6704717-1963_47_05.jpg
Digital In Arbeit

An den Rand geschrieben

Werbung
Werbung
Werbung

FORMEN UND SINN DER DEMOKRATIE. Politikerreden gehören bekanntlich nur selten zu den bleibenden Dokumenten der politischen Ideengeschichte, denn sie werden nur zu off dem Augenblick und dem Publikum angepaßt. Diese Fehlerquellen darf man nie vergessen, wenn man prominente Politiker, wie neulich wieder den Vizekanzler, in öffentlichen Reden über Sinn und Formen der Demokratie, des Parlamentarismus oder gar der Zusammenarbeit dozieren hört. Der schönste Gedanke kann da einen Hintersinn haben, der die nicht ganz gleichwertige Absicht merken läßt. Aber es ist trotzdem bedauerlich und gehört wohl zu den unterentwickelten Formen des demokratischen Lebens in Österreich, daß die früher doch zumindest diskutierte Frage des Sfaatsfeierfages längst wieder eingeschlafen ist, und daß zum Beispiel die Sozialistische Partei den 12. November ganz und gar als „ihren" Feiertag betrachtet, wohl wissend, dal; sie damit einen zweifachen Fehler begeht: erstens tut sie an diesem Tag so, als wenn sie im Gegenstand Geschichte das Lehrerdiplom erworben hätte, und zweitens verstellt sie den Weg für die anderen, die es denn auch noch gibt (Partei kommt noch immer von pars). Die anderen: sie scheinen freilich notorisch andere Sorgen zu haben. Aber Sorgen haben alle. Das ist noch kein Grund zu schweigen, wo man antworten, ja etwas tun müßte.

ENDLICH DIE WOHNUNGSFRAGE! Gute Nachricht aus der Kärtner Straße: Das ÖVP-Konzept zur Lösung der Wohnungsmisere wurde kürzlich in der Bundesparteileitung ernstlich diskutiert. Die Grazer „Kleine Zeitung" nahm diese erfreuliche Mitteilung zum Anlaß, auf die Divergenz der Meinungen in der Volkspartei hinzuweisen, aber mit dem doch positiven Hinweis darauf, daß es sehr in Ordnung ist, wenn die Interessengegensätze heftig aufeinanderprallen: am Ende kommt vielleicht etwas Brauchbares heraus. Das haben dann manche Schönfärber den „ewigen Nörglern” übelgenommen. Als ob nicht Schönfärbereien und faule Ausreden zu den Hauptursachen des Übels gehörten, wenn das Mietenchaos immer ärger wird und die Wohnung, geschweige denn das Eigenheim, für den Familienerhalfer, falls er nicht einmal am richtigen (Partei-) Draht sitzt, unerschwinglich bleibt. Nun ist also immerhin die Diskussion im Gang. Der Bundesparteiobmann der Volkspartei hat in einer Erklärung, die in einer einschlägigen Korrespondenz veröffentlicht wurde, den Rahmen abgesteckt, in dem sich eine schrittweise Neuordnung auf dem Mieten- und Wohnbausekfor Platz hätte. Hauptsächlich ginge es ihm um die soziale Gerechtigkeit, denn die Unterschiede in der Miefzinshöhe widersprechen jeder Ordnung, die man einigermaßen für sinnvoll oder gar gerecht halten könnte. Das gleiche gilt besonders auch für die Wohnungsbeihilfen. Sehr beachtlich sind auch die Vorschläge, die das Institut für Sozialpolitik und Sozialreform jüngst veröffentlicht hat. Es werden da individuelle Wohnungsbeihilfen vorgeschlagen, ferner wird unter anderem auch die bevorzugte Zuteilung geeigneter Wohnungen an Wohnungssuchende Familien angeregt. Es wäre noch zu wünschen, daß die sachliche Atmosphäre auch bei künftigen Verhandlungen auf Koalitionsebene vorherrschen und einen guten Ausgang verheißen würde.

DIE EINGEROSTETE SCHRAUBE. Österreichs Kinos sperren zwei Tage zu, auch die des sozialistischen Kiba- Konzerns, dem die quasi mifsfreiken- den Verleiher einen Gewissenskonflikt abgenommen haben. Der Hintergrund des höchst ungewöhnlichen Gewerbestreiks ist bekannt. Wir haben 30 Millionen Kinobesucher im Jahr weniger als vor fünf Jahren, aber immer noch drei Sondersteuern auf den Kinos, die sonst kein anderes Gewerbe auf dem Buckel hat. Warum eigentlich? Je nun, es wäre natürlich einfach, beispielsweise den Kulfurgroschenertrag dem Budget zu entnehmen, aus dem er als Mäzen subventionierter Kultureinrichtungen entnommen gehört. Noch einfacher und bequemer ist es allerdings, ihn bei den Kinos zu kassieren, weil er dort schon jahrelang kassiert wurde, was das Organ der österreichischen Filmwirfschaft zutreffend die „eingerostete österreichische Steuerschraube" nennt. Menschlich verständlich, aber taktisch unklug ist dabei der neidvolle Seitenblick auf den „Kulturfimmel” und die „kulturelle Großmannssucht” in Österreich, gegen die sich die Filmleufe in Schlagworten, wie Karajanitis, New Yorker Krisfallusfemachf, Subventioni- tis und Festspielepidemie, zwar publikumswirksam, aber sachlich nicht zutreffend, ja sogar sich selbst wieder gefährdend, Luft machen. Denn es gibt nur eine, unteilbare, Kultur. Wir wollen sie, die eine wie die andere, von der hier die Rede war,

nicht entbehren. Mögen die Kinobesitzer also für sich und nicht gegen andere (und damit wieder gegen sich!) streiken.

VON LONDON AUS GESEHEN. Die Generaldebatte über die Thronrede im britischen Unterhaus bot der neuen Regierung Gelegenheit, ihre Karten nacheinander vorsichtig auf den Tisch zu legen. Die Betonung liegt auf vorsichtig, und die Stimmung war in Westminster nach übereinstimmenden Pressemeldungen eher flau und lustlos als so kämpferisch, wie man es nach den bisherigen Äußerungen des kräftestrofzenden Labourführers Wilson und seiner Mannen eigentlich erwartet hatte. Aber trotzdem war dem in der Thronrede enthaltenen Regierungsprogramm anzumerken, daß am Ende dieser Legislaturperiode der Wahlkampf stehen wird. So lautete denn auch das Losungswort für die Außenpolitik Frieden und Sicherheit, und für die Innenpolitik Modernisierung und Prosperität. Der Premierminister stellte das Moskauer Abkommen über den Versuchsstop stark in den Vordergrund, aber jeder Zeitungsleser mußte wissen, daß sich die Szenerie seither einigermaßen wieder gewandelt, und daß die Konservierung eines blanken Optimismus der damaligen Stunde nicht viel Sinn hat. Butler fügte in seiner ersten Rede als Außenminister diesen optimistischen Prognosen zwar einige korrigierende Details hinzu, konnte aber zum Dilemma Londons in der Frage der NATO-Nuklearstreitkraff nur wenig Neues sagen, ebensowenig zur Frage der EWG-Beziehungen Englands. Ein neuer Kurs wurde nirgends sichtbar.

DIE ÜBERRASCHUNG. Am meisten überrascht war wohl Präsident Kennedy selbst von der prompten Erfüllung seiner Forderung nach Freilassung des amerikanischen Professors Barghoorn, der — wie erinnerlich — vor einigen Wochen in Moskau unter Spionageverdacht verhaftet worden war. Was hat die Russen zu diesem völlig unerwarteten Nachgeben veranlaßt? Eine Untersuchung der von der Sowjetunion aufgezogenen Spionageaffären zeigt, daß Moskau jeden dieser Fälle in einer Art behandelt hat, die für westliche Beobachter zunächst ein Rätsel darstellfe. Es sei hier nur an den U-2-Piloten Powers erinnert, der zu gegebener Zeit aus der Versenkung geholt wurde, schließlich jedoch — statt den lebenslangen Kerker abzusitzen — nur ausgewiesen wurde. Die Freilassung Barghoorns könnte möglicherweise zwei Gründe haben: Ob die Verhaftung des Professors auf den Übereifer eines Moskauer Polizisten zurückzuführen war, wie manche amerikanische Diplomaten glauben? Schon eher wahrscheinlich wäre es, Barghoorns Entlassung der eben wieder anlaufenden „weichen Welle” Moskaus zugute zu halten oder mit der Vermutung in Zusammenhang zu bringen, daß Chruschtschow nicht mehr an dem einzigen Schalthebel sitzt, sondern daß auch in der Sowjetunion manchmal eine gewisse Unordnung in die Machtbefugnisse kommen kann. Ein Schwächezeichen der Russen stellt er wohl sicher nicht dar. Präsident Kennedy denkt auch realistisch genug, um dies klar zu erkennen. Barghoorn selbst sagt nichts. Außer, daß er „korrekt” behandelt wurde. Und dies gibt herzlich wenig Aufschluß.

NASSER WIEDER IM SPIEL. Das Schaukelspiel im Nahen Osten geht weiter. Die BAATH-Partei ist diesmal unten, gestürzt durch ein Nasser- freundliches Militärregime des Staatschefs Aref. Aref versicherte denn auch gleich, es werde nun der Versuch unternommen werden, jene Kluft zu überbrücken, diedieBAATH- Anhänger bisher vom ägyptischen Staatspräsidenten Nasser getrennt hat. Und damit ist Ägyptens Staatschef wieder groß im Spiel. Seine Truppen stehen in Algerien — leise Erinnerungen an die „Legion Condor" beschwörend —, der Irak geht zu ihm über. Alles läuft für ihn bestens. Bis auf Syrien. Syrien will nicht recht. Es versetzt seine Streitkräfte in Aiarmzustand. Was wird Nasser also als nächsten Schritt unternehmen? Nach der Festigung des Milifärregi- mes im Irak wird wahrscheinlich Syrien aufgeweichf werden. Blenden wir 45 Jahre zurück: 1917 18, ein blutiger, grausamer Krieg tobt im Nahen Osten, ein Krieg, nach dessen Ende idealistische Pläne einer Neuordnung dieses ehemals türkischen Raumes verwirklicht werden sollen. Wo sind die Pläne heute? Sie vergilben in den Archiven. Und der Nahe Osten, der unter der türkischen Herrschaft halbwegs in Frieden leben konnte, ist heute ständiger Unruheherd, Experimentierfeld aller Blöcke, eine Bühne, auf der alle paar Monate die Farce vom großägypfischen Reich über die Bretter geht. Zu Ende gespielt konnte das Stück allerdings bis heute noch nicht werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung