein Abstieg in der Popularitätskurve. Das hat meiner Ansicht nach nur am Rande mit der Nixon- Amnestie zu tun. Fords taktischer Fehler war es, daß er sogleich eine übertriebene Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Kongreß bekundete und übersah, daß auch der Kongreß im Weißen Haus einen Führer sucht. Nicht einen unnahbaren wie Nixon, aber einen kraftvollen, ideenreichen Initiator von Programmen und Impulsen. Statt dessen versuchte Ford jegliche Initiative mit dem Kongreß solange abzusprechen, bis die Konturen seiner Führung für das Publikum verwischt waren und er heute das Bild eines zwar hochanständigen, aber unentschlossenen und unsicheren Mannes bietet, der seiner Aufgabe kaum gewachsen ist. Freilich ist es schwierig, ohne Anlaufzeit mit den komplizierteren Aufgaben konfrontiert zu werden, und Schonzeit gab es weder in der

Wirtschafts- noch in der Außenpolitik. Es kommt dazu, daß es wohl die beste Wirtschaftspolitik sein könnte, der überall spürbaren Abschwächung ihren Lauf zu lassen, damit die Inflation nachlasse und neue Konsumgewohnheiten aufgenommen werden. Freilich ist das weder populär bei jenen, die arbeitslos werden, oder deren Arbeitsplatz bedroht wird, noch bei jenen, die durch die Teuerung verärgert sind und von statistischen Kurven nichts halten. Viele fühlen auch, daß die Methode des guten Zuredens zum Sparen von Treibstoff und anderen Energieprodukten nicht ausreicht, eine später Krise zu vermeiden und daß diese Taktik des Präsidenten wiederum von Unentschlossenheit zeugt. Das Publikum würde strenge und gerechte Maßnahmen tolerieren, während es sich zwischen Gerüchten und Befürchtungen unsicher fühlt.

Daß Präsident Ford außenpolitisch noch nicht in Erscheinung treten konnte, exkulpiert ihn nicht. Vielmehr ist erkennbar, daß sich die Lage im Mittleren Osten wesentlich verschlechtert hat und daß der für die Position der Vereinigten Staaten im Mittelmeer so nachteilige Zypern- konflikt mit seinen Auswirkungen auf das Verhältnis zu den verbündeten Griechen und Türken in die Regierungszeit Fords fällt. Zweifellos \hat das Ansehen und der Respekt vor den USA durch die Watergatekrise gelitten und zweifellos steht heute nicht mehr jene Macht hinter Henry Kissinger, die noch zur Zeit Nixons dazu beigetragen hat, das Steuer im Mittelmeer nach dem letzten Arabisch-Israelischen Konflikt herumzuwerfen. Nachdem Außenpolitik im wesentlichen das Ergebnis des Einsatzes des verfügbaren Potentials eines Landes ist und viel weniger das einer geschickten Taktik oder Manipulation, wird sich die innenpolitische Schwächung zweifellos außenpolitisch auswirken und den Präsidenten jener Anerkennung berauben, die man Nixon nicht einmal nach Watergate absprechen konnte. Die stattgehabte Begegnung mit Breschnew in Wladiwostok hat zwei Staatsmänner zusammengeführt, die unterschiedliche Machtpositionen bekleiden, so daß allfällige Ergebnisse, wenn nicht kosmetisch zurechtgeschminkt, diese geänderte Machtlage reflektieren müssen.

Ist also Präsident Fords Lage, und sind die Möglichkeiten seiner Par-

tei, durch Verdienste in den beiden Jahren vor der nächsten Präsidentschaftswahl aufzuholen, beschränkt, so befindet sich die demokratische Partei trotz ihres eklatanten Wahlsieges auch nicht in günstiger taktischer Position. Ihre Schwäche besteht darin, daß die Erwartungen der Allgemeinheit nun auf sie gerichtet sind, sie werde die Wirtschaftsproblematik meistern können. Es ist jedoch klar, daß die überaus komplexe Situation nicht durch eine Zauberformel zu lösen ist, weil Imponderabilien wie die Entwicklung der Ölpreise und die Lebensmittelknappheit eine entscheidende Rolle spielen. Überdies kann eine heterogene Körperschaft wie der Kongreß niemals programmatisch führen, da zu viele divergierende Auffassungen einem gemeinsamen Programm im Wege stehen. Es erscheint daher als durchaus möglich, daß die amerikanischen Wähler, von denen sowieso über 60 Prozent am 5. November zu Hause blieben, die Demokraten im November 1976 ablehnen werden, wenn diese ihren Vorschußlorbeeren nicht gerecht wurden.

Notwendig für das Land ist eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Weißem Haus und Kongreß, wie sie Ford noch in der Wahlnacht angeboten hat. Aber bei dieser Zusammenarbeit muß die Konzeption und die Initiative im Weißen Haus liegen. So eine Kooperation würde der Wähler honorieren — und zwar beiden Seiten gegenüber. Der Hauptgewinn würde politisch jedoch Ford zukommen. Sollte sich die wirtschaftliche Lage jedoch weiter verschlechtern und sollten die Demokraten — bei denen jetzt der politisch vulnerable Kennedy ausgeschieden ist — einen vernünftigen Präsidentschaftskandidaten aufstellen, dann könnte das Argument ziehen, daß ein Weiterwursteln im Weißen Haus der Grund allen Übels sei und daß das Land eine solide demokratische Regierung brauche. Einen Demokraten im Weißen Haus mit einem demokratischen Kongreß. Dann könnte auch jener programmatische Ruck nach links eintreten, den viele erhoffen — heute jedoch eine Mehrheit fhöch“ bei drehtet. Wohin dann diese reformatorische Phase führen würde, kann heute keiner Voraussagen. Das Amerika, wie wir es heute kennen, würde jedoch kaum überleben.

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