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Von Berlin nach Genf

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Die ahnungsvollen Bengel, die das Gebäude des Berliner Kontrollrats mit der Inschrift „Hornberger Schützenhaus“ bekritzelt hatten, waren sie bessere Propheten als jene Eingeweihten, die sich am Vorabend der Viererkonferenz in optimistischen Betrachtungen über das endlich verwirklichte Treffen der Außenminister ergingen? Vor einigen Jahren erfreute sich in der Schweiz die rasch populär gewordene Gestalt eines kleinen Mannes weithin großer Beliebtheit, der das geflügelte Wort sprach: „Man muß nur reden miteinander.“ Das mag für die private Sphäre gelten, in der hohen Politik bedeutet das Gespräch noch lange keine Einigung. Die Ergebnisse jeder Begegnung zwischen den Mächtigen dieser Erde hängen vielmehr davon ab, mit welchen Absichten man sich an den grünen Tisch setzt und nur in sehr bescheidenem Grade von den Ansichten, die man dabei austauscht, am wenigsten aber von der Ueberzeugung, die man über das Recht des Partners hegt oder auch nur zu hegen vorgibt.

Als die Vertreter der führenden europäischen Staaten 1814 in Wien, 1878 in Berlin an die Beratung der ihnen zur Lösung überwiesenen Fragen schritten, da war ein positiver Ausgang dadurch gesichert, daß ihn sämtliche Beteiligten wollten, weil sie ihn brauchten und weil sie von einem Scheitern ihres Bemühens ein Wiederaufflammen beziehungsweise eine katastrophale Ausweitung der kaum erst unterbrochenen Feindseligkeiten befürchteten. Wir haben nicht den Eindruck, daß auch nur e i n Berliner Unterredner von 1954 den festen Willen gehegt hat, unter allen Umständen , zu einer völligen Uebereinstimmung mit dem Gegner im kalten Krieg zu gelangen. Und zwar deshalb, weil es für derlei Resultate zu früh war. Man kann einem Gewohnheitstrinker nicht plötzlich die teure Flasche entreißen, sonst droht ein Unglück; allmähliche Entwöhnung tut not. Man kann ilicht zwei Kolossen, die von ihrer Stärke und von ihrer messianischen Sendung trunken sind, im Handumdrehen nüchternes Erwägen des Nutzens beibringen, der ihnen und der Welt aus einem echten Frieden erwüchse. Um so schwieriger wäre dies gewesen, als man hüben und drüben lange der klugen, besonnenen Ratschläge spottete, die von hellsichtigen, ehrlichen Maklern, von Eden und Bidault, behutsam eingeflößt wurden.

Daß diese Ratschläge dennoch nicht vergebens waren, daß sie einen umgrenzten, heute noch unabschätzbaren, Erfolg zu erzielen vermochten, darin erblicken wir den einzigen sichtbaren, doch unleugbaren Gewinn aus dem Viertelhundert Sitzungen der Großen Kleinen Vier. Unsere Enttäuschung über das Verweigern der überfälligen Räumung Oesterreichs, der Mangel greifbarer Fortschritte in der deutschen Frage dürfen nicht die Tatsache verdecken, daß die Außenminister der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion weder in bezug auf Deutschland noch auf Oesterreich ernstlich mit konkreten Uebereinkommen gerechnet hatten, daß sie vielmehr .allesamt nach der einstigen deutschen Reichshauptstadt fuhren, um die dritte Angelegenheit der Tagesordnung beziehungsweise die erste zu behandeln, nämlich das Problem, von dem aus einerseits am ehesten eine Entspannung ausgehen kann, mit dem anderseits die heikle Sacheder Solidarität des Westens aufs engste verknüpft ist: die Herstellung des Friedens in Asien, samt der Anerkennung des heutigen kommunistischen China, in weiterem Verlauf aber die wirkliche Abrüstung und der Abbau des kalten Krieges.

Das vordringliche Interesse Londons und Paris’ an den fernöstlichen Dingen bedarf keines umfänglichen Beweises. Die Engländer trachten schon seit geraumer Frist, ihre amerikanischen Freunde zu einer milderen Haltung gegenüber Maotsetung zu bewegen, mit dem britische Wirtschaftskreise Verbindungen angeknüpft haben (oder anzuknüpfen hoffen). Frankreich wiederum möchte den sinnlosen Kampf in Vietnam beenden, und es sieht dazu keinen anderen nützlichen Ausweg, als sowjetischen Druck auf China, gepaart mit einer, durch die Liquidierung der „salle guerre“ bedingten, leichten Hinwendung zur Pekinger Regierung. Den Männern im Kreml sind nun derlei Bestrebungen der beiden europäischen Westgroßmächte um so mehr willkommen, als dies für Moskau die Gelegenheit bringt, Frankreich durch ein Gemisch von lauten Sympathiebezeigungen uijd leisen Drohungen aus der Atlantikgemeinschaft herauszuholen, ferner in England die neutralistischen Neigungen zu vermehren. Im einen wie im anderen Falle wirken Erwägungen mit, die auf einer, unseres Erachtens irrigen, Beurteilung der inneren Lage diesseits und jenseits des Aermelkanals beruhen. Die Staatslenker der UdSSR erwarten den baldigen Rücktritt Churchills; sie zählen sowohl auf Eden, soferne der konservative Kurs noch eine Weile fortdauert, als auch auf ein Come-back der Labourpartei und auf vermehrten Einfluß des Bevan- Flügels. Was Frankreich betrifft, so eskomptieren die Russen den vereinten Ansturm der Gaullisten, der meisten Radikalen und Sozialisten und eines nicht unerheblichen Teils der MRP-Wählerschaft gegen Bidault und Schuman (die diplomatisch heute auf einer Linie beharren); Moskau glaubt an einen Sturz Laniels und an einen außenpolitischen Erdrutsch, der durch den Widerwillen breiter Schichten gegen die Europaarmee beschleunigt werden soll.

Der Kreml meint, daß die Zeit für ihn arbeite, und er möchte vor allem das Gespräch mit London und Paris nicht abreißen lassen, ohne daß die UdSSR irgendwelche wichtige Positionen aufgäbe. Diesem Zweck dient die geplante Ostasienkonferenz, deren Schweizer Tagung wir schon jetzt lange Dauer und geringe Erfolgchancen Voraussagen. Daß eben diese Konferenz zustande gekommen ist, müssen wir zweifellos als guten Punkt für Molotow buchen. Doch was die daran geknüpften Hoffnungen der Sowjetpolitiker betrifft, denken wir anders: es wird trotz allem nicht gelingen, die westliche Front auseinanderzubrechen. Bidault hat in Berlin ungemein geschickt manövriert und seinerseits das für Frankreich beziehungsweise für ihn Wesentliche erreicht: daß über Indochina gesprochen wird und daß die Russen das Odium auf sich nahmen, zu allen den Deutschland betreffenden Punkten Nein zu sagen, die der französische Außenminister, samt der großen Mehrheit seiner Landsleute, ablehnt, die er aber öffentlich ohne Schaden begrüßen konnte. Darüber hinaus werden weder Bidault noch Eden das Spiel Moskaus besorgen und sie haben auch bei ihren Par-

lamenten keine unüberwindbaren Hindernisse gegenüber der bisherigen Atlantikpolitik zu beseitigen.

Dafür hat die sowjetische Haltung in der Oesterreichfrage gesorgt. Man war im Kreml vermutlich der Ansicht, besonders fein manövriert zu haben, indem man dirrch scheinbare (ach, so erwünschte) Konzessionen in den Ostasienfragen Zugeständnisse in den beiden anderen Konferenzthemen vermeiden konnte. In Wirklichkeit hat zwar die Unnachgiebigkeit Molotows in den deutschen Angelegenheiten nur auf amerikanischer Seite erbittert, wo man ohnedies keine besondere Lust zur Annäherung an Moskau verspürt; doch der unter unhaltbaren Vorwänden abgelehnte Abschluß des österreichischen Staatsvertrages hat gerade bei den englischen und französischen Neutralisten lebhaften Aerger geweckt; die starre Haltung des sowjetischen Außenministers in der Oesterreichfrage, besonders das unerwartete Verlangen nach, weiterem Verbleiben der fremden Besatzungstruppen, hat bei vielen Gegnern der Europaarmee die Ansicht geweckt, daß wider Soldaten eben nur Soldaten helfen, daß also die westliche Verteidigungsgemeinschaft, wenn schon ein Uebel, so doch das kleinere unabdingbare sei. Und damit halten wir nochmals bei dem uns in erster Linie berührenden Punkt.

Daß an eine Vereinigung der beiden Deutschland, daß an ein Kompromiß über die entscheidende Kernfrage der europäischen, ja . der universalen Zukunft noch nicht zu denken ist, mußte jeder Unverblendete wissen. Weder kann und will der Kreml seine Schützlinge in Pankow und die Oder-Neiße- Grenze opfern, damit aber die westliche Allianz bis an das polnische Glacis heran-lassen — und dies alles wäre unvermeidbar, wenn man wirklich freie Wahlen in Gesamtdeutschland ausschriebe, worauf dann die Bonner Koalition mit oder ohne die Sozialisten im wiedererstandenen Reich die Kommunisten mühelos an die Wand drückte und zum mächtigsten, umworbenen Verbündeten der USA würde. Noch kann und will der Westen auf den schlechten Witz einer zunächst zu bildenden „Regierung der nationalen Einheit“, halb Bonn, halb Pankow, eingehen. Denn die Beispiele aus Polen, aus der Tschechoslowakei, aus Rumänien und aus Ungarn genügen, um abzuschrecken und um darzutun, wie hernach die Wahlen aussähen, und daß den deutschen Koalitionsgenossen der Kommunisten zuletzt das Los aller Mikolajczyk, Benesch, Tatarescu und Ferenc Nagy blühte. Oesterreich indessen?

Die Sowjetunion hätte weder politischen noch militärischen Schaden davongetragen, und sie vermöchte, den größten Nutzen aus dem alsdann in Westeuropa hervorgerufenen Eindruck zu ziehen, wäre sie zur Unterfertigung des Staatsvertrages bereit gewesen, ohne fernere militärische Besetzung zu begehren. Angebliche Anschlüßgefahr hat zur Begründung für das Verbleiben der Sowjetgarnisonen dienen sollen. Nun befristete Molotow deren Anwesenheit bis zum Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland. Der gesunde Menschenverstand sagt aber, daß gerade vor der Unterzeichnung dieses Dokumentes, solange noch alliierte Heere in Deutschland weilen, dort etwa vorhandene Anschlußgelüste nicht in die Tat umgesetzt werden können, daß fyngegen n a ch dem Abzug der fremden Besatzung aus Deutschland dieses — wäre es gesonnen, das Spiel von 1938 zu erneuern, woran wir nicht glauben wollen — die Anschlußgefahr größer würde. Da jedoch selbst die UdSSR, mindestens gemäß ihren derzeitigen Erklärungen, nicht fordert, auf ewige Zeiten bewaffnete Formationen auf österreichischem Gebiet zu stationieren, so wird von jenem, im Augenblick noch in der Ferne liegenden, Moment des deutschen Friedensvertrages und des Abzugs aller Besatzungstruppen aus Deutschland angefangen, der Schutz Oesterreichs vor dem Anschluß nur auf denselben Bürgschaften gründen, die schon heute, auch ohne „mit fremden Uniformstücken bekleidete“ Gäste gegeben sind:, auf der Bereitschaft der deutschen Regierung und des. deutschen Volkes, die österreichische Selbständigkeit zu achten, auf der Entschlossenheit der Oesterreicher, diese Selbständigkeit zu hüten und, hier hätten die Russen mit einigem guten Willen schnell eine Lösung gefunden, auf Garantien, die seitens der vier Großmächte solidarisch oder einzeln, später noch im Friedensvertrag mit Deutschland verankert und durch eine Erklärung der österreichischen Regierung bekräftigt, zu bieten gewesen wären. Im kritischen Zeitpunkt — träte er jemals ein, was wir nicht hoffen — wäre es dann Sache der Garanten, für die Achtung dieser Bürgschaften wirksam zu sorgen, was bekanntlich im März 1938 nicht geschehen ist.

Wir haben von Herrn Molotow und von der Sowjetdiplomatie eine viel zu hohe Meinung, um anzunehmen, daß es ihm und seinen Mitarbeitern wirklich auf den Schutz wider die angeblichen Anschlußgefahren ankam. Es dürften vielmehr drei Gründe mitgespielt haben, um die UdSSR von militärischer Räumung Oesterreichs abzubringen: erstens, die — wiederum verfehlte — Ansicht, die Anwesenheit russischer Einheiten in der Sowjetzone unseres Landes verhüte einen Ausbau des atlantischen Verteidigungssystems im Alpenraum; zweitens, eben diese Anwesenheit übe einen Druck auf Jugoslawien aus, das man in Moskau aus der „westlichen Umklammerung“ herauszuholen und mindestens zu neutralisieren trachtet; drittens, und das ist wohl der wichtigste Beweggrund, die Sowjetbesetzung zeitigt innenpolitische Wirkungen, auf die man nicht verzichten möchte. Sie bewahrt die österreichischen Kommunisten vor dem völligen Zusammenbruch; sie verhindert ferner eine intensive Einwirkung auf die benachbarten Volksdemokratien, in denen das Beispiel eines noch rascher wirtschaftlich emporkommenden Oesterreichs sehr unerwünschte Vergleiche aufdrängen würde. Sicherem Vernehmen nach, haben Prager und Budapester Machthaber die Sowjetgewaltigen beschworen, nur ja nicht die militärische Räumung Oesterreichs zuzugestehen. Rücksicht auf die österreichischen Kommunisten und auf die tschechoslowakischen, ungarischen Satelliten hat den famosen Plan inspiriert, in scheinbar großzügiger Geste Wien von allen vier Alliierten unbesetzt zu lassen, doch die Garnisonen in der Provinz und auf dem flachen Lande aufrechtzuerhalten. Damit wäre zunächst die Grenze der Volksdemokratien weiterhin durch einen sowjetischen Truppenkordon geschützt; in der Hauptstadt aber könnten ein paar Tausend zusammengetrommelter Kommunisten ungestört einen. „Wirbel“ anstiften und damit die Teilung Oesterreichs in einen volksdemokratischen Osten und einen „atlantischen“ Westen einleiten. Welche koreanischen Perspektiven sich daraus ergäben, ist unnötig zu betonen.

An der Festigkeit der österreichischen Delegation in Berlin, an deren bis an die Grenze des Erträglichen gehenden Bereitschaft zu Konzessionen sind aber die überklugen, naiven Kombinationen zerschellt. Das und die formelle Gleichberechtigung, die den Bevollmächtigten unseres Landes in Berlin gewährt wurde, sind positive Ergebnisse, die man auch dann nicht unterschätzen darf, wenn man. in vorschneller Zuversicht Wunder erwartet hatte. Es ist kein Anlaß da, zu verzweifeln. Wenn jetzt und auf Monate die ostasiatischen Probleme in den Vordergrund rücken, wenn die Sowjetunion nun ihr vordringlichstes Augenmerk darauf konzentrieren wird, Frankreich unter Druck zu setzen und es zu umschmeicheln — für beides, den ostasiä- tischen Vorrang und das Werben um Paris, ist die jüngste, nach vierjähriger Unterbrechung geschehene Wiederbesetzung des polnischen Botschafterpostens an der Seine durch den bisherigen Vorsitzenden der Koreadelegation Warschaus, Gajewski, bezeichnend: sobald die Schweizer Verhandlungen über Vietnam und Korea festgelaufen sein werden, muß w.i eder die Reihe an Oesterreich kommen. Aufgabe der Wiener Staatslenker wird es sein, inzwischen nicht den Kopf zu verlieren, sich von keinen jähen Gefühlsausbrüchen beirren zu lassen und im geeigneten Moment den aus zwingender Notwendigkeit quellenden Wunsch der beiden Hauptgegenspieler auszunutzen, zwischen ihnen den Faden nicht ganz abreißen zu lassen. Dann könnte, dann wird für Oesterreich die Stunde der Befreiung schlagen.

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