6745491-1967_07_04.jpg
Digital In Arbeit

Chancen und Risiken

Werbung
Werbung
Werbung

Mit Recht hat die sozialistische wie die nichtsozialistische Öffentlichkeit dem Parteitag der SPÖ mit Interesse, ja Spannung entgegengeblickt; nun, da der Parteitag vorüber ist und das Ergebnis vorliegt, erhebt sich allenthalben die berechtigte Frage, öb der Parteitag die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt hat oder nicht. Der Wechsel in der Person des Parteiobmanns wird in der Öffentlichkeit überwiegend begrüßt und als Symptom oder doch als Hoffnungsschimmer der Regeneration der Partei aufgefaßt, an der nicht nur der Parteigänger der SPÖ, sondern jeder Demokrat, der es mit der Demokratie ernst nimmt und somit die Leistungsfähigkeit der großen Parteien und ihre Fähigkeit zur Erstellung von Alternativen wünscht, besonders lebhaftes Interesse haben muß.

Die Befriedigung über den Wechsel im Vorsitz macht bei näherem Hinsehen und einigem Nachdenken bei gar manchem der kühlen Skepsis und der ernüchterten Feststellung Platz, daß sich im Grund doch gar nicht so viel verändert habe. Wohl sei ein neues Statut beschlossen worden, das die Verteilung der Gewichte innerhalb der Partei zugunsten der Bundesländer verschiebe, doch es säßen nach wie vor mit der Parteikrise belastete Personen an einem Tisch, es sei zu keiner ideologischen Grundsatzdiskussion und zu keiner Ausarbeitung eines Oppositionskonzeptes, zu keiner Erörterung einer zielführenden Strategie der Politik der Partei für den kommenden Zeitraum gekommen. Auf den zweiten Blick scheint also der Optimismus, der sich auf den ersten Blick hin einstellte, trügerisch zu werden und die Sicht auf eine nach wie vor ungelöste Situation freizugeben.

Erneuerungsprozeß kommt in Gang

Trotzdem glaube ich, daß man den Parteitag überforderte, wenn man sich zu viel von ihm erwartete und daß der erste Blick in diesem Falle weiter und tiefer sieht als der von Zweifeln umwölkte zweite. Freilich: es soll und darf nicht verkannt werden, daß die Erneuerung der Sozialistischen Partei ein Prozeß ist, der eben erst in Gang kommt und unter Umständen noch lange und schmerzliche Wege zu gehen hat. Doch das ändert nichts daran, daß in der Wahl des neuen Obmanns Kräfte und Tendenzen manifest geworden sind, die früher schwach waren oder keinen Anlaß fanden, sich ihrer latenten Stärke zu besinnen. Die Wahl Kreiskys zum Parteiobmann ist nicht bloß der Austausch einer Persönlichkeit gegen eine andere, sondern Ausdruck von Tendenzen, die nur zum Teil bewüßt' verfolgt wurden, die aber nichtsdestoweniger nach ihrer Freisetzung ein Eigenleben entwik-keln werden. Was ist also wirklich geschehen? Ich will versuchen, die mir am wichtigsten erscheinenden Ergebnisse kurz- und langfristiger Natur in acht eng miteinander zusammenhängenden Punkten zusammenzufassen, die aber zum Zweck der Vergagenwärtigung der in diesem Geschehen verborgenen Kräfte isoliert werden müssen.

1. Der augenfälligste, vordergründigste und wohl am bewußtesten verfolgte Aspekt ist der des Vordringens der Bundesländer, die sich von der Gefahr bedroht sahen, durch die Politik der Führung um die Früchte ihres in den Ländern geleisteten Arbeitens betrogen zu werden. Diese Föderalisierung der Partei, die in der Zusammensetzung des neuen Parteivorstandes und in der des erweiterten Präsidiums ihren Niederschlag findet, ist in der gegenwärtigen Situation Grund zu Optimismus.

Es scheint, daß der Geist, der noch erneuernd wirken kann, schon seit längerer Zeit aufs Land gezogen ist und daß die Wiener Organisation, obwohl eine der wenigen ganz großen Nachkriegsbegabungen des österreichischen Sozialismus an ihrer Spitze steht, aus verschiedenen, zum Teil in den Anpassungsschwierigkeiten der Organisationen in großen Siedlungen überhaupt gelegenen Gründen, vorübergehend nicht mehr jene Impulse geben und jene Vorbildwirkung auszustrahlen vermag wie in der Zwischenkriegszeit. Es ist daher nur im Interesse der Gesamtpartei, wenn hier ein Zuzug für eine Blutauffrischung sorgt. Die Mitwirkung der Länder ist aber auch eine Bremsvorrichtung gegen eine allzu phantasievolle und improvisierte Politik der Vergangenheit, der die Konsequenz mangelte.

Das Ende des Einheitsmythos

2. Die Wahl Kreiskys war das Ergebnis einer in harten Diskussionen geführten Auseinandersetzung, sie erfolgte zwar mit einer schönen und für einen Parteiobmann durchaus ausreichenden Mehrheit, aber nicht mit jener peinlichen Einstimmigkeit, die nicht immer das Ergebnis einer vom Geist überwältigten Akklamation und Übereinstimmung, sondern vielfach das Resultat einer Manipulation war. Der wesentliche Fortschritt bei dieser Entscheidung bestand darin, daß der Parteitag nicht, wie es die Tradition nahegelegt und wie es als Ausweg angeboten wurde, die Flucht in die Unverbindlichkeit einer niemanden echt befriedigenden Lösung angetreten und nicht die in der Politik auf lange Sicht stets problematische Linie des geringsten Widerstandes gewählt, sondern sich dazu aufgerafft hat, eine sachlich überlegene Lösung durchzukämpfen und dafür den Preis der Verstimmung der Überstimmten in Kauf zu nehmen.

Ein solcher Vorgang ist in den demokratischen Parteien aller Welt eine Selbstverständlichkeit, in der österreichischen Partei verdient er als entscheidender Fortschritt vermerkt zu werden, denn seit den Tagen von Hainfeld hat die Angst vor der Spaltung und dem Aufreißen von Gegensätzen fast immer dazu geführt, daß Einheitslösungen gefunden wurden, die die aufgeworfenen Probleme in Wahrheit nicht lösten, sondern verschleierten und vertagten. So war es nach der heftigen Debatte zwischen Renner und Bauer am Parteitag 1927, als eine Einheitsresolution den taktischen Gegensatz in der Frage der Gewinnung der Mehrheit auffing, ohne damit das Problem zu lösen, ja in Wahrheit wurde es mit diesem Ausweichen an den entschlossen handelnden politischen Gegner oder an die Geschichte delegiert, und so blieb es noch am letzten außerordentlichen Parteitag, als eine mehrdeutige Resolution den Gegensatz in der Frage Koalition oder Opposition verschleierte, bis dann die Entscheidung in letzter Minute mehr abgenötigt als gefällt wurde. Die Wahl Kreiskys hat demonstriert, daß Einheit und Einstimmigkeit nicht synonyme Begriffe sind und daß es der Einheit einer Partei durchaus nicht schadet, wenn sie Gegensätze austrägt, statt sie weiterzuschleppen.

3. Der zweite Aspekt der einer Auseinandersetzung nachfolgenden Wahl Kreiskys war der eines Sieges unverfälschter Demokratie. Niemand kann nach dieser Wahl ruhigen Gewissens behaupten, daß die SPÖ keine demokratische Partei sei. Robert Michels hat mit seiner Aussage über den Sieg oligarchischer Tendenzen in den sozialdemokratischen Parteien diesmal unrecht behalten.

Keine Schwarzweißmalerei

4. Die Wahl Kreiskys hat mit dem Stereotyp aufgeräumt, daß derjenige ein guter Sozialist sei, der vom Gegner angegriffen werde, und derjenige ein schlechter, der von ihm Lob erfahre. Diese Faustregel hat nur dazu gedient, unliebsame Kritiker zum Schweigen zu bringen und alle jene, die berechtigte Kritik einstecken mußten, ungeschmälert und mit gutem Gewissen an der Macht zu erhalten. Diese Argumentation wurde von einem Delegierten des Parteitages mit Recht als Schwarzweißmalerei bezeichnet, die man durch einen Farbfilm ersetzen müsse. Die in diesem Satz Victor Adlers, der für ganz andere Verhältnisse als die heutigen geprägt wurde, zum Ausdruck kommende Mentalität ist in Wahrheit quasi totalitär, jedenfalls eine unzulässige Vereinfachung, die von der Realität auf Schritt und Tritt Lügen gestraft wird. Außerdem ist dieses Stereotyp merkwürdigerweise geeignet, das Gegenteil dessen zu bewirken, was es verhindern soll: nämlich, dem „Gegner“ dadurch eine Einflußmöglichkeit zu geben und ihm das Gesetz des Handelns dadurch zu übertragen, daß er, im Vertrauen auf die Gültigkeit dieses Satzes, von ihm einen irreführenden Gebrauch macht.

5. Die Wahl Kreiskys war der Sieg einer großen Persönlichkeit, die sich über alle Kritiken und Schwierigkeiten — auch über die Belastungen ihrer eigenen Vergangenheit — hinweggesetzt und durchgesetzt hat. Auch dieses Moment sollte nicht übersehen werden, wir loben, ob es uns gefällt oder nicht, in einer Zeit, in der Persönlichkeiten eine zunehmende Rolle spielen und es einfach nicht mehr genügt, Programme zu servieren. Die Wahl Kreiskys ist ein Symptom dafür, daß auch die Sozialistische Partei dieser Zeittendenz Rechnung zu tragen beginnt. Das Auslesesystem der Sozialistischen Partei ist wenig persönlichkeitenfördernd, sonst hätte es ein größeres Angebot für die Position des Parteiohmanns geben müssen; um so erfreulicher erscheint es, daß die Partei von diesem Glücksfall Kreisky Gebrauch gemacht und ihn an die Spitze gebracht hat.

6. Dieser persönliche Erfolg Kreiskys ist um so höher zu veranschlagen, als er einer Tradition abgerungen wurde, die seit dem Nationalsozialismus alle Bevölkerungsteile erfaßt hat und die daher in den Diskussionen rund um die Wahl des neuen Parteiobmanns nicht übergangen werden konnte: nämlich der des Antisemitismus. Die Tatsache, daß sich die Delegierten der Bundesländer, die für dieses Vorurteil traditionell anfälliger sind als Wien, über dieses unterschwellige Argument hinweggesetzt und der Persönlichkeit den Tribut geleistet haben, den sie verdient, ist ein erfreuliches Zeichen dafür, daß die Sozialisten den antisemitischen Stier, der von Zeit zu Zeit Von 'den Ketten losbricht und seine Urlaute hörbar macht, bei den

Hörnern gepackt und damit hoffentlich für immer gebändigt und als Massenattraktion ausgeschaltet haben. Dieser historische Sieg über den Antisemitismus ist in aller Stille mit über die Bühne gegangen, daher soll er wenigstens anläßlich des Versuchs einer kritischen Bestandaufnahme nicht verschwiegen werden.

Ein Sieg der Öffnung

7. Die Wahl Kreiskys war ein Sieg der Richtung „Öffnung“ über die Richtung „Schließung“, was nicht ganz mit rechts und links zusammenfällt (obwohl sich der linke Flügel paradoxerweise als Verteidiger des Status quo in eine Rolle begeben hat, die seiner Grundnatur widerspricht). Kreisky ist keineswegs ein Mann der „Reformer“, er hat sich von der „linksliberalen Volkspartei“, die sich Koref und Leser als Etikette für eine moderne Sozialistische Partei gewählt hatten, ebenso distanziert wie vom doktrinären Marxismus. Nun — es wird sich erweisen, wer mit seiner theoretischen Einschätzung der gesellschaftlichen Wirklichkeit Recht behält, es kommt in einer großen Partei auch gar nicht darauf an, daß alle einer Meinung sind, sondern nur darauf, daß alle ihre Meinung sagen dürfen. Kreisky hat in der Antrittsrede als neugewählter Parteiobmann erklärt, daß die Sozialistische Partei den Menschen heute das Bild einer Partei bieten müsse, in der eine interessante geistige Auseinandersetzung stattfindet. Dies ist aber nur in Freiheit möglich.

8. Daher lag es nur in der Logik dieses Parteitages, daß auch der von einer Organisation beantragte „Maulkorbparagraph“, der in ähnlicher Fassung schon am Parteitag 1926 beantragt und schon damals abgelehnt wurde, und der die öffentliche Kritik an Entscheidungen und Funktionären der Partei unterbinden und unter Sanktion stellen sollte, sang-und klanglos ad ealendas graecas vertagt wurde.

Chancen wurden eröffnet

Diese betont optimistische Darstellung will nicht den Eindruck erwek-ken, daß die aufgezeigten Tendenzen, die bei der Wahl Kreiskys zweifellos mitspielten, damit schon voll ausgereift oder gar unwiderruflich sind. Es kann sehr wohl Rückschläge und menschliches Versagen geben, aber es ist unleugbar, daß Chancen eröffnet wurden, die im gegenteiligen Fall nicht bestanden hätten.

Wenn sich Dr. Bruno Kreisky von der Dynamik, die ihn emporgetragen hat — einer Dynamik, die nicht die einer Versöhnung um jeden Preis, sondern die der Behauptung und des Kampfes war — weitertragen läßt, wird er die Erwartungen und Hoffnungen seiner Freunde erfüllen und seine innerparteilichen Opponenten durch den Erfolg seiner Bemühungen überzeugen. Dann könnte der nächste Parteitag von einem Parteitag der eröffneten Chancen zu einem solchen des vollendeten Durchbruchs werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung