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Das erste Jahr der Potsdamer Vereinbarungen

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Vor Jahresfrist, im August 1945, kamen die ersten Beratungen zum Abschluß, die die Regierungschefs der siegreichen Großmächte Großbritannien, Vereinigte Staaten und Sowjetunion zwei Monate nach der Niederwerfung des Hitler-Reiches zur Festlegung ihrer gemeinsamen weiteren Aktion in Potsdam geführt hatten. Die formale Besiegelung bildete eine umfassende Verlautbarung, die drei „Übereinkommen“ im Wortlaut (Außenministerrat und Vorbereitung der Friedensverträge mit den Satellitenstaaten, Behandlung Deutschlands in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht, Wiedergutmachungsleistungen seitens Deutschland) und mehrere deklarative „Vereinbarungen“, „Erklärungen“, „grundsätzliche Einigungen“, „angenommene Vorschläge“, „zur Kenntnisnahmen“ enthält — das Ganze umrankt von programmatischen Leitsätzen und einem Kommunique über die Äußerlichkeiten des Konferenzverlaufes.

Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei vorweg festgestellt, daß über Einzelheiten, die über diese Verlautbarung hinausgehen, uns nichts bekannt ist und — allem Anscheine nach — bisher auch nicht allen interessierten Regierungen auf diplomatischem Wege zur Kenntnis gebracht wurde. Wir sind daher auf die in der Presse verlautbar-ten, zum Teil übersetzten und in Einzelheiten abweichenden Textf bei Beurteilung dieser bisher einzigen und wichtigsten Grundlage der Nachkriegsregelung angewiesen.

Die Potsdamer Vereinbarungen (agree-ments) stellen eine nach eingehenden und wohl auch bewegten Debatten zustande gekommene Zusammenfassung der Diskussionen vor, die sich wieder auf eine beträchtliche Anzahl von vorher auf den Kriegskonferenzen in Moskau, Teheran und insbesondere J a 11 a vorgebrachten, zum Teil damals schon vereinbarten Programmpunkten und von Wünschen stützten. Merkliche Spuren der Anstrengungen, zu einer allgemeinen Einigung zu gelangen, werden in der teilweise hastigen und unklaren, ja auch widerspruchsvollen Stilisierung und im Fehlen oft sehr wesentlicher Präzisierung der Begriffe offenbar. Als Beispiel sei bloß auf den Widerspruch hingewiesen, der sich daraus ergibt, daß in Punkt 9 des Deutschland betreffenden Abkommens festgestellt wird: „Vorläufig wird es keine zentrale deutsche Regierung geben“, während das Abkommen über die Einsetzung des Außenministerrates in Punkt 2 vorsieht, daß „der Rat zur Vorbereitung der Friedensregelung für Deutschland herangezogen werden soll, die von der Regierung Deutschlands anzunehmen ist, sobald eine dazu befähle Regierung gebildet worden ist.“ Es ist kaum anzunehmen, daß nach Wunsch und Auffassung der Großmächte die „Friedens-regelung“ für Deutschland bis zu dem Zeitpunkt hinausgeschoben werden kann, da eine „dazu befähigte“ (adequate for che purpose) Regierung gebildet sein wird. Nicht, minder bedeutungsvoll — insbesondere für Österreich — ist das Fehlen jeder näheren Definition der „geeigneten deutschen Aktiva“ („German foreign assets“) bei der Behandlung der Wiedergutmachungsfrage.

In Potsdam sollte der Versuch unternommen werden, die Einigkeit der Großmächte, die im Kriege den glänzenden Sieg ermöglicht hatte, auf die Periode der Friedensregelung zu übertragen. Der Versuch, der immerhin höchst beachtliche Erfolge zu erbringen vermochte, begegnete von Anfang an gewichtigen Schwierigkeiten. Vor allem fiel er in die Zeit der englischen Wahlen zum Unterhaus, die einen Wechsel in der britischen Vertretung von Winston Churchill und Eden auf Attlee und Bevin zur Folge Satten, ferner fehlte — heute sicher zum Bedauern aller Partner in der Reihe der Vertragsschließenden noch Frankreich; nachhaltige Mängel der Vereinbarungen, das Fehlen einer Einigung über die deutschen Westgrenzen, und die folgenschwere Tatsache„ daß. der Grundsatz der „wirtschaftlichen Einheit“ Deutschlands, bisher nicht zur Anwendung gelangen konnte, sind dem zuzuschreiben.

In einer Analyse der Potsdamer Vereinbarungen und deren bisherigen Durchführung verdienen folgende Punkte hervorgehoben zu werden:

Das Abkommen über die Einsetzung des Außenministerrates ist gemäß dem darin enthaltenen zeitlichen wie sachlichen Programm in Durchführung begriffen.

Das Abkommen über die Behandlung Deutschlands „während der Dauer der alliierten Überwachung“ hat begreiflicher Weise große Schwierigkeiten bei seiner Anwendung ergeben, wenn die Verurteilung des Abkommens in Bausch und Bogen — auf die wir heute in der öffentlichen Meinung mancher Siegerstaaten stoßen — in Anbetracht der großen Anzahl von einheitlich beschlossenen Maßnahmen des Alliierten Kontrollrates in Berlin nicht berechtigt erscheint. Es läßt sich freilich für Außenstehende schwer beurteilen, inwieweit die Maßnahmen, über die der Kontrollrat Übereinstimmung erzielt hat, in den einzelnen Zonen auch gleichmäßig vollzogen werden. Diese Einschränkung gilt in erster Linie für die Fragen der Abrüstüng u n 3 DemlHtarlsie-r u n g wie auch der Säuberung von nationalsozialistischen Elementen und nationalsozialistischem Geist in den vier Besatzungszonen. Trotz den scharfen gegenseitigen Anschuldigungen, deren Zeugen wir im Laufe des ersten Jahres gewesen sind, liegt kein Grund zur Annahme vor, daß die einheitlichen, aus dem gemeinsamen Willen aller Großmächte entsprungenen Richtlinien zur Entwaffnung und Entnazifizierung, sei es von britischer, sei es von sowjetischer Seite aus dunklen Absichten heraus sabotiert würden.

Bezüglich der Ostgrenzen Deutschlands sahen die Vereinbarungen die Einverleibung der Stadt Königsberg.und Umgebung in, die Sowjetunion, ferner die Übergabe in die vorläufige Verwaltung Polens jener bis zur Potsdamer Konferenz von russischen Armeen besetzten, ehemals deutschen Gebieten vor, die östlich einer von Swinemünde, längs der Oder und der westlichen Neisse bis zur tschechoslowakischen Grenze verlaufenden Linie liegen. Dieses Gebiet stellt fast ein Fünftel des deutschen Territoriums vom Jahre 1 9 3 8, ein Viertel des deutschen Ackerbodens dar und enthält etwa ein Siebentel der deutschen Bevölkerungsstärke von 1938. Der endgültigen Festlegung der westlichen Grenzen Polens, die dem Friedensvertrag mit Deutschland vorbehalten bleiben soll, greifen noch weitergehende Territorialforderungen Polens vor, die sich auf das westlich von Stettin gelegene Gebiet und die Insel Usedom beziehen. Auch die Einverleibung Königsbergs und seiner Umgebung — eines Drittels Ostpreußens — in die Sowjetunion bedarf noch der Bekräftigung durch den Friedensvertrag, wobei sich aber Großbritannien und die Vereinigten Staaten in Potsdam verpflichteten, den sowjetischen Anspruch auf der künftigen Friedenskonferenz zu unterstützen. Es ist deshalb mit ihr schon zu rechnen.

Die übrigen Grenzen des künftigen deutschen Raumes werden in den Potsdamer Vereinbarungen nicht erwähnt. Es bleiben daher die in erster Linie von Frankreich gestellten Forderungen nach Lostrennung des Ruhrgebietes vom Deutschen Reich, nach Einverleibung des Saar gebiet es in Frankreich und nach Sonderregelung für das übrige Rheinland, wie auch die bescheidenen territorialen Wünsche der N i e-d er lande und der Tschechoslowakei (Glatz) noch offen.

Erheblich weichen die in den einzelnen Besatzungszonen angewandten Methoden bei der Durchführung von den in Potsdam hinsichtlich des politischen und wirtschaftlichen Regimes Deutschlands gefaßten Beschlüssen ab und unterscheiden sich überdies voneinander. In Erfüllung der Bestimmung (Punkt 9) „daß die Verwaltung Deutschlands zu einer Dezentralisierung des politischen Aufbaues und zur Förderung der Verantwortlichkeit örtlicher Behörden führen“ soll, wie auch des Grundsatzes der Behandlung Deutschlands „als einheitliches wirtschaftliches Gebiet“ (Punkt 14) sind die Vereinigten Staaten weitaus führend. Großbritannien folgt weitgehend der amerikanischen Initiative und hat den Vorschlag der wirtschaftlichen Vereinheitlichung der westlichen Zonen angenommen, wobei wieder die Hoffnung nachdrücklich zum Ausdruck gebracht wurde, daß sich Sowjetrußland im Laufe der Zeit diesem Vorgange anschließen und damit dem Grundsatz der Potsdamer Vereinbarungen zum Durchbruch verhelfen möge. Herr Molotow hat auf der Pariser Außenministerkonferenz am 10. Juli den Standpunkt seiner Regierung dahin formuliert, daß die Sowjetunion für die Schaffung einer deutschen Zentralregierung, mit der Frieden geschlossen werden könnte — allenfalls nach Zentralisierung der bereits in Potsdam dafür vorgesehenen Wirtschaftsressorts — eintrete und die von den Weststaaten geschlossen angestrebte föderative Lösung, das heißt die Schaffung eines deutschen Staatenbundes, kategorisch ablehne. Auch in wirtschaft!;cher Hinsicht sprach Herr Molotow einer größeren Produktionsfreiheit des künftigen Deutschland das Wort, als sie auf Grund der Potsdamer Vereinbarungen über den Lebensstandard Deutschlands (Punkt 15, b) und sodann durch Absprachen innerhalb der Kontrollkommission festgelegt worden war.

Am weitesten klaffen ohne Zweifel die Gegens uze hinsichtlich der Potsdamer Grundsätze der „wirtschaftlichen Einheit“ Deutschlands und der Voraussetzung für die d e u t s ch e n Wiedergutmachungsleistungen.

Die wirtschaftliche Einheit Deutschlands — ohne zentrale Regierung — war in Punkt 9 der Potsrlimer Vereinharungen als Grundsatz aufgestellt und durch eine Reihe von Bestimmungen über gemeinsame Überwachung und Planung usw. untermauert wo. Jen (Punkt 12 bis 15). Die Wiedergutmachungsleistungen Deutschlands, die in der Konferenz von Jalta grundsätzlich beschlossen worden waren, sind in Potsdam an eine Reihe von Voraussetzungen geknüpft worden, deren wesentlichste folgendermaßen zusammengefaßt werden können:

Deu'tJi'and „sollen genügend Hilfsquellen für die Aufrediterhaitung seiner Existenz ohne Unterstützung von außen belassen werden“. Ausfuhrerträgnisse der gemeinsam festgelegten und überwachten deutschen Friedensproduktion sollen in erster Linie für die Bezahlung der Einfuhren verwendet werden. Für die Sowjet-! rußland zustehenden fünfzehr. Prozent der in den westlichen Zonen zu Reparationszwecken . abzumontierenden Produktionsanlagen (der Metallindustrie, der chemischen und Werkzeugmasdiinenindustrie) hat Sowjetrußland „eine entsprechende Menge von Nahrungsmitteln, Kohle, Kali, Zink, Bauholz, Tonerzeugnisse, Petroleum usw.“ den westlichen Zonen „so rasch wie möglich in Teillieferungen“ in einem Zeitraum von fünf Jahren zur Verfügung zu stellen.

Die tatsächlichen Verhältnisse haben sidi in diesen zwei wichtigsten Grundfragen der deutschen Wirtschaft am weitesten von den Potsdamer Vereinbarungen entfernt. Die offenbar in Potsdam in ihren erschreckenden Ausmaßen noch nicht vorausgesehene E r-nährungskrise hat dazu geführt, daß sich die faktische Entwicklung in den einzelnen Zonen in zunehmendem Abrücken von den Potsdamer Grundsätzen vollzogen hat. Im wesentlichen weisen Großbritannien und die Vereinigten Staaten auf den Mißstand hin, daß sie unerträgliche finanzielle Opfer für die Aufrechterhaltung eines Minimums an Lebensstandard in ihren Besetzungszonen zu bringen haben, während die beinahe „autarke“ Sowjetzone in der Lage sei, der deutschen Bevölkerung eine nicht unbeträchtlich höhere Lebenshaltung ohne eigene nennenswerte Opfer zu- gewähren und darüber hinaus den Produktionsüberschuß der deutschen Wirtschaft zu Reparationszwecken nach Rußland zu verbringen. (Die Zeiß-Werke sowie die Buna-Gummi- und die Leuna-Treibstoff werke des ehemaligen I. G. Farbenkonzernes arbeiten, wie behauptet wird, auf vollen Touren und ausschließlich für Rechnung der Repärationsverpflidnungen gegenüber der UdSSR, die ihrerseits diese Werke mit den fehlenden Rohstoffen versorgt.) Demgegenüber erhebt die Sowjetunion Beschwerde wegen ungenügender Belieferung ihrer Zone mit Ruhrkohle, wegen mangehv der Demobilisierung der ehemaligen deutschen Wehrmacht in der britisdien Zone, wegen. Fehlens eines vereinbarten Repanationsplanes und wegen zweckwidriger Wirtschaftspolitik in den westlichen Zonen, zum Schaden der Vereinheitlichung des Besatzungsregimes in ganz Deutschland wie auch zum Nachteil des deutsdien Volkes selbst.

Der amerikanisdie Außenminister Byrnes hat unlängst in einer Radioartspradhe hervorgehoben, daß es nicht in erster Linie die Idee der Vereinigten Staaten gewesen ist, Deutschland in vier Teile zu zerschneiden und daß diesem Plan von USA nur mit starkem Widerwillen „in Anbetracht des nahen Sieges in Europa“ als einer für alle Großmächte annehmbaren Formel zugestimmt wurde. Der in Potsdam angestellte Versuch durch zahlreiche Bestimmungen dem unerwünschten Zustand entgegenzuwirken, in dem heute — ein Jahr nach der Konferenz — Deutschland sich tatsächlich befindet, hat die gehegten Erwartungen bisher gewiß nicht erfüllt.

Mit der vorbildlichen Logik, die dem Franzosen angeboren ist, drückt die jetzige Schicksalsfrage der Menschheit Rene Terrel im „Le Monde“ durch die Hervorhebung der Alternative aus:

,.Es ist wohl unbestritten, daß die Besetzung Deutschlands aus wesentlich politischen Gründen erforderlich ist und auf einer merklichen Elrisdiränkung seiner Pro-di:ktionskraft bestanden werden muß, um nicht eines schöien Tages den Frieden wieder n Gefahr zu bringen. Es ist aberwid ersinnig, sich vorzustellen, daß ein dementsprechend wirtsch tftlich geschwächtes Deutschland in der läge sein sollte, sich aus eigenen Mitteln zu erhalten und überdies roch die Zerstörungen und die Verarmung der Völker gutzumachen, die es verschuldet hat. Entweder wird Deutschland wirtschaftlich schwach, daher ungefährlich u n d kostspielig bleiben — oder es wird sich wieder erheben, wieder voll arbeiten, um aus eigenen Mitteln zu leben und Sühnegeld zu bezahlen; allerdings auf die Gefahr hin, in absehbarer Zeit wieder hinreichend zu erstarken, um seine Schuldenlast abzuschütteln und Revanche zu nehmen! Es gibt eben einen Preis für die Sicherheit wie es ein Risiko für den Ertrag gibt; zwischen diesen beiden ist zu wählen. Die Besetzung wird entweder eine ,Garantie* sein oder ein ,Geschäft'. Garantien sind voll der Lasten — Geschäfte sind ohne Ruhe!“

In bedrängten Epochen wird der denkende Österreicher immer auf Grillparzer zurückkommen, und dies aus zweifachem Grunde: einmal, weil es in Zeiten, wo alles wankt, ein Refugium ist, in Gedanken zu seinen Altvordern zurückzugehen und sich bei ihnen, die in der Ewigkeit geborgen sind, des nicht Zerstörbaren, das auch in uns ist, zu vergewissern; zum andern, well in solchen Zeiten alles Angeflogene und Angenommene von uns abfällt und jeder aus sich selbst zurückkommen muß; in Grillparzer aber, der eine große Figur ist und bleibt — so wenig er eine heroische Figur ist — treffen wir von unserem reinen österreichischen Selbst eine solche Ausprägung, daß wir über die Feinheit und Schärfe der Züge fast erschrecken müssen. Nur unser Blick ist sonst zuweilen unscharf, ihn und uns in ihm zu erkennen. Die Not der Zeiten aber schärft den Blick.

Hugo von Hofmannsthal: Die Berührung der Sphären* (Grillparzors politisches Vermächtnis)

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