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Sudetenland — morgen

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Als im Herbst 1938 die deutschen Truppen in eine kleine mährische Stadt einrückten, sagte ein als liberal-freiheitlich bekannter Mann zu seinem, Nachbarn: „Der Rahmen ist sehr schön, aber wie wird das Bild aussehen, das in diesen Rahmen kommt!“ Ein Jahr später trafen in derselben Stadt die ersten Meldungen darüber ein, daß Söhne achtbarer Bürger auf den Schachtfeldern Polens den Tod gefunden hatten. Das Bild hatte Gestalt angenommen. Der Rausch der Begeisterung war verflogen, und man fing an, der Vergangenheit nachzutrauern. Zu spät! In den folgenden Jahren wurde das Bild immer düsterer, und im Juni 1945 sah ich den Mann, von dem einleitend die Rede war, in einem sowjetischen Gefangenenlager wieder. Ob er die Strapazen der Gefangenschaft überlebte, ist mir nicht bekannt, aber eines weiß ich: Beide durften wir nach der Entlassung den heimatlichen Boden nicht mehr betreten.

Was sich im Frühjahr und Sommer des Jahres 1945 im böhmisch-mährischen Raum vollzog, waren schwere Verbrechen gegen die Menschenrechte. Man untersuchte nicht Schuld oder LInschuld, sondern verhängte einfach über 3,5 Millionen Menschen eine Kollektivstrafe, wie sie härter kaum jemals vorher ausgefallen ist: Vertreibung aus der Heimat. Im August 1945 wurden diese Untaten in Potsdam von den östlichen und westlichen Siegern sanktioniert. Die Austreibungen waren ein Verstoß gegen das Sittengesetz und die Menschenrechte, sie waren aber auch ein Verstoß gegen jede wirtschaftliche Vernunft. Aber in Revolutionszeiten wird weder nach Menschenrechten noch nach Gründen der Vernunft gefragt, sondern in solchen Zeiten regiert die Hysterie, führt der Mob das entscheidende Wort. Damals haben die deutschen Bewohner von Böhmen und Mähren die Heimat, wenige Jahre später aber die Tschechen die Freiheit verloren. Beide Völker, die jahrhundertelang gemeinsam den böhmisch-mährischen Raum bewohnt und gestaltet haben, zahlen einen entsetzlich hohen Preis für die Unvernunft, die es auf beiden Seiten gab.

Nach dem Jahre 1918 erwies sich Eduard Benesch, der zur Zerschlagung des alten Oesterreich-Ungarn ein gerüttelt volles Maß beigetragen hatte und den böhmisch-mährischen Raum in eine zweite Schweiz umgestalten wollte, keineswegs als der überragende Staatsmann, für den man ihn im Westen gehalten hatte. Er wurde mit den MinderheitenproHemen, an denen schließlich das alte Oesterreich zerbrochen war, nicht fertig, denn kleinlicher Chauvinismus siegte allzuoft über staatspolitische Notwendigkeiten. Immer wieder wurden von deutscher Seite Versuche gemacht, zu einem tragbaren Einvernehmen zwischen Tschechen und Deutschen zu gelangen, aber immer wieder wurde die ausgestreckte Hand zurückgewiesen. Die deutschen Aktivisten gingen oft bis an die Grenze des gerade noch Tragbaren. Als Prag einlenken wollte, war es zu spät!

Aber lag die Schuld ausschließlich auf der Seite der Tschechen? Die vertriebenen Sudeten-deutschen neigen dazu, alle Schuld von sich und ihren Vorfahren abzuwälzen und den Splitter nur im Auge des anderen zu sehen. Gewiß, die Tschechen trieben mit unsauberen Mitteln eine gewaltsame Entnationalisierungspolitik, verweigerten den anderssprachigen Mitbewohnern den diesen gebührenden Anteil an der Staatsverwaltung, aber eine Hölle, wie das Josef Goebbels der Welt im Herbst 193 8 einzureden versuchte, war der böhmisch-mährische Raum auch wieder nicht. Die Tragik der Sudetendeutschen lag darin, daß sie nach 1933 in der überwiegenden Mehrheit alles Heil von Berlin und Adolf Hitler erwarteten und jeden als nationalen Hochverräter brandmarkten, der sich für einen gerechten Ausgleich zwischen Tschechen und Deutschen einsetzte. Welch bitteren Vorwürfe mußten oft.die Jungaktivisten Schütze, Hacker und Jaksch einstecken! Die Sudetendeutschen erwarteten von Adolf Hitler die Ausklammerung ihrer Heimat aus einem Staat, den sie von Anfang an nicht als ihre Sache angesehen hatten.

So kam es im September 193 8 zu der Münchner Vereinbarung zwischen Hitler und Mussolini einerseits, Chamberlain und Daladier anderseits. München war aber ebensowenig ein Sieg der Vernunft, wie es im August 1945 das Potsdamer Abkommen war. München war der Sieg der Brutalität, die Kapitulation des Westens vor der Diktatur. Sieben Jahre später war Potsdam ein Triumph der Stärkeren über ein total geschlagenes Volk. Beides hätte der Welt erspart bleiben können, wäre es nach dem ersten Weltkrieg nicht zu jenen unglückseligen Friedensverträgen in den Pariser Vororten gekommen, welche di mitteleuropäische Ordnungsmacht zerstörten und so den Keim zu neuen Auseinandersetzungen in sich trugen.

Noch während des zweiten Weltkrieges rückte der Westen von den Münchner Vereinbarungen ab und erklärte den Vertrag für nicht mehr verbindlich. Damit waren auch die daraus abgeleiteten Rechtsfolgen hinfällig geworden wie die Einverleibung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich und die Kollektiveinbürgerung der Sudetendeutschen. Daß wußte auch Eduard Benesch, erließ er doch im Frühjahr jenes unrühmliche Dekret, das den Sudeten-deutschen die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft aberkannte. Auch dieses Dekret war ein einseitiger Akt, denn Benesch setzte sich damit über die von ihm feierlich anerkannten Minderheitenschutzverträge des Völkerbundes hinweg.

Nach der beispiellosen Tragödie im böhmischmährischen Raum fand die Masse der Vertriebenen in Deutschland Aufnahme. Es zeigt von der inneren Größe eines geschlagenen Volkes, daß es dabei zu keinen nennenswerten Reibungen zwischen Einheimischen und Vertriebenen gekommen ist. Letztere waren, zunächst von einem richtigen Schrecken gepackt, mußten um die primitivsten Lebensnotwendigkeiten kämpfen und fanden keine Zeit, um ' Organisationen und Verbände zu bilden. Vielfach verhinderten auch die Alliierten das Entstehen derartiger Organisationen. Inzwischen hat sich aber der Druck der Alliierten gelockert, die Lebensverhältnisse haben sich gebessert, und es kam zur Bildung mannigfacher Verbände und Organisationen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, tragen sie alle den Stempel gewisser Ressentiments.

Manche Kreise der Vertriebenen wollen auch heute noch nicht zur Kenntnis nehmen, daß die Tschechoslowakei wieder ein Staats- und völkerrechtliches Gebilde ist und die Bonner Bundesregierung keinen Rechtsanspruch auf die ehemaligen Sudetengebiete erheben kann. Man hält an München fest und verdammt jeden, der eine andere Auffassung vertritt. Vielfach wird eine neuerliche Zerschlagung der Tschechoslowakei gefordert, ohne daß dabei bedacht würde, welch schlechter Dienst dem deutschen Volk mit derartigen Forderungen erwiesen wird. Für solche Pläne werden die Sudetendeutschen keine Bundesgenossen im Westen, geschweige denn im Osten finden. Es mag auch menschlich verständlich sein, daß Kreise der Vertriebenen noch immer von Vergeltung träumen. Man bedenkt dabei aber nicht, daß auf diese Weise die Tschechen noch enger in die Arme des Kommunismus geführt werden. Es sei einmal ganz offen ausgesprochen: Den Sudetendeutschen fehlt ein klares Konzept, das auch die andere Seite diskutieren kann. Zwar gibt es da und dort Gespräche zwischen Sudetendeutschen und im' Exil lebenden Tschechen, aber das allein ist zuwenig.

Es ist durchaus möglich, daß diese Gespräche weiter fortgeschritten wären, wenn die Tschechen ohne Bevormundung durch Moskau über das Schicksal ihres Landes frei entscheiden könnten, denn es gibt in Böhmen, Mähren und Schlesien Kräfte, welche die Vertreibung der Sudetendeutschen als Unrecht empfinden und innerlich zu einer Wiedergutmachung bereit wären. Weil aber heute niemand sagen kann, wann Moskau seine Faust von Prag zurückziehen wird, müßten sich beide Seiten ernstlich Gedanken darüber machen, wie der böhmischmährische Raum neu organisiert werden kann, wenn es auf friedlichem Wege zu einer Neuordnimg im mitteleuropäischen Raum kommen soll. Das aber ist keine Frage, die nur zwischen Tschechen und Sudetendeutschen gelöst werden kann, sondern hier handelt es sich um ein gesamteuropäisches Problem.

Mit einem Gedanken “müßten sich beide Völker — Deutsche und Tschechen — vertraut machen: ohne die Anerkennung des Rechtes auf die Heimat kann es zu keiner fruchtbaren Zusammenarbeit kommen. Kleinlicher Nationalismus und Chauvinismus müssen der Vergangenheit angehören, daher ist das Festhalten der einen an München und der anderen am Tschechoslowakismus falsch. Beide wurzeln in der Vergangenheit. Die Zukunft aber muß einer fruchtbaren und friedlichen Zusammenarbeit freier Völker gehören. Ueber Grenzen und Staatsformen kann man reden, wenn die Zeit dafür reif und die ehrliche Bereitschaft zu einer Neuordnung im mitteleuropäischen Raum vorhanden ist. Die Generation von gestern — auf beiden Seiten — wird dieses Ziel nicht erreichen, vielleicht aber kann es die Generation von morgen verwirklichen.

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