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Am Potomac dauerte der Winter lang . . .

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Präsident Reagan hat neue Vorschläge für START gemacht. Die neue US-Bot- schafterin * kommt nach Wien. Während sich die offizielle Regierungspolitik flexibel zeigt, agieren Parteipolitiker stur.

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Präsident Reagan hat neue Vorschläge für START gemacht. Die neue US-Bot- schafterin * kommt nach Wien. Während sich die offizielle Regierungspolitik flexibel zeigt, agieren Parteipolitiker stur.

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Zunächst einmal nimmt sich alles noch ein wenig schlimmer als erwartet aus: das kaltschnäuzige Wortgerassel von Sprengköpfen, Trägerraketen und Nutzlasttonnen, die Verachtung für die „nützr liehen Idioten“ der Friedensbewegung, die mitleidlos eindimensionale Einteilung aller Diktatoren der Welt in kommunistische und nichtkommunistische, üble und gute also.

Nein, Sinn für Nuancen kann man ihnen nicht nachsagen — den Hilfstruppen der Reagan-Armee, die in „Beratergruppen“ und „Aktionskomitees“ die Entscheidungsgremien in Washington ein- zingeln und unterwandern und im traditionsgeheiligten Ritus des Party-Zirkus die Washingtoner Society und Snobiety über Gott und die Welt belehren.

Und über Lenin: Mit ausgewählten Zitaten, die Marxismuskenntnis verraten sollen, sind sie alle versorgt. Wer dagegen zu differenzierter Argumentation ansetzt, ist rasch abgestempelt: als Defaitist, als Naivling, als Werkzeug im Dienst marxistischer Agenten, die hinter jeder Ecke lauern — vor allem aber im State Department.

Eine Verkürzung, Vereinfachung, Übertreibung der Situation? Wohl ja. Dennoch läßt die Dichte solcher Erfahrungen, wie man sie auch bei einem nur kurzen Aufenthalt im Reagan-Washington erfährt, kaum Zweifel zu: Der kalifornische Wind weht scharf auch am Potomac, wo der Sommer heuer spät und zögernd nur sich eingefunden hat. Hier ein paar typische Formulierungen aus einer Mehrzahl von Gesprächen:

„Wir sind tausende Meilen vom Eisernen Vorhang entfernt und kapieren offenbar besser, was die Russen Vorhaben, als ihr, die ihr als deren Nachbarn lebt.“ Oder: „Die Jahre, in denen noch amerikanische Soldaten in Europa stehen werden, könnt ihr an den Fingern abzählen. Lange machen wir das nicht mehr mit!“ Und: „Wir brauchen euch nicht — ihr braucht uns!“

Etwas verstört von so viel ätzender Säure im üblicherweise honigsüßen Plauderwein der Washingtoner Gesellschaftsszene, hofft man, im Außenministerium den Sarkasmus wenigstens in artige Diplomatenfloskeln umgegossen zu erfahren. Aber schon im Büro von Bernie Halloran von der Abrüstungsbehörde (Arms Control and Disarmanent Agency) findet sich der saloppe Partyton nur sanft gemildert wieder:

Hinauszögerung der Aufstellung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern bei Fortschritten in den INF-Verhand- lungen von Genf? „Im Dezember 1983 werden die ersten Raketen in Sizilien einsatzbereit sein.“ Kompromisse bei den START-

Verhandlungen über strategische Raketen? „Viel an Änderung ist da nicht drin.“ Zusammenlegung von INF und START, weil sich ohnehin keine klaren Grenzen zwischen Offensiv- und Defensivwaffen mehr ziehen lassen? „Vielleicht später einmal, jetzt sicher nicht.“

Diesen Standpunkt vertritt auf eine FURCHE-Frage auch der stellvertretende US-Außenmini- ster Richard Burt, obwohl dieser intern als Verfechter einer solchen Vorgangsweise bekannt ist, die von immer mehr Fachleuten verlangt wird. Darf er sich öffentlich schon deshalb nicht dazu bekennen, weil auch Ex-Außenmi- nister Henry Kissinger jetzt diese These verficht?

Kissinger ist für die radikalen Reaganiten noch immer der Gottseibeiuns in Person — weil er „mit seiner Entspannungspolitik den Westen verraten hat“.

Den Westen verrät in dieser Sicht auch jeder, der etwa die Auffassung vertritt, der Unruheherd Zentralamerika sei nicht nur durch Militärberater und immer neue Waffenlieferungen, sondern vor allem durch Beseitigung schreienden sozialen Unrechts auf Dauer zu befrieden: „Wir haben Milliarden Dollar Wirtschaftshilfe nach Lateinamerika gepumpt und die Armut ist geblieben, während sich die Herrscher bereichert haben — sollen wir jetzt Zusehen, wie die Kubaner als Agenten Moskaus Nikaragua, dann El Salvador, dann Mexiko umdrehen? “

Der Hinweis auf die bisherige Wirtschaftshilfe baut in der Tat eine Brücke zum besseren Verständnis solcher Großmachtfrustrationen. Man kann und muß zwar einwenden, daß die Wirtschaftshilfe vergangener Jahre weithin falsch strukturiert war und Reiche in der Dritten Welt bereichert, den Massen der Armen aber wenig gebracht hat — dennoch handelte es sich dabei nicht um böse Absicht.

Wir müssen alle erst lernen, wie der Dritten Welt am besten zu helfen istv Daß die Amerikaner es müde sind, dafür allein Lehrgeld zu zahlen und hinterher auch noch beschimpft zu werden, ist zu verstehen.

Ein weiteres auch: daß sie bitter darüber sind, jahrelang aus Euro pa den Ruf nach „klarer Führung“ vernommen zu haben, jetzt aber feststellen müssen, daß die von Präsident Reagan gebotene „klare Führung“ von den Westeuropäern nur widerwillig angenommen wird.

Bei näherem Zusehen erweist sich ein Teil der Bitternis also nicht als so unverständlich. Das gilt auch für die Debatte über Aufrüstung und Technologie- Transfer: Es ist ein totaler Widersinn, Milliarden in sündteure neue Waffensysteme zu stecken, mit denen wettgemacht werden soll, daß die Sowjetunion ihr Kriegsarsenal laufend verbessert — mit westlicher Computertechnologie.

- Schließlich wird von ständigen Beobachtern der Washingtoner Szene bei aller Besorgnis über den Primitivtrend in gewissen regierungsnahen Kreisen doch auch hervorgehoben, daß die Reagan- Administration sich als lernfähig erweist. Ausdruck dafür sind Reden des Präsidenten in jüngster Zeit, die wachsenden Realitätssinn verraten. (Die „Krieg-der Sterne“-Rede ist sicher eine Ausnahme.)

Der Umschwung kam mit der großen Reagan-Ansprache zum Thema START am 18. November 1981, mit der Aram Bakshian seinen Einstand als Deputy Assistant to the President feierte: ein armenie'nstämmiger Österreich- Freund von intellektueller Brillanz, der zwar konservativ, aber eben gescheit ist — und gescheite Konservative sind in einer Zeit immer spektakulärer werdender Umwälzungen ebenso unverzichtbar, wie primitive Reaktionäre gefährlich sind.

Bakshian ließ auch der FURCHE gegenüber in einem inoffiziellen Gespräch die Flexibilität der Regierung anklingen. Sie kam auch bei Vize-Außenminister Richard Burt zum Ausdruck, der. wenigstens theoretisch noch die Möglichkeit einer Euroraketen- Vereinbarung vor Jahresende für gegeben hält.

Schließlich findet sich im Außenministerium auch noch eine Stimme zum Thema Zentralamerika, die wegen ihres Wirklichkeitssinnes aufhorchen läßt. Zwei Zimmertüren von Ex-Vizeminister Thomas O. Enders entfernt, dessen Name noch auf dem Türschild prangt, beteuert Michael Skol, es habe sich bei der Ablösung Enders’ als Chef der US-La- teinamerikapolitik mehr um eine beabsichtigte Stil- als um eine Politikänderung gedreht. Man wisse sehr wohl, daß die dauerhafte Stabilisierung nur durch Sozialreformen und nicht durch Militäraktionen zu erzielen sei.

Skol, der Vizedirektor des Büros für zwischenamerikanische Beziehungen ist, erinnert daran, daß die USA „mehr als irgendein Land, die Sowjetunion eingeschlossen“, an die Sandinisten-

Regierung Nikaraguas gegeben habe (insgesamt 120 Millionen Dollar), ehe deren Abdriften in rein marxistisches Fahrwasser und die aktive Unterstützung sowjetisch-kubanischer Waffentransporte den Hilfsstopp erzwungen habe.

Schließlich muß man auch die jüngsten Vorschläge Präsident Reagans für eine Revision des amerikanischen START-Pro- gramms in das Kapitel „wachsende Flexibilität“ rechnen, um das eingangs geschilderte Stimmungsbild zu relativieren. Das Schwergewicht soll bei den künftigen Verhandlungen von der Zahl der Trägersysteme auf die Zahl der Sprengköpfe verlagert werden, was sicher sinnvoll ist: Ob acht Atombomben von acht Raketen oder (wie im Fall der SS 18) von nur einer antransportiert worden sind, ist egal für jene, die sie treffen werden —

Es gibt einige Gründe für die Annahme, daß Ronald Reagan die Kritik an seiner „Waffenphilosophie“ allmählich ernsthaft zu irritieren beginnt. Daß er nicht leichtfertig einen Krieg oder gar einen Atomkrieg vom Zaun brechen möchte, darf man ihm glauben.

Umgekehrt müßten endlich auch einige Leute in seiner Umgebung einmal begreifen, daß man über die Methodemzur Kriegsverhütung unterschiedlicher Meinung sein kann und daß ein brutales Wettrüsten auch eine wirtschaftlich unterlegene Diktatur nicht in die Knie zwingt, wohl aber zu unüberlegten Ausbrüchen veranlassen kann.

Darüber wird auch mit der neuen US-Botschafterin Helene von Damm, die am 16. Juni in Wien eintrifft, anregend zu diskutieren sein. In der äußeren Form ver-US-Botschafterin Helene von Damm: Politisch stahlhart (Votava) bindlich-charmant, ist sie im Kern ihrer politischen Ansichten stahlhart — im Sinne Reagans und seines „geheimen Ministerpräsidenten“ William P. Clark.

Sicher kommt sie gern nach Wien. Aber man kann in Washington auch hören, daß sie von den Leuten um Vizepräsident George Bush und Kabinettschef James A. Baker, denen sie im Weißen Haus zu mächtig geworden war, heftig weggelobt worden sei. Dafür geht jetzt den Clark-Leuten ein Jahr nach seinem Amtsantritt auch Außenminister Georg P. Shultz schon wieder auf die'Nerven.

Das Machtspiel ist in Washington immer dann besonders hart, wenn es auch noch die Tatsache überdeckt, daß hinter der Fassade wortgewaltiger Rhetorik kein umfassendes weltpolitisches Konzept auf Verwirklichung wartet.

Daß Antikommunismus allein noch kein Konzept ist, geben auch jene zu, die ansonsten mit Stolz ihre Trumpfkarte ausspielen: Seit Ronald Reagan am Rqder ist, hat es nicht nur keinen Krieg, sondern auch nirgendwo in der Welt ein neues Exerzierfeld sowjetischer Expansionspolitik gegeben.

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