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Gespräch im Störfeuer

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I.

Mehr als irgendwo anders gilt beim Bemühen, die böhmische Frage aufzuhellen, die klassische Regel des Kungfutse: „Man muß die Begriffe in Ordnung bringen, ehe man drangehen kann, den Staat in Ordnung zu bringen.“ Die weitgehende Verwirrung der wesentlichen Grundbegriffe in dieser Frage, die wie ein dissonanter Kampflärm noch aus dem vorigen Jahrhundert in eine so gänzlich andersgeartete Gegenwart hereinklingt, hat zwei Ursachen: Einmal die tatsächliche Schwierigkeit, gerade im böhmischmährischen und slowakischen Raum die vielfachen Ueberschneidungen staatlicher, „rei-chisch-habsburgischer“, völkischer, religiöser und sozialer Belange abzugrenzen (eine im streng rational-begrifflichen Sinn Westeuropas grundsätzlich unlösbare Aufgabe), zum anderen aber in einer bewußten Verunklärung ohnehin schon komplizierter Fragen durch eine ressentimentgeladene Geschichtspropaganda und Legendenbildung, an deren Zustandekommen alle Nationalitäten dieses Raumes besonders im vorigen Jahrhundert in gleicher Weise mitgearbeitet haben. Es kann nicht Aufgabe dieser Zeilen sein, den zahlreichen Geschichtsklitterungen von Jirasek bis Pfitzner eine neue hinzuzufügen. Hier soll eine objektive Berichterstattung über den augenblicklichen Stand des Gespräches zwischen Deutschen und Tschechen versucht werden, aus der sich einige Perspektiven für die nähere Zukunft von selbst ergeben. Die Schwierigkeit einer solchen Darstellung beginnt allerdings schon bei der konkreten Definition der P a r t-n e r. Fest steht hier allerdings, daß als Sprecher des tschechischen und slowakischen Volkes nur solche Personen oder Gruppen ernst genommen werden können, die das in freien, rechtsstaatlich geschützten Wahlen zum Ausdruck kommende Vertrauen ihres eigenen Volkes genießen. Ein solcher repräsentativer Personenkreis ist zur Stunde kaum zu finden. Den heute amtierenden Führern und Repräsentanten der CSR mangelt eindeutig diese unerläßliche Vertrauenslegitimation vor de Augen der freien Welt, zu der ja auch wir Oesterreicher gesinnungsmäßig gehören. Wir haben zudem eine Fülle dokumentarischer Zeugnisse (Flüchtlingsberichte, Korrespondentenmeldungen über Vorfälle des politischen Alltags usw.), aus denen hervorgeht, daß die überwiegende Mehrheit des in der CSR lebenden Volkes diese durch den mit ausländischer Hilfe geglückten Gewaltstreich vom Februar 1948 an die Macht gekommenen Personen ablehnt, und daß an dieser grundsätzlich negativen, weil antikommunistischen Einstellung, sich auch durch die gegenwärtigen Manipulationen der sogenannten „Entstalinisierung“ nichts geändert hat. Die wahre Meinung des tschechischen und slowakischen Volkes auch zur Frage des Zusammenlebens mit den alteingesessenen und durch einseitigen, völkerrechtswidrigen Gewaltakt vbn 1945 ausgetriebenen Deutschen könnte daher gültig nur in freien, demokratischen, rechtsstaatlich gesicherten Wahlen zum Ausdruck kommen. Solange dies nicht möglich ist, müssen nolens volens die durch frühere Wahlen und Vertrauenserweise legitimierten Persönlichkeiten der Emigration in den westlichen Ländern als stellvertretend und provisorisch bevollmächtigte Repräsentanten ihres Volkes angesehen werden. Dabei ist es grundsätzlich nicht die Sache der allfälligen Gesprächspartner deutscher oder anderer Herkunft, diese Persönlichkeiten nach ihrer gegenwärtigen oder früheren Parteizugehörigkeit zu werten oder gegeneinander abzuschätzen. Der einzige Maßstab, den Außenstehende an die weltanschauliche Gesinnung ihrer tschechischen und slowakischen Gesprächspartner im Exil anlegen können und müssen, ist der des echten und konstruktiven Realismus. Ein Gespräch zwischen verschiedenen Nationen ist nur denkbar bei der stillschweigenden oder ausdrücklichen Anerkennung höherer, dem rein Nationalen übergeordneter politischer Werte, in deren Ordnungssystem ein vernünftiges und über den Rahmen taktischer Winkelzüge hinausgehendes, ehrliches Gespräch stattfinden kann. Ein solches Weltbild ist ohne Zweifel das im Vollsinn verstandene christlichkatholische. Persönlichkeiten dieses Lagers waren die ersten, die sich eindeutig von Fehlentwicklungen und fatalen Entgleisungen aus den eigenen Reihen distanzierten und die Gesprächsbasis mit gleichgesinnten Deutschen fanden. Es ist aber für die hier versuchte realistische Betrachtung der gegenwärtigen Situation von Bedeutung, auch Stimmen maßgeblicher Politiker weltanschaulich anderer Herkunft zu vernehmen und ernst zu nehmen, die klar von den Fehlern und Verbrechen der unmittelbaren Vergangenheit (die im Nacheinander von beiden Völkern verübt wurden) abrücken. Hier muß auf ein sensationelles Interview des bekannten tschechischen Publizisten Peroutka, eines liberal-nationalen Tschechen aus der Umgebung Dr. Beneschs hingewiesen werden, das im März dieses Jahres stattfand. Peroutka rückt von der durch einen Großteil seiner Gesinnungsgenossen auch noch im Exil hartnäckig vertretenen Formel, die die Austreibung der Deutschen grundsätzlich gut hieß, eindeutig ab. Er vertagt allerdings ein konkretes Gespräch über Einzelheiten der Rücksied-lung und Wiedergutmachung auf den Zeitpunkt der Errichtung einer freiheitlichen Ordnung in der CSR nach der Zurückdrängung des illegitimen sowjet-kommunistischen Fremdeinflusses. Vor einer Pressekonferenz des Sudetendeutschen Rates, die in diesem Sommer in Herrenchiemsee stattfand und zu der zahlreiche Auslandskorrespondenten erschienen waren, vertrat ein sozialdemokratischer Politiker, Dr. Karl Lisi c k y, ähnliche Gedankengänge. Eine von nationalistisch-sudetendeutscher Seite heftig kritisierte Kontaktaufnahme des Sprechers der sudetendeutschen Landsmannschaft, Dr. L o d g-man-Auen, der seiner politischen Vergangenheit nach gewiß alles andere als antinational sein dürfte, mit dem ehemaligen tschechoslowakischen Justizminister Stransky, dem allerdings der Makel unmittelbarer Beteiligung an den Deutschenaustreibungen von 1945 anhaftet, erbrachte ebenfalls das Resultat einer grundsätzlich geänderten Einstellung des tschechischen Gesprächspartners. Daneben laufen natürlich die bewährten und seit Jahren bestehenden Kontakte zwischen den gesinnungsgleichen Menschen deutscher, tschechischer und slowakischer Herkunft in zahlreichen Gremien, die aber auf Grund einer noch kaum gebrochenen Verschwörung des Schweigens, zu der sich grundsätzliche Deutschenhasser mit unheilbaren deutschen Nationalisten paradoxer Weise zusammengefunden haben, nicht die verdiente •Publizität außerhalb der eigenen Reihen haben.

II.

Ebenso kompliziert wie beim tschechischen Gesprächspartner liegen die Dinge aber auch bei den Deutschen. Gewiß ist die überwältigende Mehrheit der deutschen Bürger Böhmens heute in der Freien Welt, vor allem in der Deutschen Bundesrepublik, aber auch in der sowjetisch besetzten Zone und in Oesterreich wohnhaft. Dennoch aber ist es nicht überall eindeutig geklärt, welches ordentliche Gremium wirklich befugt ist, die Interessen dieser Menschen zu vertreten. Als moralischer Rechtsnachfolger des laut Potsdamer Abkommen hypothetisch in seinen Grenzen von 1937 fortbestehenden Deutschen Reiches hat die frei gewählte, demokratische Regierung der Deutschen Bundesrepublik die Interessenvertretung aller jener ausgewiesenen Deutschen übernommen, die sich auf ihr Territorium begeben haben. (Die Einstellung der Sowjetzonenregierung zu diesem Problem ist unerheblich, da es sich hier nicht um eine legitimierte demokratische Institution des deutschen Volkes handelt.) In gewissem Sinne hat auch Oesterreich durch die von keinen weiteren Bedingungen abhängig gemachte Gewährung der Staatsbürgerschaft an die auf seinem Gebiet wohnhaften Sudetendeutschen eine moralische Schutzrolle de facto übernommen. Diese Auffassung fand ihren erfreulichen Niederschlag in der öffentlich bekanntgegebenen Haltung der österreichischen Verhandlungsdelegation für Eigentumsregelungen mit der CSR. die sich zur Vertretung der Interessen aller Staatsbürger zur Zeit des Inkrafttretens des Staatsvertrages, also auch der sudetendeutschen Neuösterreicher bekannte und an dieser prinzipiellen Einstellung festzuhalten gedenkt. Neben diesen staatsbürgerlichen Institutionen haben sich die Sudetendeutschen aber noch zusätzlich eine Volksgruppenorganisation geschaffen, deren Organen wohl eine moralische Beratungsfunktion in allen staatspolitischen relevanten Dingen auch nach außen hin zuerkannt wird, die aber nicht die Qualität eines international anerkannten Verhandlungspartners haben kann. Man wird also bei der Beurteilung des deutschen Partners, der sich ja auf ordentlich parlamentarischem Wege ebensowenig über seine Zukunftswünsche äußern konnte, wie die Tschechen, ähnliche Maßstäbe anlegen müssen, wie oben dargelegt. Auch hier scheint für eine wirklich konstruktive Verhandlung nur jener Teil der Deutschen geeignet, der sich grundsätzlich zu verpflichtenden höheren Werten, als zu denen des Nationalismus bekennt.

Dies sind zahlreiche Einzelpersönlichkeiten, zu denen ohne Zweifel auch Dr. Lodgman zu zählen ist, vor allem aber jene weltanschaulichen Gemeinschaften, die sich in klarem Bekenntnis einem übernationalen Wert verpflichtet fühlen, wie etwa die nun auch in Oesterreich gegründete sozialdemokratische Seliger-Gemeinde, in Deutschland die christlich-deutsche Ackermann-Gemeinde, in Oesterreich die katholische Klemens-Gemeinde. Das Mandat für ein wirkliches Gespräch mit positivem Endziel einer friedlich-rechtsstaatlichen Regelung fällt jenen Gruppen in, den Augen der internationalen Oeffentlichkeit auf Grund der von ihnen vertretenen Grundgedanken und prinzipiellen Haltungen wegen zu. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, daß gerade in jüngster Zeit der deutsche Außenminister von Brentano sich die Tagung der Ackermann-Gemeinde in Königstein zur Darlegung der prinzipiellen Standpunkte der Bundesregierung als Forum auswählte.

Es ist nun aber in der Realität nicht zu leugnen, daß diese Gruppen wohl die richtigen und einzig diskutablen Prinzipien vertreten, aber wie so oft in der verhängnisvollen Geschichte des deutschen Volkes, die Mehrheit der Landsleute nicht hinter sich haben. Dies bewies mit erschreckender Deutlichkeit die vor einigen Monaten vom Zaune gebrochene Diskussion um die vorgebliche Gültigkeit des Münchner Abkommens vom 29. September 1938. Es fanden sich Historiker und Juristen, die diesem eklatanten Erpressungsvertrag, durch den Hitler mit Duldung der in Panik versetzten Westmächte dem tschechoslowakischen Staatswesen die Amputation seit Jahrhunderten zum böhmisch-mährischen Gebiet gehöriger Landesteile aufdiktierte, Gültigkeit zuerkannten. Es ist selbstverständlich, daß die Einführung solcher Momente in die ohnehin von Ressentiments nicht freie Diskussion zur völligen Zerstörung jeder Verhandlungsgrundlage, ja zum Abbruch des Gesprächs überhaupt führen muß. Denn kein tschechischer Politiker, mag er welches persönliche Ansehen immer genießen, könnte jetzt oder in Zukunft auf das geringste zustimmende Echo seines Volkes rechnen, wenn er zur Lösung der böhmischen Frage das Münchner Abkommen anbieten würde. Mithin wären also auch hypothetische Vereinbarungen solcher Art, in der Emigration geschlossen, praktisch undurchführbar, wofern einmal demokratische Verhältnisse im böhmischen Raum wieder hergestellt werden und nicht einfach Diktatur erneut durch Diktatur abgelöst werden soll. Wenn man dem Komplex „München“ überhaupt einen Diskussionswert zuerkennen kann, dann keinesfalls in machtpolitischer und territorialer Hinsicht. Der so umstrittene Anspruch des deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten G r e w e, „daß Deutschland nicht unter den Klängen des Eger-länder Marsches fremdes Staatsgebiet annektieren wolle“, kann hier nur deutlich unterstrichen werden. Anders ist es allerdings mit jenen von neutraler und demokratischer Seite angestellten Untersuchungen über das Zusammenleben der Völker auf diesem Gebiet vor 1938, die allesamt ergaben, daß zur Lösung dieses Problems weitgehend föderalistische, „schweizerische“ Prinzipien statt der nationalstaatlich-tschechischen angewendet werden müßten. Als Grundlage konkreter Gespräche dürften diese Gutachten ohne weiteres verwendbar und für den vernünftigen Tschechen auch akzeptabel sein.

III.

Der aktuelle Ernst der hier aufgezeigten Diskussion wird deutlich sichtbar, wenn man sich vergegenwärtigt, wie verwirrt gerade in den letzten Monaten die Fronten dadurch wurden, daß plötzlich das Thema München in die Debatte geworfen wurde. Ein wirksameres Störfeuer der Gespräche als das nationalistische „Hepp-hepp-Geschrei“ hätten sich die ärgsten Feinde beider Völker nicht wünschen können. Daß bei alldem die kommunistischen Strategen trotz ihres vorläufigen offiziellen Schweigens nicht untätig bleiben, erhellt aus zwei aufsehenerregenden Fakten. Die geheime Parteitagsrede Chru-schtschews zählt unter den dem Stalinismus vorgeworfenen schweren Vergehen ausdrücklich auch die Austreibung ganzer Völker auf (allerdings an innersowjetischem Beispiel illustriert). Dennoch scheint dieser Wink mit dem Zaunpfahl auch in Prager kommunistischen Führungskreisen verstanden worden zu sein. Bei einer Konferenz, die sich mit den Auswirkungen der Entstalinisierung beschäftigte, wies der leitende KP-Funktionär N o v o t n y auch auf das Problem der Deutschenaustreibung hin. Ohne am Faktischen zunächst zu rütteln, schob er die eigentliche Schuld den „bürgerlichen“ Nationalisten der ersten Benesch-Regierung zu. Die Möglichkeit, daß die Kommunisten, nachdem sie zunächst die Wasser des Chauvinismus auf ihre eigenen Mühlen geleitet hatten, nun auf einmal mit der seit Jahr und Tag gebräuchlich gewordenen nachstalinistischen Elastizität das Steuer sacht herumwerfen und durch eigene Winkelzüge und geschicktes Ausspielen der Streitenden schließlich Sudetendeutsche und demokratische Tschechen gemeinsam ausmanöverieren könnten, verdichtete sich zur Wahrscheinlichkeit. Die Auswirkungen auf die deutsche und schließlich die europäische Politik wären in einem solchen Fall nicht abzusehen!

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